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Nationalfeiertag

Lese ich Nationalfeiertag von Bastien Vivès und Martin Quenehen, beschleicht mich ein nachgerade okkultes Gefühl, dass in der Lektüre mehr steckt, als mit bloßem Auge zu sehen ist. Das liegt vor allem am Künstler Bastien Vivès, der keine Gelegenheit auszulassen scheint, sich als Provokateur darzustellen, während er als professioneller Erzähler in manchen seiner Werke (nicht allen) doch so vernünftig, klug und zugewandt wirken kann. Dabei sind die Abgründe mannigfaltig.

Man hat sich nichts zu sagen. Alle Abbildungen © Schreiber und Leser

Doppelbödig schon das Szenario, das gleichzeitig als Gegenwartsbetrachtung und als Endzeitszenario gelesen werden kann. Es handelt vom jungen Polizisten Jimmy, ein ambitionierter Beamter im ländlichen Raum, kurz vor der Beförderung stehend, ein allen Menschen zugewandter Typ. Ein Kümmerer, wie sich noch herausstellen wird. An allen Ecken und Enden aber brodelt es im französischen Idyll, und die Polizei, stets zwischen den Stühlen, findet keine richtige Handhabe, beispielsweise gegen die Bewohner einer Kommune, die die Regeln nicht mehr respektieren und ungeniert ihr Cannabis anbauen. Ein in der Ecke liegendes Schild mit der Aufschrift „CO2 überall, nirgends Gerechtigkeit“ bestätigt die aufgekratzte Grundstimmung, im Radio wird von Flüchtlingsbooten im Mittelmeer berichtet, und ein Polizeikamerad erzählt ungeniert von einem Bekannten, der Waffen für den Tag X hortet. „Eines Tages fackelt hier alles ab, und ihr seid gewarnt!“ droht ein Mann von der Kiffer-Ranch. „Wart’s ab. Der Tag X wird kommen, und dann solltest du lieber nicht auf die Straße gehen“ sagt an anderer Stelle der Polizist mit Heisenberg-Bart, der mit Jimmy zum Einsatz fährt.

Und dann trifft Jimmy Herrn Louyot, dessen Frau im Jahr zuvor bei einem Terrorangriff ums Leben kam, und dessen Tochter, eine frühreife Minderjährige, wie sie in fast allen Vivès-Comics vorkommt. Als Kümmerer möchte Jimmy sich für die traumatisierte Familie einsetzen und wird tief in eine subtile Geschichte um unversöhnlichen Hass hineingezogen. Der gutmütige Jimmy versucht dabei nach Kräften, für Ausgleich und Mäßigung zu sorgen, und trifft vielleicht gerade durch seinen stoischen Glauben an das Gute im Menschen falsche Entscheidungen. Am Ende ist er wie Travis Bickle in Scorseses Taxi Driver ein Held des Alltags, obwohl er, das wird deutlich, eine Katastrophe nicht wirklich abwendet, sondern nur in der Lage ist, ihr eine neue Drehrichtung zu verleihen.

Creve Batar. Verrecke Bastard.

Wer die jüngste Kontroverse um Bastien Vivès mitverfolgt hat, wird nicht umhin können, Parallelen zwischen Story und Künstler zu ziehen. Eigentlich hätte Vivès die diesjährige Carte-Blanche-Ausstellung in Angoulême gestalten sollen, doch wurde dies erfolgreich durch eine Petition verhindert, da Vivès einige pornografische Arbeiten produziert hat, in denen Jugendpornogafie, Inzest und sexueller Missbrauch eine schwer verdauliche Mischung bieten. Das rückt auch eine zarte Liebesgeschichte wie Eine Schwester, die ja ebenfalls um minderjährigen Sex kreist, in ein neues Licht. Dazu gesellt sich Vivès‘ Verhalten auf Social-Media-Plattformen (mehr dazu hinter den Links im Anhang der Rezension). Verständlich, dass man da von der carte blanche wieder abgerückt ist, da mag auch Vivès‘ nachgereichte Entschuldigung nichts mehr ausrichten. Die Fronten sind längst verhärtet, das Verständnis füreinander minimal.

Fast wie nebenbei wird in Nationalfeiertag auch eine sexuelle Ausschweifung der Tochter Lisa thematisiert – wenn es denn eine ist und nicht doch übler Missbrauch. Sie trifft sich mit zwei Mopedfahrern im Wald und wird nackt und bewusstlos von Jimmy im Wald gefunden. Ein freudloses, schockierendes Szenario. Jimmy sieht es mit Abscheu und bleibt distanziert hilfsbereit, Lisa schweigt sich aus, und für den Leser offenbart sich eine weitere beklemmende Ebene. Anarchie und Zersetzung der Umgangsformen ist längst allerorten angekommen: Was geschieht kann weder benannt noch eingeordnet werden.

Liebe und Sexualität. Nicht das gleiche.

Das Szenario wurde von Vivès in Kooperation mit Martin Quenehen gestaltet, mit dem Vivès schon Schwarzer Ozean gestaltet hat. Die Psychologie der Figuren indes ist ganz auf Vivès zugeschnitten. Kein Zweifel, dass Bastien Vivès hier spannende Kunst abliefert. Den Preis, den er für die Verzahnung zwischen seinem eigenen Künstlerleben, seinen Komplexen, seiner Lust an der Provokation und seiner Schöpfung zu zahlen bereit ist, ist allerdings hoch.

Beklemmend

9von10Nationalfeiertag
Schreiber und Leser, 2023
Text: Bastien Vivès und Martin Quenehen
Zeichnungen: Bastien Vivès
Übersetzung: Resel Rebiersch
254 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 24,80 Euro
ISBN: 978-3965821163
Leseprobe

Tagesspiegel:
Eklat um Zeichner Bastien Vivès in Angoulême : Comicfestival stoppt Ausstellung nach Vorwürfen (tagesspiegel.de)

FAZ:
Bastien Vives: Comicfestival Angouleme sagt Ausstellung ab (faz.net)

Comic.de (mit den wichtigsten Zitaten aus dem FAZ-Artikel, der meist nur hinter Paywall zu finden ist: Was geht? – Comic.de

Euronews: Police launches inquiry for child pornography against French graphic novel writer | Euronews

Bastien Vivès auf Instagram:
Bastien Vives (@bastienvives) • Instagram-Fotos und -Videos

Auch ein Beschäftigung mit dem französischen Wikipedia-Eintrag lohnt. Passagen daraus mit Google-Translator vom französischen ins Deutsche zu übersetzen gibt einen tieferen Einblick als die gefilterten Meldungen: Bastien Vivès — Wikipédia (wikipedia.org)

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