Jedes Jahr wundern wir uns, wenn Zeitungen ihre Bestenlisten schon Anfang Dezember veröffentlichen. Ist das nicht sehr unfair gegenüber den Dezemberbüchern? Aber wir von Comicgate nehmen auch auf die Dezemberkinder Rücksicht. Hier sind unsere total subjektiven Favoriten des Jahres.
Die Top 5 von Christian Muschweck
Platz 5 – Letztes Wochenende im Januar
von Bastien Vivès
schreiber und leser
Bastien Vivès‘ Geschichte über eine kurze Liebesaffäre während des Comicfestivals in Angoulême zeigt den Künstler in Top-Form wie lange nicht mehr.
Auf der Welt gibt es zwei Sorten von Menschen. Die einen machen Comics, die anderen verehren sie. Was aber, wenn die Fans zu sehr ihre Erwartungen in die Comicmacher hineinprojizieren? Bastien Vivès reißt ein reizvolles Spannungsfeld auf. Auf der einen Seite ist da Marc, ein glühender Comicfan mit seiner Partnerin Vanessa, die er verzweifelt nach seinem Bild zu formen versucht, was jedoch vergebliche Liebesmüh ist, weil sie bis zuletzt eher der Typ Mensch bleibt, der Comics eher komisch findet – steckt doch schon im Wort, dass Comics „komisch“ sind, oder? Auf der anderen Seite ist Denis, etablierter Comickünstler, dem das Getue der Fans eher unangenehm ist und der gerade Vanessas Unbedarftheit schätzt.
Bastien Vivès gelingt in Letztes Wochenende treffsicher wie selten das Kunststück, das Alltägliche mit Spannung zu erzählen. Es ist wunderbar, dabei zuzusehen, wie Denis mit Vanessas Hilfe die Flucht aus einer Blase gelingt, die längst ihren Zauber verloren hat und die längst nur noch um sich selbst kreist. Comicgate-Besprechung hier.
Platz 4 – Punisher: The King of Killers
von Jason Aaron, Jesus Saiz, Paul Azaceta
Marvel, deutsch: Panini
Schon krass, wie es in den 1980ern möglich war, dass Helden die Schurken einfach so über den Haufen ballern. In späteren Punisher-Jahrzehnten wurde dann durchaus reflektiert, was Töten bedeutet, allerdings war die Schlussfolgerung nicht, diese Form der Gewaltdarstellung sein zu lassen, stattdessen hat man die unbequeme Gewalt ungefiltert ins Bild geholt und quasi gefeiert, dass auch der Held Verbrechen begeht – und wenn der Held immer wieder sogar Kriegsverbrechen beging, konnte man sich bei Bedarf auch einreden, dass Krieg doch immer ein Verbrechen ist. Oder dass das doch alles nur ein Comic ist.
Auch Jason Aaron hatte in der Vergangenheit durchaus seinen Anteil am zweifelhaften Ruhm des Punishers und in seiner ersten, zwei Jahre währenden, Punisher-Max-Storyline zu sehr auf den Unterhaltungswert von Sadismus gesetzt. Umso mehr erstaunt, dass ihm in „King of Killers“ eine neue Sichtweise auf den Punisher gelingt. Erzählerisch wird dabei stark auf eine New-Hollywood-Atmosphäre gesetzt (das war die Ära der Easy Riders und Raging Bulls zwischen 1968 und 1980), aber auch auf fantastische Akzente, was einen neuen, stimmigen, kritischen Blick auf die Figur gestattet.
Ziemlich lange wurde „King of Killers“ als definitiv letzte Punisher-Story gehandelt, aber natürlich war das alles Marketing. Gerade schlüpft ein neuer harter Knochen des Marvel-Universe in die Fußstapfen des Rächers, während das Original, Frank Castle, in irgend einer Marvel-Fantasy-Parallelwelt auf Abruf gehalten ist. Marvel mag nun zu Disney gehören, aber dort verärgert man zwar gerne Don Rosa und seine Fans wegen irgendwelcher Darstellungen „die damals nicht richtig waren und es heute nicht sind“, auf den Punisher aber wird man sicher nicht verzichten wollen. Dessen ungeachtet ist „King of Killers“ ein beeindruckender Beitrag zur Reihe. Comicgate-Besprechung hier.
Platz 3 – Micky Maus: Albtraum auf der Koralleninsel (in LTB 575)
von Marco Nucci und Casty
Egmont
Seit einiger Zeit arbeiten der italienische Autor Marco Nucci und sein Zeichner Casty daran, dem schwarzen Phantom wieder die unheimliche Aura zurückzugeben, so wie damals in den 1950ern, als Romano Scarpa noch Geschichten wie „Das doppelte Geheimnis des Schwarzen Phantoms“ erzählen konnte. Das mag auch damals bei Scarpa zwar durchaus an Kinder gerichtet gewesen sein, Kinderkram war es nicht. Nucci und Casty bringen Mystery-Elemente ins Spiel, die Figuren sind nuanciert und die Romanze zwischen Micky und Minnie ist nicht auf Kindergartenniveau. Die Erzählung spielt mit Rückblenden, gekonnt wird das allzu langsame Vergehen der Zeit auf einer Gefängnisinsel visualisiert, es gibt reichlich Suspense-Momente, kurz, die kompletten 92 Seiten der Erzählung sind ein einziges großes Lesevergnügen. Die Schlagzahl der interessanten, anspruchsvollen Geschichten ist im LTB nach wie vor hoch, wenngleich solches Niveau aber natürlich nicht durchgängig möglich ist. „Alarm auf der Koralleninsel“ war der diesjährige Höhepunkt des LTB, das auch 2023 die interessantesten Disney-Publikationen unter seinem Schirm hatte. Comicgate-Besprechung hier.
Platz 2 – Roaming – Fünf Tage in New York
von Jillian und Mariko Tamaki
Reprodukt
Die Slice-of-Life-Graphic-Novel erzählt mit leichter Hand von drei jungen Frauen auf einem Kurztrip in New York. Dani und Zoe sind dabei beste Schulfreundinnen, die sich nach längerer Zeit erstmals wiedersehen, und Dani hat zudem erstmals ihre Kommilitonin Fiona dabei und macht sie und Zoe miteinander bekannt. Aber: „Three is a crowd!“, wie der Engländer gerne sagt. Während jeweils zwei der drei wunderbar zusammenpassen, ist in der Dynamik zu dritt ziemlich schnell der Wurm drin. Das wird schnell explosiv.
Super, wie die Tamakis die Eigenheiten der drei ungleichen Freundinnen herausarbeiten und miteinander in Beziehung setzen: die viel zu zynische und abgebrühte Fiona, die gerne die Bitch mimt und bei der man sich doch fragt, ob nicht doch irgendwann die Fassade bröckelt und vielleicht ein zugänglicheres Wesen zum Vorschein kommt und das ganze Gehabe nur ein Panzer ist. Dann die grundehrliche, liebe Dani, deren Nettheit als Schwäche ausgelegt werden kann, aber natürlich birgt das pure Nettsein auch Potenzial. Und dann ist da Zoe, die zu jedem Menschen schnell Anschluss findet, aber mehr als die anderen noch ihren Platz im Leben sucht. Die Tamakis sind längst Profis im Auserzählen solcher behutsam arrangierter Konstellationen und so ist Roaming nach Sommer am See der nächste Volltreffer der beiden Erzählerinnen. Und deutlich spannender ist Roaming dabei auch.
Platz 1 – Rostige Herzen
von Munuera und Beka
Carlsen Comics
„Die Sorte wird hier nicht bedient“ sagte der Wirt in der Cantina von Mos Isley, als die zwei Androiden c-3PO und R2-D2 dort im Schlepptau von Ben Kenobi und Luke Skywalker aufschlugen. Androiden und Roboter müssen draußen bleiben und waren eben schon immer Hilfskräfte ohne Rechte, und weil es ja tatsächlich ohne echte Konsequenzen ist, wenn man seine Blechbüchsen schlecht behandelt, wird dies in der SF auch gerne und genüsslich zelebriert – und Hand aufs Herz, will die Amazon-Alexa nicht im Grunde im Domina-Befehlston angesprochen werden? Mit „Alexa! Schreib frische Sahne!“ kommt man schließlich schneller ans Ziel als mit „Alexa, könntest du bitte ‚Frische Sahne‘ auf den Einkaufszettel schreiben?“
Aber träumen Roboter vielleicht doch von elektrischen Schafen? Rostige Herzen handelt in weiten Teilen davon, dass die Roboter um Anerkennung und Gleichberechtigung kämpfen. Dabei begeben sich die Autoren leider bisweilen auf gefährlich dünnes Eis, denn die offensichtliche Analogie des vorliegenden Südstaatenambientes zum amerikanischen Süden des 19. Jahrhunderts mag einerseits ein reizvoller Anachronismus sein, andererseits ist der offensichtlich Ersatz der afrikanischen Sklaven durch menschelnde Roboter aber problematisch, denn – und jetzt ignoriere ich bewusst die stillschweigende Vereinbarung, dass die erzählte Logik manchmal erfordert, dass man eigene Überzeugungen ignorieren muss – Roboter haben nun mal keine Seele. Haben sie nicht. Und deswegen ist es natürlich rechtens, einen Roboter nach Gebrauch auf den Müll zu werfen, und es ist auch rechtens, viele Roboter auf einen Scheiterhaufen zu werfen und anzuzünden. Das ist erlaubt, rechtens und ethisch nicht anfechtbar – und vielleicht ist es in Zukunft sogar angeraten, KI einzudämmen, ihr keine Rechte zuzugestehen und sie in ihre Schranken zu weisen. Das Los der KI in einer Erzählung mit dem Los der Schwarzen gleichzusetzen, halte ich daher schon für hochproblematisch. Aber wollen wir Beka und Munuera ankreiden, was wir größeren Denkern wie Philipp K. Dick und Ridley Scott durchgehen lassen? Dennoch ist Rostige Herzen eine anrührende, poetische Erzählung und als Lektüre für jugendliche Leser eine Entdeckung, mit seiner ausgefeilten Bildsprache und freundlichen Poesie aber für Leser*innen aller Altersklassen eine Freude. Comicgate-Besprechung hier.
Und hier als kleinen Nachklapp noch die Comics, die es nicht in meine Top 5 geschafft haben:
Miracleman – The Silver Age (Marvel, US) – Unfassbar, aber Neil Gaiman und Mark Buckingham setzen wirklich ihren Miracleman nach 30 Jahren fort. Und es ist nicht zu spät. Eine Zeitreise zurück in eine Zeit, als Gaiman noch kein Superstar war, aber die besten Stories seiner Karriere schrieb.
Marc Dacier (All-Verlag) – Die wichtigste Klassiker-Veröffentlichung des Jahres. Endlich dürfen wir die letzte in Deutschland unbekannte Reihe von Charlier und Paape kennenlernen. Und endlich mal eine Figur von Charlier ohne militärischen Hintergrund und ohne Uniform.
Der Vagabund der Unendlichkeit (Kult Comics) – Noch so eine wichtige Veröffentlichung. Endlich werden die Teile veröffentlicht, die bisher in jeder unvollständigen Veröffentlichung bei uns gefehlt haben. Eine fantasievoll-frivole SF-Saga, die sich mit den ganz großen Klassikern messen kann. Comicgate-Besprechung hier.
Savage Dragon 1 (Zauberstern) – Der Zauberstern-Verlag bringt die beste Image-Serie der 90er, und das in einem Format, das den Zeichnungen wirklich gerecht wird. Geklammert, sodass man sieht, was auf den seitenübergreifenden Splashpages los ist, redaktionell betreut und am Kiosk, wo Comics ja auch hingehören. Einfach super.
★★★
Die Top 5 von Florian Schwebel
Bestehend aus Comics, die ich nicht für Comicgate rezensiert habe, daher ohne bereits besprochene Favoriten wie Blood of the Virgin und Mort Cinder.
Platz 5 – Spirou und Fantasio Spezial: Spirou und das Comic-Syndrom
von Jul/Libon
Carlsen Comics
Auch dieser Witz musste mal gemacht werden: Spirou und Fantasio kommen einer unheimlichen Klinik auf die Schliche, deren Patienten sich für Comicfiguren halten. Und zwar für die Schlümpfe und die Daltons aus dem eigenen Stammheft. Als Undercoverreporter gibt Fantasio vor, sich mit Käptn Haddock zu verwechseln, dem anderen großen Sidekick des europäischen Comics (denn auch dieser Witz musste mal gemacht werden). Dann dreht die Geschichte ihr Konzept noch eine Ecke weiter und wird noch lustiger. Theoretisch dürften die glubschäugigen computerbunten Witzblattzeichnungen von Libon nicht unbedingt meins sein, praktisch bringen sie mich immer zum Lachen, und hier erst recht. Sie strotzen vor bizarrer Anmut, was den erhabenen Blödsinn passgenau unterstreicht. Menschen setzen sich umgedrehte Socken auf den Kopf und rufen fröhlich: „Großer Schlumpf, wollen wir nicht ein kleines Fest schlumpfen?“ Wer kennt solche Momente nicht aus dem eigenen Leben?
Platz 4 – Batman: Detective Comics
von Mariko Tamaki, diverse
Panini
Was Mariko Tamaki (Ein Sommer am See) bei Detective Comics macht, ist theoretisch sehr naheliegend, praktisch sehr seltsam: sie behandelt das Batman-Universum wie ein „normales“ zeitgenössisches Serienuniversum (ich muss immer wieder an Buffy denken,- falls das noch als zeitgenössisch oder normal gilt) und erzählt die üblichen apokalyptischen und surrealen Horrorszenarien in Gotham als multiperspektivische Charakterstudien über glaubwürdige, eigenartig unschuldige Menschen (die zum Teil halt Superhelden und Superschurken sind und durch trippige Krimistories stolpern). Und auf einmal wird wieder einmal klar, was dieser seltsame Mythos mit dem Dunklen Ritter und der unrettbaren Stadt überhaupt soll und ausdrückt. In Trades funktioniert das viel besser als in Einzelheften, der erste ist Ende 2022 erschienen, aber zwei und drei sind deutlich wilder und griffiger und sollen hier stellvertretend für die ganze Reihe gelobt werden. Zeichnerisch ist das gut und grell, aber nicht zwangsläufig Kunst. Doch wer schon immer einmal lesen wollte, wie bspw. Bruce Wayne Angst hat, sich nicht in seine neue Nachbarschaft einzufügen, während er eine möglicherweise übernatürliche Verbrechensserie untersucht (so beginnt diese Reihe im ersten Band) oder wie Huntress traumatische Erlebnisse mit ihrer Katze bespricht, sollte hier mal hineinschauen.
Platz 3 – Auf dem Wasser Bd. 1
von Benjamin Flao
schreiber und leser
Sozusagen am anderen Ende des Spektrums wartet der Fluss: Die Welt versinkt im Wasser. Eine bunte Mischung sensibler Rauhbeine bevölkert auf Booten und schwimmenden Inseln, auf der Flucht vor fernen Behörden und auf der Suche nach Liebe und nach guten Geschäften die weite überschwemmte Landschaft, die sich kaum noch einem bestimmten Erdteil zuordnen lässt. Unser Erzähler ist ein namenloser Hund mit telepathischen Fähigkeiten und offenen Augen. Die Farben sind erdig, die Bilder sind luftig, die Stimmung ist sehnsüchtig melancholisch. Auf dem Wasser ist ein meditatives Update von Endzeitcomics wie Jeremiah/David Walker (die Figuren sehen sogar ein bisschen nach Herrmann aus) oder Simon – Zeuge der Zukunft (aber Auf dem Wasser ist viel reduzierter und, verzeih, Auclair, kunstvoller). Ausgebeutete Natur und totgelaufene Zivilisation laufen ineinander über und bilden neue Mischformen. Verödete Betonstädte und verlassene Häfen, Flusspiraten und gedämpfte Verschwörungstheorien – ergibt diese befremdlich ansprechende Dystopie Sinn? Da würde ich mich nicht festlegen wollen. Muss sie das? Sie regt auf jeden Fall, wie es so gerne so schrecklich heißt, zum Nachdenken an und lässt das auch zu, hat gute Bilder und Atmosphäre ohne Ende. Und eben einen sehr vertrauenserweckenden telepathischen Hund als Erzähler.
Platz 2 – Torpedo
von Abuli/Bernet
all-Verlag
Guilty Pleasure wäre geprahlt, Torpedo bzw. Torpedo 36 ist eine räudige, aber stilvolle, Serie über einen räudigen, stillosen Anti-Helden. Luca Torelli ist nicht nur ein skrupelloser, Frauen verachtender Auftragskiller, sondern dazu deutlich zu dumm, die verschraubten Jeder-gegen-Jeden-Plots zu durchschauen, durch die er sich verbissen ballert. Sehr typisch frühe 1980er: clevere Nerds, die zu viel Film Noir gesehen haben und nicht mehr brav sein wollen, toben sich unangenehm aus (der erste Zeichner Alex Toth suchte schnell entsetzt das Weite, wie es hier im Begleittext noch einmal geschildert wird). Liest sich leider wie Butter und sieht aus wie ein gut geschnittener expressionistischer Fiebertraum. Weder Sin City (das ein paar Metaebenen mehr hat) noch Lobo wären ohne diesen bösen Spaß möglich gewesen. Die späteren farbigen Episoden gab es einst in Alben und Zeitschriften bei Carlsen, aber sie taugen weniger. Die viel besseren, hier gesammelten Schwarzweiß-Episoden gab es bisher nur ganz vereinzelt (wie in der unübertroffenen Snob-Anthologie Macao). Lest es und sagt niemandem, dass Ihr den Tipp von mir habt. Ich will nicht so einsam sterben wie Torpedos Opfer.
Platz 1 – Vatermilch Band 2: Unter der Oberfläche
von Uli Oesterle
Carlsen Verlag
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das so schnufte hinhaut, wie Uli Oesterle im lang erwarteten zweiten Band die Fabel über den verschütt gegangenen Taugenichts ausbaut und Haken schlagen lässt (zum Beispiel mit langen Passagen über das Leben auf der Straße und über persönliche Läuterung, die urplötzlich wie ein Thriller erzählt werden). Ich bin mir dagegen sicher, dass hier jede Seite spannend ist, mindestens eine überraschende Idee in der Erzählung und/oder in der Graphik bietet, und dass mir kein wirklich vergleichbarer Comic einfällt. Zusammen mit der ähnlich unverzichtbaren Emmie Arbel von Barbara Yelin auf den ersten Blick also ein sehr gutes Omen für den hiesigen Comic. Ob solche ausgesprochenen Prestigeprojekte allerdings der ansonsten darbenden deutschsprachigen Szene tatsächlich helfen, wird erst die Zukunft zeigen. Wir Lesenden hatten es mit heimischen Comics jedenfalls selten so gut. Comicgate-Besprechung hier.
★★★
Die Top 5 von Thomas Kögel
Ich habe 2023 nicht sehr viele echte Neuerscheinungen gelesen, deshalb folgt hier eine Liste meiner schönsten und eindrücklichsten Comic-Leseerlebnisse des letzten Jahres:
It’s Lonely at the Centre of the Earth (US)
von Zoe Thorogood
Image Comics
Eine Zeitlang gab es ja mehr als genug autobiografische Comics, das Interesse daran schien zuletzt eher erschöpft. Doch dann kam dieser Comic, in dem die erst 23-jährige Britin Zoe Thorogood aus ihrem Leben erzählt. Genauer gesagt: von einem Halbjahr, in dem sie als junges Talent, das gerade einen ersten Erfolg erzielt hat (The Impending Blindness of Billie Scott), schauen muss, wie es weitergeht. Mitten in einer Pandemie, geplagt von Depressionen und Unsicherheiten. Der Comic beginnt direkt auf Seite 2 mit dem Bekenntnis, dass Zoe überlegt, sich umzubringen. Und genau so radikal ehrlich geht es weiter. Hinter Zoes Spiegelbild lauert ein dunkler Dämon, der sie auch auf den weiteren Seiten begleitet. Diese sind ein fulminantes Spiel mit dem Medium Comic: Thorogood zieht alles Mögliche aus dem Experimentierkasten der Neunten Kunst, spielt mit Farben und Formen, mit Typografie und Zeichenstilen, bricht zwischendurch die Vierte Wand, reflektiert auf einer Meta-Ebene ihr eigenes Buch und setzt dann mittendrin einfach nochmal von vorne an: Wir sehen dann erneut das Cover, den Schmutztitel und das Impressum und starten noch einmal. Ein Wow-Effekt in einem Buch voller Wow-Effekte. Erschien ganz knapp Ende 2022, ist aber trotzdem mein Comic des Jahres 2023.
Naphthalin
von Sole Otero
Reprodukt
Ein in Frankreich preisgekrönter Comic, der hierzulande leider viel zu wenig Aufmerksamkeit bekam. Dabei ist die 330 Seiten starke Erzählung der Argentinierin Sole Otero absolut empfehlenswert! Die 18-jährige Rocío erbt das Haus ihrer Großmutter, und während sie eher lustlos überlegt, was aus ihr mal werden soll, blickt sie auf das bewegte Leben ihrer verstorbenen Oma zurück. Diese war kein liebes Ömchen, sondern eine verbitterte alte Frau, und die Rückblenden erklären ganz gut, warum. So entsteht eine Familiensaga, die sich vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur argentinischen Wirtschaftskrise 2001 zieht, immer wieder unterbrochen von Rocíos aktuellen Befindlichkeiten. Sole Otero nutzt dabei sehr clever verschiedene Möglichkeiten der Kunstform Comic und präsentiert das Ganze in einem sehr individuellen Stil: Sowohl die Figurenzeichnung als auch Kolorierung und Lettering (auch in der deutschen Ausgabe von der Künstlerin selbst) sind sehr ungewöhnlich und trotzdem gut zugänglich. Mein Geheimtipp des Jahres.
Sunny 1–6
von Taiyō Matsumoto
Carlsen Verlag
2023 war das Jahr, in dem ich mich in die Manga von Taiyō Matsumoto verliebt habe (reichlich spät, ich weiß). Im Sommer habe ich die komplette sechsteilige Sunny-Reihe (erschien zwischen 2020 und 2022 bei Carlsen) verschlungen – eine lose Folge von feinfühligen, lebensnahen, melancholischen Episoden rund um ein kleines Kinderheim und die dort lebenden Kinder. Matsumoto schafft es, uns die unterschiedlichsten Figuren nahezubringen, ihre Ticks und Macken, ihre Ängste und Sehnsüchte, ihre Stärken und Schwächen. Erfreulicherweise stehen in meinem Ungelesen-Regal noch ein paar weitere Matsumotos, so dass ich mich demnächst wohl auch gut in Tischtennisspieler (Ping Pong), Monster-sehende Schüler (Gogo Monster) und Straßenkinder (Tekkonkinkreet) einfühlen kann. Meine Künstler-Entdeckung des Jahres.
The Saga of the Swamp Thing (US)
von Alan Moore, Stephen Bissette, John Totleben, Rick Veitch u.a.
DC Comics
Obwohl ich Alan Moore zu meinen All-Time-Lieblingsautoren zählen würde, hatte ich seinen Swamp Thing-Run (1984–87), seinen ersten großen Erfolg auf dem amerikanischen Markt, bisher noch nie gelesen. In 45 Heften definierte er damals die Figur des „Dings aus dem Sumpf“ völlig neu, wagte diverse Erzählexperimente, lotete aus, was Horrorcomics können und legte damit den Grundstein für das, was später DCs Vertigo-Label wurde. Nebenbei führte er auch noch einen gewissen John Constantine ein, der hier seine ersten Auftritte hatte. Natürlich merkt man diesen Comics in einzelnen Aspekten ihr Alter von fast 40 Jahren an, aber insgesamt liest sich das alles enorm frisch, mit immer neuen Überraschungen und stilistischen Höhenflügen. Ein großes Vergnügen sind auch die fabelhaften Zeichnungen und die wilden Seitenlayouts von Stephen Bissette und John Totleben, die vollkommen untypisch für US-Mainstreamcomics sind und waren.
Erst seit 2022 liegt Moores Swamp Thing-Saga komplett auf Deutsch vor (in einer dreibändigen Deluxe-Ausgabe von Panini), ich rate aber eher zu den amerikanischen Paperbacks, denn die gibt es noch in der Original-Kolorierung von Tatjana Wood, die viel besser zum aufwändig schraffierten Artwork von Bissette und Totleben passt als die scheinbar moderne neuere Digitalkolorierung. Mein Klassiker des Jahres.
The Ballad of Halo Jones (UK)
von Alan Moore und Ian Gibson
Rebellion
Noch eine Alan-Moore-Lücke, die ich letztes Jahr endlich geschlossen habe, ist ein Frühwerk aus seiner Zeit beim britischen Science-Fiction-Magazin 2000 AD, erschienen zwischen 1984 und 1986. Mit Zeichner Ian Gibson (der vor wenigen Wochen verstorben ist) schuf er eine völlig untypische Genreheldin. Im damaligen Umfeld wäre schon die Tatsache, dass es sich bei Halo Jones um eine Frau handelt, als innovativ durchgegangen, aber Moore und Gibson wollten und schafften mehr: Sie erzählen hier nicht von einer strahlenden Heldin im 50. Jahrhundert, auch nicht von einer tragischen, sondern von einer ziemlich normalen jungen Frau, die eigentlich nur eins will, nämlich raus hier, und als eher passive Figur trotzdem eine Menge erlebt – das meiste davon eher widerwillig. Das ist sicher nicht Alan Moores beste Serie, macht aber trotzdem Spaß und ist gut gealtert. Anfang 2023 erschien beim Verlag Rebellion eine schöne Gesamtausgabe, die „Full Colour Omnibus Edition“ mit etlichen Extras. Die nachträgliche Kolorierung hätte es für die ursprünglich schwarz-weißen Strips nicht gebraucht, richtet aber auch keine allzu großen Schäden an. Meine Neuauflage des Jahres.
★★★
Die Top 5 von Gerrit Lungershausen
Es gibt so viele Comics, die einem im Laufe eines Jahres über den Weg laufen und auf einer Bestenliste irgendwie falsch erscheinen, aber dennoch besonders gewesen sind. Dazu zählt etwa der saukomische Der Schlumpf, der vom Himmel fiel (toonfish), der nichts mit dem David-Bowie-Film zu tun hat (im Gegensatz zu der missratenen Comic-Adaption), aber durch und durch grandios ist. Auch die Grendel-Ausgabe bei Cross Cult, deren herausragender dritter Band gerade erschienen ist, zählt zu den Highlights des Jahres. Die Falco-Biografie von Arnulf Rödler (Knesebeck) ist vielleicht kein Kandidat für Jahres-Bestenlisten, aber ein wenig faszinierend ist der Band dennoch. Und Rostige Herzen von Munuera und Beka (Carlsen) hat Christian oben ja schon mit vollem Recht so lobend hervorgehoben, und dem muss ich voll und ganz zustimmen. Nun aber meine fünf Empfehlungen:
Platz 5 – Hypericum
von Manuele Fior
avant-Verlag
Teresa betreut eine Ausstellung in Berlin über Howard Carters Entdeckungen in den Grabkammern Tutanchamuns und lernt den unangepassten Ruben kennen. Er bietet ihr einen alternativen Lebensstil, ein Dach über dem Kopf und Sex an ungewohnten Orten. Der zweite Handlungsstrang versetzt uns in das Jahr 1922. Howard Carter entdeckt bei Grabungen im Tal der Könige eine Folge von Grabkammern und macht dabei den bedeutendsten Fund der Ägyptologie: das von Grabräubern bislang unbehelligte Grab des als 18-jähriger verstorbenen Pharaos Tutenchamun. Der italienische Zeichner Manuele Fior (Fräulein Else, Celestia) hat zum Jubiläum der Entdeckung des Grabes von Tutanchamun im Tal der Könige keinen Comic für die Souvenirshops ägyptischer Museen geschrieben, sondern eine Auseinandersetzung über Zukunftssorgen, Vergangenheitspflege, Denkmalkultur und Fortschrittlichkeit. So schön gezeichnet wie seine anderen Comics und weniger rätselhaft als etwa Celestia. Comicgate-Besprechung hier.
Platz 4 – Beta … civilisations volume II
von Jens Harder
Carlsen Verlag
Nach Alpha (2010) und Beta volume 1 (2014) holt Jens Harder zum dritten Mal ganz weit aus. Nachdem er in dem ersten Band der auf vier Bücher angelegten Reihe die Zeit vom Urknall bis zur Vorgeschichte des Menschen und in Beta 1 die Geschichte des Menschen bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung abgereißt, hat er in Beta 2 jede Menge Arbeit gehabt, um die letzten 2000 Jahre Weltgeschichte in 360 Seiten zu erzählen. Da gibt es natürlich mehr Bildmaterial als bei den vorigen Bänden. Ein Wahnsinnsprojekt, das mit seinem enzyklopädischen Ansatz die Leser*innen völlig überfordert, und gerade das macht den weitgehend stummen Comic so besonders. Comicgate-Besprechung hier.
Platz 3 – Carbon und Silizium
von Mathieu Bablet
Splitter Verlag
Mathieu Bablet ist hierzulande vor allem seit der Übersetzung des prämierten Shangri-La bekannt. In Carbon und Silizium befinden wir uns in einer nahen Zukunft des 21. Jahrhunderts. Im Silicon Valley arbeitet die Tomorrow Foundation an der Herstellung künstlicher Lebensformen. Es ließen sich zahllose Szenen aus diesem komplexen Science-Fiction-Comic herausgreifen, in denen Bablet Beobachtungen über unsere Gegenwart in Bilder fasst, darunter die Faszination für virtuelle Realitäten oder die Fortschritte der Medizin, das Leben immer weiter zu verlängern – und den Konflikt, der daraus entsteht, dass der Körper nun einmal doch ein endliches Produkt ist. Norikos grausamer Tod unter dem Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen setzt den technologischen Fortschritt ebenso ins Bild wie das Grauen des körperlichen Verfalls, der sich nicht verhindern, sondern nur kaschieren lässt. Wie viel Körper braucht der Mensch eigentlich, um noch Mensch zu sein? Der im Januar 2023 veröffentlichte Comic ist bei manchen vielleicht schon wieder aus dem Gedächtnis gerutscht – mir hat er sich geradezu eingebrannt.
Platz 2 – Das große Los
von Joris Mertens
Splitter Verlag
François arbeitet seit sieben Jahren als Fahrer in einer französischen Großstadtwäscherei. Wäsche einladen. Schlüssel umdrehen. Wäsche abliefern. Schlüssel abziehen. Gute Nacht. Arbeitsbiographisch gesehen ist das eine Sackgasse, in die er hineinsteuert, und so spielt er Woche für Woche Lotto, um dem Elend zu entkommen. Das kann natürlich nichts werden, und so geht er Tag für Tag zur Arbeit, bis ein einziger Auftrag sein Leben verändert. Der Comic wartet am Ende mit keiner großen Pointe, und gerade das macht ihn wiederum wahnsinnig gut. Und wer sich an den großformatigen und großartigen Zeichnungen von Joris Mertens nicht sattsehen kann, sollte einen Blick in Beatrice wagen. Das ist der zweite Comic von Joris Mertens, der seit August 2023 ebenfalls bei Splitter im Programm zu finden ist. Comicgate-Besprechung hier.
Platz 1 – Harrow County – Omnibus 1
von Cullen Bunn und Tyler Crook
Skinless Crow
Fernab der Städte lauern die Hexen. In Cullen Bunns und Tyler Crooks Horror-Serie Harrow County haben die Dorfbewohner das Richtige zu tun versucht und die Hexe Hester Beck aufgeknüpft und – sicher ist sicher – angezündet. Durch so etwas ist aber das Böse noch nie aus der Welt geschafft worden. Meistens sind solche Gewaltakte überhaupt erst der Ursprung des Unheils, und so auch hier. Als Emmy geboren wird, fürchten manche, dass in ihr mit dem Erreichen ihrer Volljährigkeit (Carrie lässt grüßen) eben jene Kräfte erwachen, die von den Männern einst gebannt werden sollten. Sie sollen aber nur zum Teil Recht behalten, denn Emmy nutzt ihre Kräfte keineswegs, um Rache an den Gewalttätern früherer Zeiten zu üben, sondern – ach, es ist halt komplizierter. Der erste von zwei Bänden dieser Omnibus-Ausgabe versammelt #1–16 der zwischen 2015 und 2018 bei Dark Horse veröffentlichten Horror-Serie. Es ist schon erstaunlich, dass es doch so lange gedauert hat, bis diese großartige, immerhin für einen Eisner Award nominierte Serie, es nun in einer erfreulich großformatigen Ausgabe nach Deutschland geschafft hat. Die wundervollen Aquarell-Zeichnungen von Tyler Crook, zugleich schön, grausam und witzig, kommen darin noch besser zur Geltung als in der Original-Paperback-Ausgabe. Nachdem in den letzten Jahren wirklich sehr schöne Horrorcomics (etwa Gideon Falls von Lemire und Sorrentino) erschienen sind, ist Harrow County wirklich etwas Besonderes. Eine Geschichte von männlicher Angst vor weiblicher Stärke, von Vater-Tochter-Beziehungen, Freundschaft, Ausgrenzung und Verführung. Und daneben dieser Kontrast zwischen den anmutigen Figuren und dem Jungen, der nur noch als blutiger Hautfetzen durch die Landschaft kriecht. Es gibt keine Ausrede, warum man Harrow County nicht lesen sollte.
2 Kommentare