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Eine Schwester

Der 13-jährige Antoine verbringt die Sommerferien mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder in der Bretagne. Die Familie nimmt eine Freundin der Mutter dazu, die gerade eine Fehlgeburt hinter sich hat. Sie kommt mit ihrer 16-jährigen Tochter Hélène. Die offensichtlich gelangweilte Hélène trinkt, raucht, spottet und schäkert und lockt Antonio gnadenlos aus der Reserve und seinem noch recht kindlichen Ferientrott. Nach und nach stolpern die beiden auf erotische Experimente zu, und daraus entwickelt sich … Wasauchimmer.

alle Bilder © Reprodukt

Eine Schwester ist auf den ersten Blick eine kleine, gekonnte Graphic Novel, die wie eine charmante, aber wenig mutige Entsprechung zum gehobenem Art-House-Mainstreamkino über Liebeleien in der Bretagne wirkt. Die schwungvollen, luftigen Zeichnungen sind state-of-the-art und ein klein wenig clean, irgendwo zwischen Modegraphik und Craig Thompson. Die Erzählung setzt auf eine Mischung aus minutiös aufbereiteten zwischenmenschlichen Szenen und Gags in einem gleichzeitig großzügigen und dichtem Layout. Inhaltlich scheint alles auf die in diesem Rahmen übliche wehmütige Feier der Erotik hinauszulaufen, dazu noch als Coming-of-Age-Fabel (was schnell abgegriffen und, bei Betonung der Erotik, unangenehm werden kann). Die Verarbeitung ist wertig, und selbst die deutsche Ausgabe ist ein (wirklich schönes!) Hardcover fürs Regal. Das alles stimmt, und doch ist dieser Comic viel, viel besser. Er traut sich das, was ähnliche Geschichten nur antäuschen: Er erforscht tatsächlich die Natur von … Wasauchimmer.

Nennen wir es doch einfach „Verliebtheit“, auch wenn dieser Begriff mittlerweile bei uns vergleichsweise staatstragend verwendet wird. Gemeint ist ein heftiges und wohlwollendes erotisches Interesse an einer speziellen Person, die als ganze, interessante Person respektiert und begehrt wird, auch wenn der Kontakt vor allem als fiebrige, gierige Sommerlaune gelebt wird, und auch die Splitter bedeutungsvoller Gespräche sind da bei aller Ernsthaftigkeit eher ein wirrer, aufreizender Genuss (aber gemeinsames Puzzeln ist auch noch drin). Die tastende Affäre zwischen Antoine und Hélène ist ziemlich derb, unsentimental und pragmatisch. Und trotzdem oder vielleicht gerade darin kostbarer als Hélènes Flirt mit einem Gleichaltrigen, den sie nur scheinbar aus einer Laune heraus abbricht und das Gegenteil der allgegenwärtigen Pornographie auf den Handys, die Antoine und Hélène in Verlegenheit bringt.

Diese Positionierung der Romanze jenseits des harten Markts von entschlackter Lust, diese programmatische Anti-Pornographie ist vielleicht mit dem etwas unglücklichen Titel gemeint, der auf inzestuöse oder feministische Untertöne zu verweisen scheint, die in der Geschichte eigentlich keine Rolle spielen. Das gemeinsame Eisessen im Bett führt über stolpernde Gespräche zu erotischen Berührungen, und gemeinsames Haarewaschen kann zum sowohl zu Kreischen und Nassspritzen, als auch zu leidenschaftlichen Küssen führen. Ob echte aktuelle Teenager Vivès Positionierung nachvollziehen können, sei dahingestellt, aber dass Vivès ins Hier und Heute geht, anstatt, wie mittlerweile üblich, in ein nostalgisches Disneyland der Jahrzehnte zwischen Plattenspieler und Social Media zu flüchten, ist ihm hoch anzurechnen. Im Rahmen aktueller Graphic Novels gelingt ihm auf jeden Fall das so nur im Comic mögliche Kunststück, die Sinnlichkeit der Geschichte ohne jeden voyeuristischen Blick auf Teenager zu evozieren. Die anfangs noch richtungslos eleganten Zeichnungen zerlegen exakt und mit freundlicher Distanz Annäherungs- und Ausweichversuche in ihre zwischenmenschlichen Details, immer geschmackssicher auf dem schmalen Grad zwischen über unsere jugendlichen Helden hinausweisenden Andeutungen, abstrakteren erotischen Bildern und der unschmierigen Darstellung verwirrter Teenager. Mal finden gesichtslose Körper im Tanz zueinander, mal schält sich ein aufblitzendes nacktes Schulterblatt aus der trägen Welt, und dann bricht ein plötzlicher akribisch beobachteter spröder Gesichtsausdruck aus dem Nebeneinander schemenhafter Gestalten hervor und blickt uns direkt an. Mit schon unheimlicher Präzision macht Vivès endlich alles richtig, was seine unzähligen Vorgänger bei vergleichbaren Comics und vor allem Filmen schmierig in den Sand gesetzt haben. Bei dieser Konzentration auf das zwischenmenschliche Mit- und Nebeneinander kommt die kleine weite Welt vielleicht ein wenig zu kurz, die Häuser, Strandkörbe und nicht zuletzt Meeresbuchten von Vannes sind mit wenigen Strichen atmosphärisch auf den Punkt gebracht.

So unauffällig wirkungsvoll, gleichzeitig offen und diskret kann wohl tatsächlich nur ein Comic das unverhoffte Entdecken neuer Welten schildern, die sich direkt neben, über und unter den langweiligen Sommerferien auftun. Als einziger Kritikpunkt bleiben für diesen Rezensenten eigentlich nur ein paar erzählerische Entscheidungen ausgerechnet am entscheidenden Ende der Geschichte, wenn auf der einen Seite etwas wenig, auf der anderen Seite sehr viel und sehr melodramatisch erzählt wird. Aber vielleicht fällt es naturgemäß schwer … Wasauchimmer zu beenden.

Elegante und stimmungsvolle Coming-of-Age-Story über ein erotisches Erwachen. Auf spröde Art warmherzig und auf kluge Art sinnlich.

Eine Schwester
Reprodukt, 2018
Text und Zeichnungen: Bastien Vivès
Übersetzung: Heike Drescher
216 Seiten, zweifarbig, Hardcover
Preis: 24 Euro
ISBN: 978-3-95640-144-2
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