Capricorn ist der größte Comic-Schatz, der in letzter Zeit gehoben wurde. Der fünfte Band der Gesamtausgabe präsentiert die Serie von Andreas in absoluter Höchstform.
Das erste Album dieses Bandes spielt im Schnee, völlig losgelöst von dem vorigen Album, das zwar im Schneegestöber endete, aber keineswegs im ewigen Eis. In mittelmäßig schneetauglicher Bekleidung wandert Capricorn durch eine Landschaft, die nur Schnee, Eis und Schluchten zu bieten hat. Er begegnet einem freundlichen Nomadenvolk, in dessen Reihen er ein Spielzeugflugzeug mit dem Symbol von Concept findet. Er geht dem nach und findet den Ballon wieder, mit dem „die Drei“ in #10 (Das Fragment) vor Capricorn geflohen sind. Gemeinsam mit den Nomaden birgt Cap eine Schachtel sowie einen Stapel von Papieren. Ob die uns wohl mehr über dieses seltsam-verwirrende Geflecht der kollabierenden oder konkurrierenden Geheimorganisationen verraten werden? Ted Sharp (aufmerksamste Leser erinnern sich an #5, als er noch ein Handlanger Jeremy Darkthorns war) versucht, die Gegenstände zu entwenden. Inzwischen hat er die Seiten gewechselt und ist ein vollwertiges Mitglied der Bruderschaft der Mentoren – inklusive Rotaugen-Tätowierung auf dem Unterarm. Diesen Diebstahl kann Cap natürlich nicht zulassen, und dann … lohnt es sich, die Geschichte selbst zu lesen.
Wer die Stille tiefer Schneelandschaften kennt, weiß, dass Schnee die Eigenschaft hat, den Schall zu absorbieren: Die Klangteppiche verschneiter Wiesen sind dementsprechend gedämpft. Andreas lässt #13 im Schnee spielen und verzichtet konsequenterweise auf jeglichen Lärm: Das komplette Album ist völlig ohne Text konzipiert – nicht einmal einen Titel hat es. Diese Technik eines stummen Comics hat Andreas schon in Raffington Event umgesetzt, und auch hier ist es brillant gelungen. So schwierig es auch ist, Handlung unter Verzicht erläuternder Textpassagen und ohne große Unklarheiten darzustellen, Andreas gelingt dies ungemein gut.
Die drei Alben, die dieser Band vereinigt, sind in Frankreich 2007–09 erschienen, und es ist Schreiber & Leser zu danken, dass sie auf diesen Autor aufmerksam geworden sind und sein Werk erstmals umfangreicher in Deutschland bekannt machen. Zwar hatte Carlsen Ende der 1990er einen zaghaften Versuch unternommen, Capricorn auch in Deutschland heimisch zu machen, dies scheiterte aber nach zwei Alben.
Nach dem sprachlosen Album #13 folgt Gittertraum/Traumgitter. Wem die Handlung bislang noch zu übersichtlich war, wird nun voll und ganz auf seine Kosten kommen: In einem Traum begegnet Cap Dahmaloch und dem Mann mit den tätowierten Händen, Ted Sharp, der Bruderschaft der Mentoren und den drei alten Frauen. Er verfolgt Blue Face, sieht den Bibliothekar Astor wieder und sieht sich selbst als alten Mann und zugleich kleinen Jungen. Es braucht ein Personenregister, um dem Traum einigermaßen folgen zu können.
Spektakulärer aber als der erzählerische Wirbelsturm, der durch den Kopf des Lesers fegt, ist die Seitengestaltung: Andreas erzählt in einem konsequenten 5×4-Layout, wobei jede Seite aus mehreren, ineinander paradox verschobenen Split-Panels besteht. Ein Leseabenteuer, dem man gut folgen kann, das aber dennoch herausfordert.
Das dritte Album, das der Band enthält, heißt „Die Operation“ und ist ein Matrix-Abenteuer, in dem wir schließlich gar nichts und niemandem mehr trauen können. Capricorn geht an Bord eines Frachtschiffes, um wieder nach New York heimzukehren. Dort begegnet er einem Personal, das einem Abenteuercomic entsprungen zu sein scheint: die lebenslustige Lady Hetherington, die zwielichtig-geschäftsmännischen Brüder Tscherniatow, Kardinal Bugiardo und der Künstler August Ramottin sind seine Begleiter. Aber nur scheinbar, denn all dies spielt sich nur in seinem Kopf ab, während … etwas ganz anderes geschieht. Ich empfehle, direkt in eine Buchhandlung deines Vertrauens zu gehen und mit Nachdruck (Vehemenz und Lautstärke!) diesen Band zu bestellen. Dieser Vorgang ist alternativlos.
In diesen drei Alben experimentiert Andreas wie schon in #11 und #12 viel stärker mit Form und Inhalt als zuvor. Die Serie ist nun absolut fesselnd, wenngleich völlig unzugänglich für Neueinsteiger. Deshalb der Rat: Am besten gleich alle Bände zusammen bestellen, alles andere macht keinen Sinn. Warum sollte man so ein Comic-Highlight, in dem spannende Erzählung und grafische Brillanz aufeinandertreffen, verpassen wollen?
Sprachlos: ein Comic-Highlight dieses Jahres
Schreiber & Leser, 2018
Text und Zeichnungen: Andreas
Kolorierung: Isa Cochet
Übersetzung: Resel Rebiersch
162 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 29,80 Euro
ISBN: 978-3946337584