Manuele Fiors Comic Hypericum erschien im Oktober 2022 in Italien – genau 100 Jahre nach Howard Carters Entdeckung des Grabes von Tutanchamun im Tal der König. Das ist natürlich kein Zufall, aber das macht Hypericum zu keinem reinen Jubiläumscomic.
Die italienische Teresa wird am Ägyptischen Museum Berlin angestellt, um als Wissenschaftliche Mitarbeiterin eine Ausstellung über Howard Carters Entdeckungen in den Grabkammern Tutanchamuns zu betreuen. Zufällig lernt sie Ruben kennen, der Teresa sofort mit seiner unangepassten Art imponiert. Er bietet ihr einen alternativen Lebensstil, ein Dach über dem Kopf und Sex an ungewohnten Orten. Soweit, so gut. Aber von ihrer krankhaften Schlaflosigkeit kann er Teresa nicht befreien.
Der zweite Handlungsstrang versetzt uns in das Jahr 1922. Der Archäologe Howard Carter stößt bei Grabungen im Tal der Könige zunächst auf Felsstufen, dann auf eine Treppe, eine rätselhafte Wand und schließlich auf eine Folge von Grabkammern, wo er schließlich den bedeutendsten Fund der Ägyptologie machen wird: das von Grabräubern bislang unbehelligte Grab des als 18-jährigen verstorbenen Pharaos Tutenchamun.
Fiore verschränkt diese beiden Ebenen, das alte Ägypten und das moderne Berlin, immer wieder geschickt miteinander. Das gelingt ihm entweder durch punktuelle visuelle Verbindungen, wie etwa im Fall von Gitterstäben, die das Pharaonengrab vor dem Zugriff Neugieriger beschützen bzw. das Gitter eines Berliner Partykellers, in dem Teresa und Ruben bis ins Morgengrauen tanzen, während Teresa nicht müde wird, von Carters Entdeckung zu schwärmen: „Eine Ewigkeit in finsterer Stille. Bis Carter sie am 24. November 1922 entdeckt hat. Über dreitausend Jahre später.“ Oft ist zunächst unklar, ob der auf der Seite platzierte Text zu dieser Zeitebene gehört oder noch ein Nachhall der anderen Zeit ist. Manchmal sind es auch nur Lichteffekte, Bewegungsrichtungen, Gesichtsausdrücke oder Proportionen, die den Übergang sanft gestalten und die Zeit überbrücken.
In welcher Zeit die Berliner Phase dieses Comics spielt, wird (fast) erst am Ende deutlich, als das Paar vor dem Fernseher sitzend den Einsturz der Türme des World Trade Centers beobachtet – ein weltweites Medienereignis wie auch die Entdeckung von Tutanchamuns Grab fast 80 Jahre zuvor. Damals führt es zu Tut-Zitronen, ägyptischem Modeschmuck und einem Mumien-Hype, den Fior dankenswerterweise nicht bemüht. Immerhin ist der Mythos vom Pharaonenfluch schon oft genug erzählt und öfter noch als Mummenschanz widerlegt worden.
Der italienische Zeichner und Autor Manuele Fior (*1975) ist zuletzt mit seinen genre-untypischen Science-Fiction-Comics aufgefallen. Celestia und Die Übertragung zeichnen sich dadurch aus, Genre-Stereotypen zu vermeiden und im Gegenzug komplexe Geschichten zu bieten. Hypericum wiederum wagt sich auf ganz anderes Terrain, bleibt in der nahen Vergangenheit und schielt in die etwas weniger nahe Vergangenheit. Zeit ist überhaupt das zentrale Thema in dieser Geschichte: die Zeit, die zwei junge Liebende miteinander verbringen. Zeit, die man nicht gewinnt, nur weil man auf den Schlaf verzichten muss. Zeit, die sich verändert. „Alles wird anders“ sagt ein Freund am Ende zu Ruben. „Nichts mehr wie vorher … das wäre schade“, antwortet dieser. Und so staunen sie vor dem Fernseher wie einst Howard Carter angesichts seines Sensationsfundes: „Angesichts eines solchen Schauspiels verlor die Zeit für uns ihre Bedeutung.“
Fior hat keinen Comic für die Souvenirshops ägyptischer Museen geschrieben, sondern eine Auseinandersetzung über Zukunftssorgen, Vergangenheitspflege, Denkmalkultur und Fortschrittlichkeit. Als Teresa Rubens Handy entdeckt, staunt sie: „Vielleicht haben wir bald alle eins. In ein paar Jahren.“ Und wie herrlich optimistisch antwortet darauf Ruben: „Glaub ich nicht … oder kennst du jemand, der so bekloppt ist und immer und überall erreichbar sein will? Echt überall?“ Und während sie so uneins sind über ihre Zukunftsvorstellungen, haben sie Sex.
Entdeckungen überall, in Berlin und im Tal der Könige
avant-Verlag, 2023
Text und Zeichnungen: Manuele Fior
Übersetzung: Myriam Alfano
144 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 29,00 Euro
ISBN: 978-3-96445-093-7
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