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Topcomics 2018 – Unsere Favoriten des letzten Jahres

Eine Comicgate-Tradition zum Jahresanfang ist die persönliche, subjektive Rückschau unserer Autoren auf ihre Lieblingscomics des abgelaufenen Jahres. Zum inzwischen zehnten Mal präsentieren wir unsere Highlights des Jahres – von „Eiscreme zum Lesen“ bis zum „neuen Frank Miller“: Hier sind unsere Topcomics 2018.

Unsere Topcomics der Vorjahre: 200920102011, 201220132014, 2015, 2016 und 2017.

DIE TOP 3 VON FLORIAN SCHWEBEL

Unschlagbar 1 – Gerechtigkeit und Gemüse
von Pascal Jousselin
Carlsen Comics

Die Traditionszeitschrift Spirou ist 2018 80 Jahre alt geworden und häutet sich seit dem Ende ihrer großen Zeit (ca. 1990) ununterbrochen, mit immer wieder faszinierenden Ergebnissen. Zur Zeit überlässt sie die langen und breiten Geschichten weitgehend den Konkurrenten von Superhelden, Manga und Fernsehen (mit Ausnahme vor allem von ungewöhnlich beschickerter Fantasy und ungewöhnlich grimmigen historischen Stoffen) und setzt auf inspirierten Quatsch. Die Seiten sind voll von bunten, elegant versponnenen Funnies mit dezentem satirischen Biss fürs Gute. Eiscreme zum Lesen. Zen-Koans mit Rüsseln und Flügeln und Witzen über Reihenhäuser. Ecstasy für denkende Menschen. Diese Wundertüte kann auch bei miserablen Französischkenntnissen dusselig glücklich machen. Pars pro toto an dieser Stelle eine Empfehlung für Unschlagbar, auf Deutsch seit dem Herbst bei Carlsen. Unschlagbar ist ein krakelig und modernistisch gezeichneter, klopsförmiger Superheld, dessen Spezialkraft darin besteht, neben der Spur zu sein: Er begreift seine Welt völlig zu Recht als Comic, greift über den Bildrand und die Bildzeile vor und zurück, behandelt Sprechblasen wie Gegenstände und verhindert und verursacht so Katastrophen von Superverbrecherangriffen bis zu nassen Füßen. Das ist ganz sicher beeinflusst von Scott Mc Clouds Comics richtig lesen (sowie den Raum- und Zeit-Gimmicks cleverer Computerspiele) und könnte theoretisch so selbstgefällig, zahnlos postmodern und redundant sein wie nur was. Aber Zeichner und Autor Pascal Jousselin sorgt mit flott skizzierten psychologischen Einsprengseln für Bodenhaftung und Wärme ohne Sitcom-Flauschigkeit. Unschlagbar hadert mit seinem Schüler, seiner Großmutter und seinem eigenen entrückten Phlegma. Zusammen mit Jousselins gekonnten Variationen der Grundidee (alleine die Länge der Geschichten variiert ständig) ergibt das eine federleichte Cleverness, die vielleicht und vielleicht auch nicht eine lakonische Tiefe verbirgt (lässt sich Unschlagbar als größenwahnsinniger Solipsist beschreiben? Oder als wahrer existentialistischer Held mit Entfremdung als Superkraft?). In jedem Fall macht dieser eigenwillige Mix aus Peanuts, den Unglaublichen und alten Felix-Trickfilmen für ein leichtes Herz und einen wachen Kopf, und von beidem hätte 2018 noch mehr gebrauchen können.

 

Die neuen Abenteuer von Herrn Hase 1 – Eine etwas bessere Welt
von Lewis Trondheim
Reprodukt

+++ SPOILERWARNUNG! Im (deutschen) Band 10 von Herrn Hases haarsträubende Abenteuer ist der grantelnde Protagonist vor über zehn Jahren unter ungeklärten Gründen verstorben. SPOILERENDE +++ Die einstmals heftig angesagte Serie, alternierend eine Reihe von kunstvollen Genreparodien und würdevoll überdrehten Alltagsparabeln über das richtige Leben im falschen war vorbei, ein Band „ohne Herrn Hase“ (dafür mit seinem Kumpel Richard, Katze, dem Impulsgeber ohne Impulskontrolle) funktionierte nicht so richtig, Zeichner und Autor Lewis Trondheim tobte sich in der Folge vor allem mit  komplex/chaotischen Fantasyreihen aus. Nun aber, im Katastrophenjahr 2018 +++ SPOILERWARNUNG! lebt Herr Hase, die sympathische Spaßbremse, in einem Paralleluniversum weiter (mit einem Dialog darüber beginnt der schamlos schlaue Band) SPOILERENDE +++ und tappt nach wie vor mit besten Absichten durch eine Welt, die ein bisschen besser sein könnte (und es — SPOILER? — durch einen lebendigen Herrn Hase vielleicht schon ist). Der frühere intellektuelle Lebemann Titi, Hund, ist immer noch krebskrank, aus der Maus Nadja ist eine skrupellose Sensationsreporterin geworden, und das einst charmant verrückte Paris um sie herum ist nun von Gewalt, Gereiztheit und Gefahren geprägt. +++ SPOILERWARNUNG! Herr Hase versucht, bei einem Streit unter Autofahrern zu schlichten und gerät über Umwege dadurch an eine Droge, die es ermöglicht, Auren zu sehen. Dann verzetteln und überschlagen sich wieder einmal die Ereignisse. SPOILERENDE +++ Es passt alles immer noch: der punktgenaue, etwas verrutschte Strich einer nouvelle ligne claire mit selbstbewusst alberner Schlagseite, die angerissenen großen Themen, das knapp skizzierte endlose Gelaber aller Beteiligten, der eigentümliche eingefrorene Effekt von akribischen Slapstickszenen in stummen, starren Bildern. Trondheims Strich ist immer noch zu verträumt für eine Satire, zu entlarvend für einen flotten Spaß und zu dezent und streng für graphische Kabinettstückchen — und damit genau richtig, um nahe am Leben luftig und lustig die richtigen Fragen zu stellen, auch wenn er +++ SPOILERWARNUNG! keine Antworten anbietet. SPOILERENDE +++

Schatten auf dem Grab
von Richard Corben
All Verlag

Technisch ist der Zeichner Richard Corben nun schon seit über 40 Jahren brillant und in seiner (zugegebenermaßen sehr kleinen) Nische unerreicht. Vor dem Aufkommen von Computern auf den Zeichentischen waren seine aus dem Blatt springenden, in das Blatt hineinsaugenden dunkelbunten Universen ein Rätsel, wenn nicht ein Wunder: Wie waren solche Bilder möglich (und warum sahen darin alle Kreaturen, vom Flugsaurier bis zum Raumfahrer, auf der einen Seite so hyperreal aus, auf der anderen Seite alle wie karikierte aufgeplatzte Würste)? Gemocht habe ich sein Werk zwischen Fantasy, Science Fiction und Horror allerdings nie, trotz aller Empfehlungen, Lorbeeren und der angeblich zwischen all den fettigen Barbaren klug versteckten Gesellschaftskritik. Bis zu Schatten auf dem Grab.

Schatten auf dem Grab ist ein edel aufgemachtes, kompaktes Buch mit scharfen Kanten, das die ersten acht Ausgaben von Corbens Magazin Shadows on the Grave sammelt. Jede Ausgabe besteht aus drei achtseitigen schwarzweißen Horrorcomics plus der einen oder anderen launigen Einleitung. In den Comics wollen böse, blöde Menschen Schatzkammern plündern oder alte Erbtanten töten und werden dafür grässlich bestraft (meist von uralten Geistern oder den Geistern ihrer Opfer). Wen das an die legendären EC-Comics aus den 50ern (bzw. ihre Verfilmung als Geschichten aus der Gruft) oder die beinahe legendären Warren-Comics aus den 70ern (gezeichnet u.a. ebenfalls von Corben und dem großartigen Bernie Wrightson) erinnert, der hat natürlich völlig Recht. Die neueren Entwicklungen des Horrors sind an Corben vollständig vorbeigegangen. Dafür erzählt er Standards wie kein zweiter. Durch meisterhafte Bildausschnitte, Perspektivwechsel und endlose Spiele mit Licht und Schatten, durch ineinandergreifende Bilder und plötzliche Schönheit und Schocks entsteht ein Sog, den dieses alte Garn gar nicht haben dürfte. Corbens Figuren sind noch immer wulstig und glubschäugig, doch hier müssen sie keine Helden oder Anti-Helden mehr sein und sind gefangen in einer Welt, in der jeder Baum, jedes Auto und jede Holztür von Metastasen befallen zu sein scheint und dumpf und bösartig vor sich hinbrütet. Das im Kontrast beinahe provozierend klare Layout und die wie lasiert wirkenden Dutzende von Graustufen ermöglichen ästhetischen Genuss und einen bitteren Blick auf die Geschichten, denen bei allen makabren (und fragwürdigen) Volten und allem wohligen Grauen jeder pubertäre Sadismus abgeht. Die Welt ist schlecht, aber die Gerechtigkeit siegt. Oder schneidet zumindest eindrucksvolle Grimassen. Gut für schlaflose Nächte.

DIE TOP 5 VON DANIEL WÜLLNER

Chiisakobee
von Minetaro Mochizuki
Carlsen Manga, 4 Bände

Wie vermitteln Comicautoren die Gefühle ihrer Figuren? Sie zeigen deren Handlungen, legen ihnen Worte in den Mund und offenbaren deren Gedanken. All das macht Minetaro Mochizuki in seinen Manga Chiisakobee auch – und dennoch fällt es dem Leser schwer, die beiden Protagonisten, deren Wünsche und Motivation, zu verstehen. Bei einem Brand kommen die Eltern von Shigeji ums Leben. Der junge Baumeister kehrt nach Hause zurück und übernimmt den Zimmermannsbetrieb Daitome. Verbissen versucht Shigeji das Familienunternehmen nach seinen Vorstellungen wiederaufzubauen. Warum er jegliche Hilfe ablehnt, bleibt lange unverständlich. Unterstützung im Haushalt bekommt er durch Rizu, eine Freundin aus Kindertagen. Doch auch ihr Verhalten wirkt erratisch. Vier Bände lang tauschen die beiden Blicke aus und verletzen sich gegenseitig mit Worten – ohne einander richtig zuzuhören. Chiisakobee ist eine brillant inszenierte Beziehungsstudie. Ein Comic, über all das, was nicht ausgesprochen werden kann. Der gefühlvollste Comic im Jahr 2018.

 

Man-Eaters (US)
von Chelsea Cain und Kate Niemczyk
Image Comics, bisher 4 Hefte

Heute ist sie noch deine kleine Prinzessin, doch schon morgen kann sie zum Monster mutieren. Deshalb fordert dich die Gesellschaft im Comic Man-Eaters auf, deiner Tochter Hormone zu geben. Sonst werden in dieser dystopischen Welt aus menstruierenden Mädchen männermordende Raubkatzen. Die Teenagerin Maude ist so ein Mädchen und aus ihrer Sicht beschreibt New York Times-Bestsellerautorin Chelsea Cain diese abstruse Situation, in der Mütter ihren Töchtern nicht mehr trauen – und Jungen wie kleine Prinzen verhätschelt werden. Sowohl erzählerisch wie auch visuell beweist die neue Comicserie in den ersten vier Ausgaben mehr Mut als alle restlichen amerikanischen Comics im vergangenen Jahr zusammen. Dreister als Dave Sims Fake-Fashionmagazin Glamourpuss ist Ausgabe 4 von Man-Eaters: Ohne ein einziges Comicpanel präsentiert Image Comics nur eine 24-seitige Broschüre für Jungen – inklusive Werbeseiten (Estroteen, der Energydrink für Boys) und Rätsel (Know Your Poop!). Fies und großartig zugleich.

 

Die wilde Schönheit der Auslegware
von Bernd Pfarr
Carlsen Verlag

Ich mag Sondermann. Aber schallend lachen musste ich bei den anderen Bildern und Cartoons in Die Wilde Schönheit der Auslegware. Der neue Sammelband über und mit den Kunstwerken der viel zu früh verstorbenen Bernd Pfarrs funktioniert fast so gut wie die Ausstellung auf dem Comicsalon Erlangen im vergangenen Jahr. Dort hörte man andere Menschen im Nachbarraum lachen, nur um ein paar Minuten später unweigerlich selbst ähnliche Laute von sich zu geben. Mein Favorit ist immer noch das dunkle Ölbild von Rita Deubel und ihrer Schwester. Nur aus der Bildunterschrift erfährt der geneigte Betrachter, dass die beiden Schwestern auf ihrem Weg zum Supermarkt von ihrem Kühlschrank verfolgt werden. Dieser hat angedroht, eine Szene zu machen, wenn sie wieder abgelaufene Lebensmittel kaufen. In dem Sammelband, kuratiert von Christian Gasser, kommen Freunde und Weggefährten von Bernd Pfarr zu Wort. Ich kann dem Beitrag von Ralf König nur zustimmen und fetten: “Bei allem Erfolg zu Lebzeiten halte ich Bernd Pfarrs Werk für unterschätzt. Sein Name kann unter den Vertretern deutscher Zeichenhumors gar nicht fett genug geschrieben werden.

 

Unnatural (US)
von Mirka Andolfo
Image Comics, bisher 6 Hefte, deutsche Ausgabe Contronatura – Tierisch menschlich bei Panini

Seit sechs Ausgaben gehöre ich zu „Team Leslie“. Ich gebe zu, mir gefallen die amourösen Abenteuer der anthropomorphen Schweinedame Leslie. In Unnatural beschreibt und zeichnet die Italienerin Mirka Andolfo eine Welt, in der nur Tiere der gleichen Rasse miteinander zusammensein dürfen. Alles andere wäre unnatürlich. Doch natürlich träumt Leslie von einem starken Wolf, der sie in die Arme schließt. Und natürlich sind es vor allem Andolfos Zeichnungen, die dieses orwellsche Setting mit Leben erfüllen. Der Zeichenstil von Unnatural erinnert an Disney: weiche Kurven, poppige Farben. Aber da sich der Konzern stets familienfreundlich verkauft, gibt es nun eben Andolfos Welt. Leider schwächelt die Handlung des Comics nach nur vier Ausgaben. Aus den erotischen Abenteuern von Leslie wird eine stolpernde Verfolgungsjagd von einem zum nächsten Heft. Dennoch ein mutiger Schritt zu mehr Erotik im Comic.

 

All the Answers (US)
von Michael Kupperman
Gallery 13

Würde man mich fragen, warum ich den Humor von Michael Kupperman so sehr mag, hätte ich nur eine unbefriedigende Antwort: Ich liebe einfach seinen absurden Humor in den Tales Designed to Thrizzle. Als ich hörte, dass er einen biografischen Comic über seinen Vater veröffentlicht hat, erwartete ich etwas wie seine verrückten Comics über Mark Twain. Doch All the Answers ist eine sehr ernsthafte Geschichte über seinen demenzkranken Vater. Joel Kupperman ist Philosophieprofessor und hochintelligent. Das war er auch schon als Kind und trat im Radio als Quiz-Kid auf. Teils behutsam, teils konfrontativ nähert sich Michael der Geschichte des Kinderstars, die sein Vater bewusst oder unbewusst verdrängt hat. All the Answers erzählt von einem Sohn, der herausfinden will, wie sein Vater tickt. In diesem historischen Porträt schwingt auch die Wut eines Sohnes mit, der verstehen will, warum ihm die väterliche Zuneigung verwehrt blieb.

DIE TOP 5 VON CHRISTIAN MUSCHWECK

Der freie Vogel fliegt
von Jidi und Ageng
Chinabooks

Die Coming-of-Age-Story aus China schildert eindringlich, was übertriebener Leistungsdruck mit jungen Menschen anrichten kann. Gleichzeitig korrigiert die Serie unser oft stereotypes, undifferenziertes Bild von China. Die zarte Grafik von Ageng ist bezaubernd schön und die Erzählung von Jidi sehr eindringlich. Der freie Vogel fliegt ist die bisher schönste Comic-Veröffentlichung des Chinabooks-Verlags und eine echte Entdeckung. [Zu Christians Rezension]

 

Maertens
von Maximilian Hillerzeder
Jaja Verlag

Maximilian Hillerzeders erste abgeschlossene Comicerzählung ist grafisch herrlich verspielt und witzig, vergisst dabei aber nicht, eine Kriminalgeschichte zu erzählen, an der auch Jakob Arjouni (Happy Birthday Türke, Kismet) seine helle Freude gehabt hätte. Grafisch liegt das irgendwo zwischen Lewis Trondheim und Matt Groening, aber mit eigener, unverwechselbarer Note. [Zu Christians Rezension]

 

Sláine – Der König
von Pat Mills, Glenn Fabry, Mike Collins, Mark Farmer
Dantes Verlag

Aus der Comicgate-Rezension vom Dezember: „Mills gelingt es im fünften Band, den großen erzählerischen Bogen zu schließen und die Fäden der Handlung so zu legen, dass sich etwas Großes, Episches daraus ergibt.“ Pat Mills‘ Skript ist sehr hintergründig und immer mit dem Schalk im Nacken, gleichzeitig liefert Glenn Fabry im vorliegenden fünften Buch der Reihe eine der besten Arbeiten seiner Karriere ab. Die Übersetzung ist gelungen, das Lettering fast schöner als in der britischen Originalversion, die Druckqualität stets hervorragend und die zügige Veröffentlichung vorbildlich. Man kann Josua Dantes sehr dankbar sein, dass er diesen Schatz nach Deutschland gebracht hat.“

 

Conan, der Cimmerier – Die Königin der Schwarzen Küste
von Jean-David Morvan und Pierre Alary
Splitter Verlag

Jean-David Morvan und Pierre Alary ist mit der Neuinterpretation von Queen of the Black Coast die bisher beste Version der Liebesgeschichte zwischen Conan und der Piratin Bêlit gelungen. In keiner der früheren Versionen gelang es so gut, die knackige Prosa Robert E. Howards auf ihre Essenz einzudampfen, erst Moran und Alary haben die richtigen Bilder, das richtige Timing und die richtigen Worte gefunden. Präzise bis ins Detail und an der entscheidenden Stelle ein kleiner Ausspruch, der die Story auch gegenüber dem Originaltext noch verbessert. Chapeau vor dieser Leistung. (Eine ausführliche Rezension der neuen europäischen Conan-Comics folgt in Kürze.)

 

 Spirou in Berlin
Flix
Carlsen Verlag

Jetzt ist es soweit. Flix ist der neue Frank Miller. Klar, Frank Miller ist heutzutage nicht unbedingt die beste Referenz, aber das war schon mal anders. Damals in den 1980ern war es jedes Mal ein echtes Event, wenn sich Miller einer Serie annahm oder auch nach Jahren Pause noch einmal zu einer Serie zurückkehrte, weil er diesen speziellen Touch hatte. Die Gabe, mit minimalen Mitteln einen maximalen erzählerischen Effekt zu erzielen – eben exakt wie das, was Flix hier für Spirou zaubert: Sauberes Timing und sympathischer Humor, eine durchdachte Farbdramaturgie, Hell-Dunkel-Effekte, die sich auf die Seitengestaltung ebenso auswirken wie auf den Erzählrhythmus, verspielter Umgang mit den Panelrändern und dezente Unwahrscheinlichkeiten, weil der Knalleffekt allemal wichtiger ist als die Logik. Kurz und gut: Flix ist der neue Superstar. Momentan gelingt dem Mann einfach alles.

DIE TOP 3 VON GERRIT LUNGERSHAUSEN

Platz 1: Sabrina (US)
von Nick Drnaso
Drawn & Quarterly

Während Netflix & Co. von True-Crime-Stories geflutet werden, hat Nick Drnaso mit Sabrina eine völlig fiktive, fesselnde, beeindruckende Kriminalgeschichte geschrieben, deren Nominierung für den Man Booker Prize einige Aufmerksamkeit gebracht hat. Zu Recht. Verschwörungsglauben und Detektion gehen Hand in Hand, und wir sind mal Zuschauer, mal Voyeur, mal Kollaborateur des Verbrechens, das vor allem darin besteht, aus einem Mordfall (an Sabrina) ein makabres Medienereignis zu machen. Ich habe mich während meiner Lektüre über die Verschwörungsfanatiker und Zeichendeuter amüsiert, die den Soldaten Calvin Wrobel als Täter verdächtigen, aber zugleich habe auch ich nach Zeichen gesucht und bin in der Falle aller Konspirationsapologeten gelandet, das zu finden, was ich gesucht habe. Die Jury des Man Booker Prize hat sich letztlich nicht für Drnasos Sabrina entschieden (es wäre der erste Comic überhaupt gewesen!), aber in meiner persönlichen Lektüreliste gab es 2018 keine interessantere Publikation als diese. [Zu Gerrits Rezension auf comic.de]

 

Platz 2: Lichtung
von Antonia Kühn
Reprodukt

Die Geschichte, die Antonia Kühn in Lichtung erzählt, ist ebenso schnell erzählt wie komplex geschrieben: Der Leser beobachtet die (prä-)pubertierenden Geschwister Laura und Paul, die zusammen mit ihrem alleinerziehenden Vater Karl in einer Großstadtwohnung leben. Während der Vater sich den Herausforderungen quälender Erziehungsfragen stellt – darf meine Tochter nachts in Gartenlauben einbrechen? Wie helfe ich meinem Sohn, den Tod seiner Mutter zu verkraften? –, stellt er im Schichtdienst das leibliche Wohl des Nachwuchses sicher. Aber der Tod der Mutter lässt sich nicht einfach abschütteln. Kühn setzt das lückenhafte Gedächtnis Pauls elegant in Szene, indem sie wiederholt die Panels anordnet wie die verwaisten Teile eines hoffnungslos verunvollständigten Puzzles. Verdrängung und Vergessen ziehen als weißer Raum durch die paneldurchstreuten Seiten von Antonia Kühns beeindruckendem Comicdebüt. Lichtung ist eine Geschichte, die mit größtmöglicher Gelassenheit erzählt wird: Es gilt keinen Skandal zu entdecken, kein Verbrechen aufzuklären, keine Schuld zu verteilen. Die Erzählweise stellt die Ereignisse in den Schatten, und das Erinnern in den Fokus – es ist ein zäher Kampf, sich eine Schneise durch das Dickicht des Vergessens zu schlagen. Lichtung ist eine Beschreibung dieses Kampfes, die man wieder und wieder lesen kann, und die einem dennoch noch nicht alles verraten will. [Zur Comicgate-Rezension von Florian Schwebel]

 

Platz 3: Raffington Event
von Andreas
Schreiber & Leser

„Raffington Event“ ist der Name des titelgebenden Detektivs, der in dieser Neu-Auflage von 1989 in zehn sehr individuellen Kurzkrimis ermittelt. Wie schon in Rork und Capricorn stellt Andreas hier mehr Fragen an den Leser als er ihm Antworten bietet. Die Geschichten in Raffington Event sind stilistisch höchst unterschiedlich: Arbeitet Andreas in dem stummen Comic „Jim“ noch mit groben Rasterpunkten zur Graustufenskalierung, sind die anderen Geschichten koloriert. In „Warum hier? Warum ich?“ sehen wir 59 Panels, die allesamt nur das sich im Gespräch wandelnde Gesicht des Titelhelden zeigen. Die Handlung erschließt der Leser sich somit nur aus der Mimik und den Textboxen. Andreas hat in Cromwell Stone, Rork und Capricorn, die von Schreiber & Leser zuletzt neu aufgelegt worden sind, spektakulär mit der Seitenarchitektur experimentiert. Die Kurzdistanz, wie er sie in den Horror-Kriminalgeschichten von Raffington Event versucht, kommt ihm fast noch mehr entgegen, weil er seine Vielseitigkeit noch konsequenter umsetzen kann. Die Geschichten sind zeichnerisch hinreißend und erzählerisch fesselnd – die Lektüre der Comics von Andreas ist ein besonderes Moment in der Lektürebiografie eines Comiclesers, auf jeden Fall in meiner persönlichen. [Zu Gerrits Rezension]

4 COMICS FÜR ALLE JAHRESZEITEN VON JAN NIKLAS-BERSENKOWITSCH

Der leichtherzige Frühling:
Olympians: Hermes – Tales of the Trickster
(US)
von George O’Connor
First Second

Die Serie Olympians gehört seit bald acht Jahren zu meinen absoluten Lieblingscomics. Alles was George O’Connor mit seiner Nacherzählung der griechischen Mythen zeichnet, ist gut. Aber ab und an kommt das eine Album, das richtig gut ist. Hermes – Tales of the Trickster ist richtig gut.

Das liegt vor allem an der Hauptfigur. Natürlich ist der Sendbote der Götter ein Betrüger, Dieb und Luftikus, aber ich kann keine Bösartigkeit in seinem Handeln erkennen, selbst wenn er mal grob wird. Hermes möchte frei sein, aber er erwirbt diese Freiheit nicht auf Kosten anderer, sondern mithilfe seines wachen Verstandes. Außerdem ist er ein Familienmensch, der trotz aller Probleme seiner streitlustigen Sippschaft unter die Arme greift und auch seine sonderbaren Kinder liebt. Mit mehr Göttern wie ihm wäre die Welt vielleicht ein besserer Ort. Nur die Klauerei müsste er lassen … wobei, das ist nicht halb so schlimm ist wie seine Rolle als Schutzpatron der Politiker.

 

Der nachdenkliche und nie endende Sommer:
Koshchei the Deathless
(US)
von Mike Mignola und Ben Stenbeck
Dark Horse Comics

Das Hellboy-Universum nähert sich seinem Ende. Nächstes Jahre wird die Behörde zur Abwehr paranormaler Erscheinungen (B.U.A.P.) versuchen, Ragnaröck zu überleben und ich denke, dass auch Hellboy seine letzte Reise antreten wird. Bis dahin gibt Mike Mignola noch einmal alles und liefert mal wieder eine seiner besten Geschichten überhaupt ab.

Koshchei the Deathless sticht schon alleine deswegen heraus, weil hier gleich alle Tropen eines Helden aus dem „Hellboyverse“ dekonstruiert werden: Für eine gute Tat hat der Unsterbliche bereits hundert schlimmere Taten begangen und die Hälfte davon nicht einmal aus freiem Willen. Seine Seele befindet sich nicht in ihm, bedeutet das dann dass er nicht einmal für seine Untaten bestraft werden kann? Kann jemand wirklich ein guter Mensch sein, dessen einziges Talent das Töten ist? Koshchei findet keine Antworten auf diese Fragen und auch Mignola lässt es offen. Seine Hauptfigur ist ein komplizierter Krieger und Magier, der für jeden Schritt nach vorne, drei nach hinten macht und doch wird er die Suche nach seiner Erlösung nie aufgeben. Was bleibt ihm auch anderes übrig, wenn nicht einmal die Stille des Grabes auf ihn wartet? Bis er sein Ziel erreicht, bewundere ich die wunderschönen Monster und Actionszenen, die Ben Stenbeck mit seinen Zeichnungen zu Papier bringt und mal wieder beweist, dass er mit Guy Davis und Mike Mignola DER Zeichner ist wenn man gruselige Monster sehen möchte. Gerade seine Drachen sind besonders elegant geraten, selbst wenn sie ihre Beute entzwei reißen.

Mein liebster Comic des Jahres. Ich hoffe immer noch, dass Dark Horse Comics eine Deluxe-Ausgabe im Hardcover rausbringt, das Softcover ist mir mal wieder zu lasch gebunden.

 

Der düstere Herbst:
Mister Miracle (US)
von Tom King und Mitch Gerads
DC Comics, 12 Hefte, Sammelband erscheint 2019

Ich lese und sammle bewusst Comics und in all den Jahren habe ich noch nie eine Serie von DC und Marvel zum Zeitpunkt ihres Erscheinens gelesen. Okay, auch bei Kings und Gerads‘ Mister Miracle stieg ich erst mit dem siebten Heft ein, aber das zählt, finde ich. Ich habe eine Schwäche für die New Gods und bekommen habe ich eine Dekonstruktion der Ideen und Konzepte dieser Serie, die auch im Hirn eines Alan Moore zu seinen besten Zeiten entstanden sein könnte.

Wo aber Moore seine Figuren gerne für ihren Neurosen und Perversionen verurteilt, betrachtet Tom King seine Hauptfigur, den nach einem Selbstmordversuch ziemlich angeknacksten Mister Miracle, mit mehr Sympathie und gesteht ihm die Komplexität seiner Probleme zu. Denn wie kann jemand ein idyllisches Leben führen, der auf einer Hölle wie Akropolis aufgewachsen ist, wo die Schmerzensschreie der Gefolterten alle Kinder beim Einschlafen begleiten? Kann jemand wirklich seiner schlimmen Vergangenheit entkommen oder ist diese Idee auch nur Teil eines utopischen Traums vom besseren Leben? King erzählt seine Geschichte fragmentarisch, die Charaktere stehen im Vordergrund und nicht die Handlung. Einiges erscheint willkürlich, aber das ist wohl auch der gewünschte Effekt, wenn man die Hintergründe der Geschichte zu hinterfragen beginnt. Allerdings sollte man dafür Geduld mitbringen. Wer epische Schlachten zwischen Helden und Schurken erwartet, wird enttäuscht.

Mister Miracle ist ein Comic, der mich stark zum Nachdenken brachte, vor allem da die darin angesprochenen Themen mir doch sehr ans Herz gehen, aber ich weiß nicht, ob ich beim erneuten Lesen genauso stark empfinden werde wie beim ersten Mal. Denn bei aller Spielerei merkt man schon, dass es ein Mainstream-Comic ist, vor allem wenn die Gewalt schon einen fast voyeuristischen Effekt hat. Doch bis es soweit ist, werde ich ihn zumindest als interessante Charakterstudie in einem meiner liebsten Comic-Universen in Erinnerung behalten. Na ja, deswegen und wegen des Galgenhumors, den Tom King hier und da immer wieder durchblicken lässt. Das Buch kann komisch sein, wenn es will. Man muss sich nur darauf einlassen können.

 

Ein hoffnungsvoller Winter:
Jackie Kottwitz
von Alain Dodier
Finix Comics

Vielleicht schummele ich mit dieser Wahl ein bisschen. Schließlich wird die Gesamtausgabe des französischen Detektivs Jackie Kottwitz seit 2013 auf Deutsch bei Finix Comics veröffentlicht, aber da 2018 der achte Band herauskam, zählt das noch, ha!

Wenn ich darüber nachdenke, was mir an dieser Serie am besten gefällt, dann wohl, dass Autor und Zeichner Alain Dodier (der es übrigens schafft, realistisch zu zeichnen, ohne dass die Panel wie starre Aktfotografien aussehen) ab dem vierten Album die Abenteuer seines Detektivs in eine Serie über das Gute im Menschen verwandelt. Die Kriminalfälle sind mal verzwickt, mal einfach, aber immer stehen die Menschen und ihre Beziehungen im Fokus. Selten ist jemand nur böse, die meisten haben ihre Gründe für das was sie tun, selbst der brutalste Schurke hat jemanden, um den er sich sorgt, und sei es nur seine geliebte Hausspinne. Diese Vermenschlichung gibt der Serie nicht nur Tiefe, sondern sorgt auch dafür, dass man gerne nach Paris zurückkehrt, um Jackie bei seinem nächsten Fall zu begleiten. Unser Meisterdetektiv macht auch eine kleine Wandlung durch: War er zu Beginn noch ein großer Junge, der mehr von seinen Neurosen als von seinem Verstand geleitet wurde, entwickelt er sich mit der Zeit zu einem kompetenten Ermittler, der immer noch sehr egoistisch sein kann, aber trotzdem das Herz am rechten Fleck hat und auf seine Art versucht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und das, obwohl er immer noch die Miete bezahlen muss. Nur seine ewige Verlobte Babette sollte er endlich mal heiraten. Komm schon, Jackie, so einer Frau begegnet man höchstens einmal im Leben!

Man merkt, ich bin einfach hingerissen von dieser Perle des frankobelgischen Comics, deren Figuren mir alle ans Herz wuchsen und von der ich hoffe, dass Dodier uns noch mit vielen Alben beschenken wird, ehe er in den Ruhestand geht. Zumindest bis Band 30 wäre schön. Und dann mit einem großen Finale. Und einer Hochzeit. Mit Babette.

DIE TOP 5 VON THOMAS KÖGEL

Upgrade Soul (US)
von Ezra Claytan Daniels
Lion Forge

Hank und Molly sind ein Ehepaar im Rentenalter, das sich zum 45. Hochzeitstag etwas ganz Besonderes schenkt: Sie stellen sich als Versuchspersonen für eine neuartige gentechnische Prozedur zur Verfügung, das ihre Körper und ihren Geist jünger, frischer und leistungsfähiger machen soll. Das Experiment geht jedoch schief und die beiden finden sich in unförmigen Körpern wieder, die aussehen wie zu groß geratene Föten. Und das ist bei weitem noch nicht die letzte Überraschung, die Ezra Claytan Daniels für seine Protagonisten und für die Leser in Petto hat. Upgrade Soul ist vordergründig eine düstere Science-Fiction-Story über wissenschaftliche Hybris, die einige klassische Genrezutaten enthält, aber Daniels packt noch viel mehr in seinen 270-Seiten-Comic, der ursprünglich als App und erst später als gedrucktes Buch erschien: Der Autor und Zeichner legt großen Wert auf seine Figuren, auf ihre Motivationen und Charaktereigenschaften und verwendet viel Erzählzeit darauf, sowohl Haupt- als auch Nebenfiguren auszuformulieren, so dass die Story auch emotional zu berühren versteht. Extrem gelungen ist auch die nicht-lineare Dramaturgie der Geschichte, die viel mit Rückblenden und Zeitsprüngen arbeitet. Und nebenbei weiß Daniels auch noch überzeugend zu erzählen, wie es sich anfühlt, einer marginalisierten Minderheit anzugehören (Hank und Molly sind Afro- bzw. Latino-Amerikaner). So handelt Upgrade Soul, wie jede gute Science Fiction, mehr von der Gegenwart als von der Zukunft. Große Leseempfehlung!

 

Berlin – Flirrende Stadt
von Jason Lutes
Carlsen Verlag

Die Wartezeit vom ersten zum zweiten Band dieser Trilogie betrug für deutsche Leser fünf Jahre, bis zum abschließenden dritten dauerte es dann nochmal weitere zehn Jahre. Nun liegt er also endlich komplett vor, der historische Comicroman über das Berlin der Weimarer Republik, der im Jahr 1928 einsetzt und mit Hitlers Machtübernahme Anfang 1933 endet. Die lange Entstehungszeit (Jason Lutes veröffentlichte sein erstes Kapitel im Original 1996) merkt man dem Werk nicht an, am Stück gelesen wirkt der Comic wie aus einem Guss. Der Abschluss kommt nun zu einer Zeit auf den Markt, in der nicht nur das historische Setting medial populärer denn je ist (siehe u.a. Babylon Berlin), sondern auch politisch immer wieder Vergleiche gezogen werden zwischen der heutigen Situation und dem von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Rechts und Links geprägten Klima jener Jahre, von denen hier erzählt wird. Lutes tut das, indem er glaubwürdige fiktive Figuren aus unterschiedlichen Milieus schafft, die er mit verbürgten historischen Ereignissen und Personen verknüpft. Deren einzelne Handlungsfäden bringt er im Finale zu befriedigenden Abschlüssen – dass die Handlungsstränge nicht glücklich und fröhlich enden können, war ja von vornherein klar. In seiner Gesamtheit ist Berlin ein exzeptioneller Comic – er funktioniert als Coming-of-Age-Geschichte, als Sittenbild, als historisches Panorama, und er ist lehrreich, ohne didaktisch zu sein. In wenigen Wochen erscheint Berlin dann nochmal in einer angemessenen Gesamtausgabe.

 

Young Frances (US)
von Hartley Lin
AdHouse Books

Für seine One-Man-Anthologie Pope Hats (begonnen im Jahr 2009) wurde der Kanadier Ethan Rilly viel gelobt, die Einzelhefte sind jedoch nicht ganz leicht aufzutreiben. Jetzt gibt es zum Glück die lange Storyline um Young Frances als Hardcoverband, für den der Autor und Zeichner seinen Anagramm-Künstlernamen aufgegeben hat und unter seinem Geburtsnamen Hartley Lin firmiert. Der Comic erzählt von einer jungen Frau, die als Assistentin in einer Großkanzlei arbeitet und dort nicht nur als einziger halbwegs normaler Mensch unter lauter Neurotikern auffällt, sondern auch Karriere macht, ohne es besonders darauf anzulegen. Das heißt aber nicht, dass sie mit ihrem von Überstunden und Schlaflosigkeit geprägten Leben hochzufrieden wäre. Frances‘ Gegenpart und beste Freundin ist die Schauspielerin Vicky, die unerwartet zu einer TV-Berühmtheit avanciert und nach L.A. umzieht, was ihrer Freundschaft nicht so gut tut. Hartley Lin ist ein handwerklich herausragender Erzähler und Comiczeichner, bei dem jede Seite und jedes Panel sorgfältig komponiert ist. Er beherrscht wortreiche Dialogszenen ebenso wie ruhige  Momente. Sein eleganter, an die Ligne Claire angelehnter Strich trägt eine sehr dichte, vielschichtige Story, die viel über das Leben im hochgetunten Spätkapitalismus erzählt, über den Alltag junger Großstädter, über Freundschaften und über die Schwierigkeit, allen möglichen Ansprüchen zu genügen, ohne dabei sich selbst aus den Augen zu verlieren.

 

Lincoln 1 – Auf Teufel komm raus
von Olivier und Jérôme Jouvray
Schreiber & Leser

Ein äußerst unterhaltsamer Lesespaß ist der schräge Western Lincoln von den Gebrüdern Jouvray, von dem es in Frankreich bereits neun Bände gibt und der erst mit größerer Verspätung zu uns kommt. Die Titelfigur ist ein Stinkstiefel und Tunichtgut par excellence; als misanthroper Einzelkämpfer flucht und gaunert er sich durch den wilden Westen, bis er auf einen freundlichen Herrn trifft, der sich als Gott entpuppt. Der will ihm den Weg zur Besserung weisen und schenkt ihm dafür erst mal die Unsterblichkeit sowie ein großes Bündel Dollars als Startkapital. Eine Art umgekehrter Doktor-Faust-Deal also, denn Lincoln hat weder um diese besondere Gabe gebeten, noch ist er gewillt, sich zum moralisch Besseren zu bekehren. Der liebe Gott (er ist wirklich ein lieber Kerl, die nach Aike Arndts Gott wohl sympathischste Gottesdarstellung im Comic) weicht Lincoln aber nicht von der Seite, begleitet ihn bei erfolgreichen Banküberfällen und erfolglosen Hinrichtungen und schubst ihn schließlich mit Mühe doch noch in die Richtung guter Taten. Zum Ende des ersten Bandes scheint Lincoln die Kurve vom Kotzbrocken zum halbwegs erträglichen Antihelden zu kriegen, aber da wird noch einiges kommen. Denn auf einer Seite im ersten Band schaut auch ein Bekannter von Gott vorbei, der zwei Hörnchen am Kopf trägt und sicher noch eine Rolle spielen wird. Ein höchst vergnügliches Spiel mit Westernklischees, trockenen Dialogen und einer Prise Philosophie, ich freue mich schon auf Band 2.

 

Berenice
von Lukas Jüliger, nach Edgar Allan Poe
Carlsen Verlag

Für die Anthologie-Reihe Die Unheimlichen, in der bekannte deutschsprachige ComicmacherInnen unterschiedlichste Stoffe der Schauerliteratur adaptieren, hat sich Lukas Jüliger (Vakuum) für eine Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe entschieden. Er nimmt die Vorlage lediglich als Inspiration und entwickelt eine ganz eigene Geschichte, die an das Original nur lose angelehnt ist. Der Ich-Erzähler wird bei Jüliger zum Otaku, zu einem zurückgezogen lebenden japanischen Supernerd, dessen Objekt der Obsession ein Camgirl ist, welches er aus der Ferne beobachtet. Diese Version von Berenice ist also eine höchst gegenwärtige, voll mit heutiger Technik und Artefakten moderner Pop- und Nerdkultur. Mag sein, dass die Klischees, die wir über spezielle japanische Formen der Fankultur und ihre Fetische haben, hier etwas zu ausgiebig bedient werden, aber das Ergebnis überzeugt. Berenice liest sich von der ersten bis zur letzten Seite so unbehaglich und verstörend, wie es sich für einen Comic, der gruselig sein will, gehört. Das liegt nicht zuletzt an Jüligers erstklassigen, feinschraffierten und streng komponierten Zeichnungen, in denen mit Ausnahme der ersten Seite niemals ein menschliches Gesicht zu sehen ist. Im Zusammenspiel mit der schmutzig-grünen Farbgebung entsteht hier eine herrlich unangenehme Horror-Atmosphäre, die dieses Büchlein zum Glanzstück in einer bislang eher durchwachsenen Reihe machen.

DIE TOP 3 TWITTER-COMICS VON STEFAN SVIK

Meine drei liebsten Comics des Jahres 2018 habe ich bereits in Alfonz – Der Comicreporter aufgelistet, daher möchte ich für Comicgate eine andere Auswahl treffen. Inspiriert wurde sie vom Schreib- und Zeichenseminar der Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wolfenbüttel von Flix und Dr. Olaf Kutzmutz. Ein wichtiges Thema dort war es, die Hemmung abzulegen, nicht zu zeichnen, weil man es nicht auf dem Niveau eines Jack Kirby oder eines Jim Lee beherrscht.
Ich möchte kurz meine drei liebsten Twitter-Konten zum Thema Comics vorstellen und meine damit keine Nachrichtenseiten, sondern Accounts, auf denen Künstler ihre Comics und Cartoons präsentieren. Einer der Twitter-Auftritte beweist, das es auch mit ganz simplen Strich gelingen kann, ein beeindruckendes Ergebnis zu erhalten, ein Account stammt von einem Teilnehmer des Flix-Seminars, und den Anfang macht ein sehr bekanntes Duo.

Nummer 1: Hauck & Bauer
@hauckundbauer

Neben Katz & Goldt sind Hauck & Bauer eines der großartigsten Zeichner-Autor-Duos, das es im deutschsprachigen Raum gibt. Nahezu jeder Strip ein Treffer, zum herzlich laut lachen. Elias Hauck und Dominik Bauer veröffentlichen Ihre Werke regelmäßig in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, dem Satiremagazin Titanic und auf den Satireseiten SPAM von Spiegel Online. 2018 erhielten sie eine weitere Auszeichnungen, nämlich den Deutschen Karikaturenpreis „Geflügelter Bleistift“ für eine besondere Leistung. Nicht alles ist politisch und schwer, so gab es dieses Jahr auf Twitter auch einen wunderbaren Strip über verwöhnte Kinder, bei denen Papa die Hausaufgaben macht, die Mutter dann aber zu faul oder doof war, um dem Bengel die fertige Arbeit in den Ranzen zu packen. Oder ein verschwitztes Ehepaar, das so sehr geschwitzt hat diesen Sommer, und dann wurde der Hitzerekord doch nicht gebrochen. Zeichnerisch erinnern die Comics an Walter Moers und Ralf König, vermeintlich simpel gestaltet, aber allein schon die Mimik der Figuren sorgt für Lachanfälle beim vermutlich eher anspruchsvolleren Publikum. In einem Meer voll von Ikea- und Bahnverspätungs-Cartoons stechen Hauck & Bauer so sehr hervor wie es ein Loriot stets tat. Ganz, ganz großartig!

 

Nummer 2: Krieg und Freitag
@kriegundfreitag

Dass es reicht, buchstäblich nur Strichmännchen zu zeichnen, beweist dieser Account. Auf den ersten Blick völlig dilettantisch, entfalten diese oft klugen und pointierten Werke eine beeindruckende Wirkung.

 

Nummer 3: Popmechanic
@popmechanic

Eine der Übungen im Flix-Seminar war es, einen Comic zum Thema „Wandlung“ zu zeichnen und zu schreiben. Dabei entstandenen mehrere beeindruckende Arbeiten; am besten gefiel mir der Strip von Olaf Helbing, einem der Teilnehmer, die schon mehrfach an dem Kurs teilgenommen hatten. Er wurde 1975 in Kassel geboren, lebt inzwischen in Berlin und arbeitet dort als freischaffender Künstler. Ich habe ihn kurz zu seinen Arbeiten interviewt.

Gibt es von Dir Veröffentlichungen in Buch- oder Zeitschriftenform?

Von mir gibt es keine Druckerzeugnisse oder Veröffentlichungen. In den 90ern habe ich mal Zeichnungen für das Monatsheft des Mineralölwirtschaftsverband (ich glaube so hieß das) gemacht. Letztens wurde mal eine Zeichnung in einer Publikation der Bundesakademie abgedruckt. Reproduktionen mache ich eigentlich nur auf Anfrage.

Hast Du schon mal als Profi-Zeichner gearbeitet bzw. möchtest Du das
werden?

Kleinere Auftragsarbeiten, siehe Frage 1, machen mich sicherlich nicht zum Profi. Da ich auch in anderen künstlerischen Ausdrucksformen mein Geld verdienen kann, würde ich das Zeichnen nur als schönen Nebenerwerb betreiben wollen.

Welche andere künstlerischen Ausdrucksformen sind das?

Ich arbeite in Berlin als freischaffender Künstler, meistens fürs Theater, als Darsteller, Sprecher oder Musiker. Nebenher arbeite ich allerdings auch in regelmäßigen Abständen als Barchef in einem Kreuzberger Restaurant.

Seit wann zeichnest und schreibst Du und wie hast Du es gelernt?

Ich habe mit meinem Großvater, seinerzeit Druck- bzw. Schriftsetzer, schon gezeichnet, bevor ich sprechen konnte. Wir haben ohnehin nicht viel geredet, eher gezeichnet. Er hat mir Beobachten, Aneignen und Kopieren beigebracht. Die restliche Zeit blieb man Autodidakt.
Nach der Schulzeit habe ich noch Kurse in der Abendakademie der HGB Leipzig besucht. In Typographie, Naturstudien und Illustration.  Zur Motivation besuche ich regelmäßig die Schreib-/Zeichen-Seminare von Kutzmutz/Flix in der Bundesakademie.

Hast Du einen Tipp für angehende Comic- und Cartoonmacher?

Keine Scheu haben. Im Ausprobieren von Techniken und Sujets ebenso, wie beim Nachfragen beim Fachmann. Dann merkt man auch, mit welchen Materialien man am besten klarkommt und mit welchen weniger. Während des Entstehungsprozesses lohnt es sich, die Entwürfe einer Person seines Vertrauens zu zeigen. Das sind hilfreiche Kritiken zur Verständlichkeit deines Bildes oder der Geschichte.

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