500 Seiten über das „Dritte Reich“: Da hätte man von Tobi Dahmen auch rebellische Swing Kids erwarten können. Aber die Briefe, die Tobi Dahmen im Nachlass seines Vaters gefunden hat, haben einen anderen Weg vorgezeichnet.
Tobi Dahmens Columbusstraße handelt von braven Leuten, die ihre Pflicht tun und bis zuletzt nicht so richtig verstehen, wer hier für den Zivilisationsbruch verantwortlich ist. Oder genauer: Columbusstraße handelt von Tobi Dahmens Vorfahren – den Dahmens – sowie den Vorfahren seiner Ehefrau, den Funckes. Karl Dahmen, ein Rechtsanwalt, ist jedenfalls ziemlich lange noch davon überzeugt, dass die Gesellschaft auch nach der Machtübernahme im Großen und Ganzen nach den Glaubensgrundsätzen der Rechtsstaatlichkeit funktioniert, auch wenn der Wind rauer geworden ist und er der NSDAP beitreten muss, um seinen Beruf ohne Nachteile weiter ausüben zu können. Ein jüdischer Bekannter namens Herrmann dagegen erlebt zunehmend Schikanen und bittet Herrn Dahmen, ihm sein Haus abzukaufen. Er würde es später, wenn sich alles beruhigt hat, wieder zurückkaufen, was bei Karl Dahmen nur für Kopfschütteln sorgt:
„Aber wo wollen Sie denn hin? Sie können doch nicht alles aufgeben? Sie können doch nicht Ihr Heim und Ihre Heimat verlassen. Möchten Sie sich ins Unglück stürzen?“
Wir befinden uns ganz offensichtlich bereits in der Zeit, als Juden keine Chance mehr hatten, ihren Besitzstand zu sichern, weil die NSDAP damit anfing, sie schamlos auszurauben, eine Entwicklung, die man als Bürger erst nicht glauben wollte und später verschämt verdrängte. Die Beschlüsse der Wannsee-Konferenz waren da noch lange nicht gefallen, die Weichen aber bereits gestellt, so dass eins zum anderen führen konnte. Tobi Dahmen gelingt hier die erste von vielen eindrücklichen Bildfolgen, wenn Karl Dahmen sich nach dem Gespräch mit Herrn Herrmann noch einmal umdreht, aber Herr Herrmann ist nicht mehr da. Wie aus dem Straßenbild herausradiert.
Tobi Dahmens Zeichenstil ist ganz grundsätzlich erst mal freundlich, wenig Ecken und Kanten, was die ersten 100 Seiten oder so auch eher zu einer unaufgeregten Angelegenheit macht. Dialogszenen mit einfach gehaltenen Klare-Linie-Figuren müssen schon sehr spritzig sein, um zu fesseln, in Columbusstraße wird aber meist gewöhnliches Zeug gesprochen. Es muss also erst das Normale in die Schieflage geraten, bevor Spannung aufkommen wird. Vor allem fordert uns die Gewöhnlichkeit der Figuren, unser eigenes Wissen mit einzubringen, denn Tobi Dahmen nimmt uns nicht ständig an die Hand und erzählt uns, wer hier gerade „Gutes“ oder „Böses“ tut.
Als Karls Sohn Eduard 1941 in die Wehrmacht eingezogen wird, blickt der kleine Eduard voll Hoffnung in die Zukunft, da offensichtlich nichts darauf hindeutet, wie das alles enden wird: Die Russen mögen Barbaren sein, aber die Deutschen haben die Kultur, was soll da schon schiefgehen? Lediglich von Vater Karl, einem Verteranen des großen Kriegs, bekommen wir eine – damals sicher zeitgemäße – Einordnung, dass Krieg nichts Gutes bedeuten kann. Die Dimensionen der Shoah und des Vernichtungskriegs hat er dabei aber nicht im Blick.
Zu dem Zeitpunkt, als Karl Dahmen sich an den Krieg von damals erinnert, löst sich Tobi Dahmen von der strengen Paneleinteilung – Erinnerung fließt. Das ist eine wirkungsvolle, wenngleich konventionelle Entscheidung, aber noch nicht der Grund, weshalb mich Tobi Dahmens Bilder weit mehr begeistern, als ich anfangs erwartet hatte. Es gesellen sich einige weitere visuelle Entscheidungen dazu, die an sich wenig mit dem Plot zu tun haben, aber enorm zur Atmosphäre beitragen.
So sehen wir immer wieder scheinbar unbekümmerte Naturdarstellungen. Spätestens seit Terrence Malicks Film The thin red line ist das eigentlich ein abgegriffener Kunstgriff, dennoch von Tobi Dahmen wirksam eingesetzt, um die Indifferenz der Natur gegenüber dem menschgemachten Wahnsinn zu illustrieren, zudem bietet die Natur Halt, wo die menschliche Mitwelt versagt, Orientierung zu geben. Auf der anderen Seite stehen streng angeordnete Panels, die akribisch Details aufzählen und illustrieren, mit welcher Systematik man ins Elend ging: 136 Großverbände, 17 Panzereinheiten, 1 Kavallerie, 5 SS-Divisionen, 9 Sicherungsdivisionen, 3580 Panzer, fast 400 Flugzeuge, 720 Jäger, 1180 Bomber, 12 Aufklärer, 3,05 Millionen Soldaten.
Grafisch aufregend werden die streng angeordneten Panelsequenzen, wenn sie sich von der figürlichen Darstellung abwenden, die tatsächlich – das hat Timur Vermes durchaus richtig erkannt – oft etwas von Flix haben und damit eigentlich zu lieb aussehen für das hässliche Thema. Aber dazu kommen atmosphärische Darstellungen von Steppe, Wetter, Dunkelheit, Nässe und Weite, visuell großartig komponiert, und mit einem Mal wirkt das Drollige wie weggefegt und ich frage mich: Durchläuft hier der Künstler Dahmen einen Reifungsprozess oder ist das eine künstlerische Entscheidung aufgrund der sich stetig verändernden Situation?
Es folgen weitere visuelle Evolutionsschritte, in denen die Figuren mit einem Mal der sehr offenen Linienführung von Reinhard Kleist ähnlich sehen. In Dahmens visueller Welt ist ohne Brüche Platz für Vieles. Und dann wären noch die Abstraktionen zu nennen: Panels, die nur aus Linien bestehen, deren Bedeutung sich erst durch den Kontext erschließt. Es sind Bilder, die den schweifenden Blick zwischen zwei Punkten visualisieren, den Augenblick, in dem verschwindet, was gerade noch da war, Bilder von Detonationen, Bilder von Wetter, Nässe oder Angst, kurze prägnante Details oder auch einfach nur Gegenstände, die auf sehr wenige Linien reduziert sind. Und natürlich Verfall und Schutt. In vielen dieser Panels ist Tobi Dahmen nah am Avantgarde-Künstler Ted McKeever.
Es ist eine erstaunliche Bandbreite, die Tobi Dahmen hier an den Tag legt. Durch die ständige Neufindung visueller Darstellungsmöglichkeiten stellt sich trotz des abgenudelten Themas zu keinem Zeitpunkt Langeweile ein. Zusätzlich spitzt sich die Story in immer unhaltbarere Umstände zu, was vor allem die letzte Erzählsequenz, die Phase des Volkssturms, als wirklich alle gegen alle im Krieg sind, zum Pageturner macht und vor allem die Frage, wie man je wieder aus dieser Situation herauskommen wird, eindringlich in Szene setzt. Mehr Untergang gab es auch bei Oliver Hirschbiegels unterschätztem Film von 2004 nicht zu sehen.
Mir scheint, dass es sich bei Columbusstraße um einen sehr deutschen Blick auf den Krieg handelt, für den es sowohl die regionale als auch die familiäre Bindung benötigt. So gesehen ist Columbusstraße auch ein Zeitdokument der zweiten Generation (länger ist es tatsächlich noch nicht her), das auch im Ausland auf großes Interesse stoßen dürfte. in der akribischen Dokumentation und Dahmens Bedürfnis nach Vollständigkeit sehe ich zudem nichts bieder Verschultes, im Gegenteil beeindruckt mich, wie viel Phantasie in die visuelle Gestaltung, in die die erzählerische Komposition geflossen ist. In Columbusstraße hat Tobi Dahmen wirklich sehr vieles richtig gemacht. Dröge Faktenhuberei sieht anders aus.
Grafisch virtuos, inhaltlich überzeugend, oft packend und mitreißend
Carlsen, 2024
Text und Zeichnungen: Tobi Dahmen
528 Seiten, schwarz-weiß-grau, Hardcover
Preis: 40 Euro
ISBN: 978-3551796639
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