Allen jungen Menschen winkt, egal mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben, eine glänzende Zukunft, schreibt die Künstlerin Jidi im Nachwort von Der freie Vogel fliegt. Aber sehen die Jugendlichen diese glanzvolle Zukunft tatsächlich? Als Jidi 2005 vom Selbstmord eines begabten Schülers hörte, weil er an einer Probeklausur für die Zulassung zur Universität versagte, musste sie weinen und konnte nicht aufhören. Sie nahm diese Nachricht zum Anlass, die erste Version von Der freie Vogel fliegt zu schreiben, ein Roman, in dem sie ihre eigene Schulzeit aufarbeitete. Einige Jahre später beschloss sie, obwohl selbst Zeichnerin, die Geschichte mit der von ihr stets bewunderten Künstlerin Ageng ein weiteres Mal aufzusetzen – diesmal als Comic. Die beiden Künstlerinnen wurden bald Freundinnen fürs Leben, der Comic zudem ein Bestseller, was nicht nur Agengs wunderschöner Grafik zu verdanken sein dürfte, sondern auch der Tatsache, dass die beiden einen Nerv getroffen haben.
Jidi selbst war laut eigener Aussage eine echte Schulversagerin, ebenso wie ihre Heldin Lin Xiaolu, die sich lieber in die Fantasiewelten von Comics und Animes flüchtet, statt für die Schule zu lernen. Aber es ist nicht nur der Notendruck, der das Mädchen zu erdrücken droht. Als Lins Eltern sich scheiden lassen, sagt sie vor versammelter Klasse, sie freue sich für ihre Eltern. Sie seien noch zu jung für die Ehe gewesen, nun könnten sie sich beide nach einem passenden Lebensstil umsehen, es sei noch nicht zu spät. Anstatt jedoch für ihre hellsichtige Meinung, die sie heftigen inneren Konflikten abgerungen hat, gelobt zu werden, erntet das Mädchen Mobbing und Ausgrenzung. „Sie ist doch völlig unnormal“, tuscheln die Mitschüler. „Welch schräge Empfindungen muss man haben, dass man so denkt. Die Eltern haben sich doch nur scheiden lassen, weil sie ein solches Kind haben.“ So erfährt Lin Xiaolu auf die harte Tour, was es bedeutet, offen ihre Gedanken zu äußern. In den Folgejahren sollte sie verschlossener, zurückhaltender und misstrauischer werden und sich Strategien zulegen, wie man im Dschungel sozialer Beziehungen überlebt.
Auch in Sachen Teenagerliebe, ohnehin ein kompliziertes und oft peinliches Feld, entwickelt sich die Heranwachsende Lin zur Meisterin des Aufschiebens, Abwartens und Verpassens von Chancen. Dabei ist sie durchaus aufgeweckt. Obwohl selbst ein braves Kind, gelingt es ihr mit ihrer einnehmenden Art, sich auch mit den „bösen“ Mädchen ihrer Klasse anzufreunden, die gerne die Schule schwänzen, Musiker kennen und in Klubs gehen. Doch während ihre Freundinnen sich in Beziehungen stürzen und gerne feiern, bleibt Lin stets die Abgehängte, die trotzig jeden Frust so lange in ihrem Kopf dreht und wendet, bis sie ihn in ihre eigene Denkweise einordnen kann. Und ständig hat sie dabei ihren Vater im Nacken, der den Druck der Schule an die Tochter weitergibt und ihr vorhält, dass ihre Leistungen nicht der Norm entsprechen. Solle sie sich doch an ihrer Cousine Ruirui ein Beispiel nehmen. Die weint, wenn sie von 100 geforderten Punkten nur 99 schafft.
Der freie Vogel fliegt ist das vielschichtige Portrait einer Jugend, die stetig davon bedroht ist, unter Leistungsdruck und Pubertätswehen einzuknicken und trotzdem ihren Weg sucht. Jidi beschreibt ein Thema, das universal nachempfunden werden kann, in der chinesischen Leistungsgesellschaft aber noch einmal eine Zuspitzung erfährt. Nicht ohne Grund lautet der Originaltitel der Serie „Auf Zehenspitzen in die Ferne schauen“. Denn nur, wenn man sich streckt und weiterblickt als nur bis zur nächsten Klausur, sieht man mitunter die glänzende Zukunft tatsächlich winken. Der immense Leistungsdruck hingegen zwingt den Kindern einen Tunnelblick auf, der nur Erfolg oder Versagen kennt und oft genug mit einem gestörten Verhältnis der Kinder zu den Eltern, wenn nicht zur Welt einhergeht. Die immer wieder vermeldeten Selbstmorde von Jugendlichen, denen der Leistungsdruck zu hoch wird, sprechen hier eine klare Sprache.
Die deutsche Aufbereitung von Chinabooks ist liebevoll und von hervorragender Druckqualität. Der Comic ist zweimal abgedruckt, einmal mit chinesischen Schriftzeichen, einmal mit deutscher Schrift. Auch bei der Übersetzung hat man eine gute Wahl getroffen, denn die Übersetzerin Martina Haase, die bereits den Nobelpreisträger Mo Yan ins Deutsche übertragen hat, versteht es auch, stimmige Comictexte zu schreiben. Jeder der drei Bände enthält zudem lesenswerte Begleittexte der Künstlerinnen.
Eine Schulzeit im Spannungsfeld von Leistungsdruck und Aufbegehren. Sensibel und ausdruckstark.
Chinabooks, 2018
Text: Jidi
Zeichnungen: Ageng
Übersetzung: Martina Hasse
288 – 300 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: je 24,90 Euro
ISBN: 978-3905816723 (Band 1)
Leseprobe
ISBN: 978-3905816730 (Band 2)
Leseprobe
ISBN: 978-3905816747 (Band 3)
Leseprobe
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