Wer zeichnet hier wen? Ein Schüler in den 1990ern, ein Mönch im Mittelalter und eine Comiczeichnerin in der Zukunft irren durch ein vielschichtiges Puzzle in retrofuturistischen Bilderbuchbildern.
Der Schüler Max will in den 1990ern Comiczeichner werden. Sein Vater, ein Dachdecker, drängt ihn, sich eine prominente Serienfigur „wie die Schlümpfe“ auszudenken, aber Max möchte Geschichten über das Mittelalter und die Zukunft erfinden. Mit der Hilfe eines grimmigen Mentors, ein Einsiedler mit Verbindungen zur Trickfilmszene, der aussieht wie John Lennon, entwickelt er die Figur eines mittelalterlichen Kopisten: Raoul.
Im Mittelalter macht der Kopist Raoul nach einem Gespräch mit einem verurteilten Ketzer eine frühe illegale Druckerpresse ausfindig. Mit deren Hilfe entwickelt er unter dem Pseudonym „Yvan Gil“ die neuartigen Abenteuer über „Max und Suzie“ in der Zukunft, über „fliegende Kutschen und fantastische Zeichenkammern“. Raoul bekommt Ärger mit der kirchlichen Zensur.
Um das Jahr 2090 herum erlebt die Zeichnerin Suzie eine Schaffenskrise: Jahrelang hat sie die Figur ihres Vaters Max, ein Selbstportrait als junger Schüler, weitergezeichnet, nun möchte sie sich lieber an einem Comic über das Mittelalter versuchen, aber kommt nicht recht voran. Ihr Vater ist verschwunden. Offensichtlich hat er sich an den Ort seiner Kindheit zurückgezogen, an dem einst eine mittelalterliche Stadt stand.
Die ohnehin brüchigen Grenzen zwischen diesen Geschichten beginnen immer mehr zu verschwimmen: Wer ist in Wahrheit eine Comicfigur und wer gestaltet diese Geschichte?
Alexandre Clérisse hat gemeinsam mit Thierry Smolderen die seltsame und brillante Nicht-Trilogie Das Zeitalter des Atoms / Ein diabolischer Sommer / Ein Jahr ohne Chtulhu gestaltet.
Hier ist er als sein eigener Szenarist unterwegs und will offensichtlich klarstellen, dass er allein erst recht abgefahrenes und kluges Zeug vorlegen kann. Je nun. Wenn die Alben mit Smolderen um das Ausloten psychischer Abgründe kreisten, handeln die Losen Blätter versponnen von der Rolle von Kunst in der Gesellschaft. Max, Raoul und Suzie versuchen, eine passende Rolle in ihrer jeweiligen Welt zu finden. Das führt sie allerdings alle dazu, Comics über die jeweils anderen zu zeichnen.
Dass ein Comiczeichner das Zeichnen von Comics für die entscheidende gesellschaftliche Aufgabe hält, die ein Individuum übernehmen kann, ist naheliegend und ehrenhaft. Ein bisschen mehr Mühe bei der Ausformulierung dieser Antwort hätte sich Clérisse allerdings schon geben können, wenn er der Frage 150 Seiten widmet. Warum sind Comics so wichtig? Clérisse gibt die Antwort nur indirekt: Weil sie unauffällig harmonische Welten darstellen können, beiläufige gesellschaftliche Utopien. Es sind die ansprechenden Zeichnungen einer organischen Zukunft in Suzies Welt, die die mittelalterliche Inquisition stören, so wie die strenge Übersichtlichkeit von Raouls Welt für Suzie subversives Potential besitzt und beide für Max eine Erlösung von der Enge seiner Kinderwelt und von seinen Zukunftssorgen bedeuten.
Und so bleiben nach der wenig befriedigenden doppelten und dreifachen Verschränkung der Geschichte in sich selbst von diesem Comic vor allem die luftigen, leckeren Wimmelbilder von Vergangenheit und Zukunft.
Wie in seinen Arbeiten mit Smolderen orientiert sich Clérisse stilistisch an der Werbegrafik und andererseits an der progressiven Trickfilmanimation um 1960: knallige Farben, eckige Gesichter, schlacksige Gliedmaßen und dezent konstruktivistisch zerlegte Umgebungen. Verwinkelte Häuser, Straßen und Orte, im 16. Jahrhundert und in der Zukunft, klappen sich vor unseren Augen auf wie eine Mischung aus Bauplan, Landkarte und Kaleidoskop. Das sieht alles sehr sauber aus, sehr elegant und ansprechend und atmet ein bisschen Hoffnung auf eine überschaubar aufgeräumte Welt mit lebenswerter Zukunft. Jede Menge kleine, ambitionierte Videospiele mit viel Handlung und wenig Action sehen so ähnlich aus. Die Bilder vom Clérisse sind im Vergleich einerseits virtuoser, andererseits sehr viel deutlicher an Traditionen in Frankreich und Belgien orientiert: Der Stil von Lose Blätter sieht streckenweise aus wie eine Mischung aus einer frühen Orangina-Werbetafel und einem französischen Märchenbuch mit einem leichten Rotstich in seinen typischen Illustrationen.
Auf den zweiten Blick erinnert der Versuch, Buchillustrationen aus dem Mittelalter mit kunstbewusster Cartoon-Ästhetik aus der Nierentischzeit zu verbinden, allerdings deutlich an Disneys Dornröschen von 1959. Dieser letzte Kinofilm, dessen Produktion für Walt Disney noch einmal eine persönliche Herzensangelegenheit und Obsession war (der erste Film seit dem Krieg) war ein schlimmer Flop, der beinahe die Firma ruinierte. Und vielleicht gerade deswegen gilt er unter Animationsfans (wie Max und seinem mürrischen Mentor?) als verkanntes Meisterwerk. Der Versuch des Disneyfilms, in funktionalistisch-modernem Design die (angebliche) geistige Geborgenheit des Mittelalters zu finden und umgekehrt, hat Clérisses Geschichte offensichtlich inspiriert.
Neben Disney und den Beatles zollt Clérisse auch den großen modernen Traumgebern seines eigenen Metiers Respekt: In dem für die Geschichte wichtigen Künstlernamen „Yvan Gil“ versteckt sich ein Tribut an die Köpfe der „Ècole Marcinelle“: Yvan Delporte und Joseph Gillian (Jijé). Anders als bspw. von ebenfalls im Mittelalter angesiedelten, von Delporte mitgeschriebenen Abenteuern von Johan und Pfiffikus fehlt Clérisses anachronistischem Experiment allerdings Biss und Richtung: Zu Recht versucht Clérisse auch das Wissen um Grausamkeit und Folter zu thematisieren. Aber es bleibt bei der Thematisierung ohne größeren Erkenntnisgewinn. Und so bizarr schlüssig zumindest mir die Darstellung von furchtbaren Verbrechen und Phantasien in Clérisses hübschen Zeichnungen unter der Feder von Smolderen immer erschien, als so ungeeignet erweisen sie sich zumindest meiner Ansicht nach zur Darstellung systemischer Gewalt: Ein niedlicher böser Hund beißt einen aus Bunstiftwunden blutenden nackten John Lennon auf einer Streckbank. Zumindest mich lässt das recht ratlos zurück, genau wie die im Grunde gleichwertige Behandlung des Problems, eventuell trotz eines gewaltigen Vermögens mittelfristig wirtschaftliche Einbußen zu erleben (Suzie), und dem Problem, Sohn eines Henkers zu sein und deswegen Menschen foltern zu müssen (Raouls Mitverschwörer Frédéric). Beim forschen Durcheinander aus Fiktion und Realität, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gehen dann doch ein paar Prioritäten und Spannungsbögen verloren.
Was bleibt, sind die Bilder, die alle ihre liebevollen Details erst auf den zweiten, dritten, zehnten Bick offenbaren: Amöbenförmige Glashäuser und pflanzenartige Wolkenkratzer schmiegen sich in futuristische Landschaften voller unmöglicher holzgetäfelter Rundbögen. Im Mittelalter verschmelzen feingliedrige Baumäste, gewundene Flüsse und kreuz und quer das Bild sprengende Brücken und Mauern miteinander. Alles besteht aus einladenden Labyrinthen.
Die erzählerische und emotionale Ausbeute von diesem ambitionierten Experiment bleibt etwas dünn, und die intellektuelle ist nicht der Rede wert, aber wer würde nicht gerne in diesen Bildern leben, zumindest für eine Weile?
Drei Personen und ein Autor suchen eine Geschichte und landen nur bei hübschen Comicbildern voller interessanter, erfundener Städte. Zum Lesen und Nachdenken ein bisschen wenig, zum Durchblättern ein großer Genuss.
Carlsen Comics, 2023
Text und Zeichnungen: Alexandre Clérisse
Übersetzung: Thomas Schöner
142 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-551-76187-3
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