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Währenddessen… (KW 7)

Christian mag Stummfilme. Deswegen mag er auch die derzeit bei Arte angebotene Doku Von Caligari zu Hitler sehr.

Gustav Gründgens Hand, zu sehen im Film „Von Caligari zu Hitler“, derzeit auf Arte.

Christian: Was weiß das Kino, was wir nicht wissen? Siegfrid Kracauers Buch Von Caligari zu Hitler habe ich schon oft in die Hand genommen und doch nie gekauft. Den Film dazu von 2013 kann man sich jetzt in der Arte Mediathek ansehen. Da war Zögern zwecklos.

Wer nicht nachdenkt, könnte Stummfilme recht vorschnell als alten Kram abtun. Der Erzähler des Films Von Caligari zu Hitler überzeugt uns aber schnell vom Gegenteil. Nur wenige gut gewählte Szenen und wir erkennen sofort das Moderne im jungen deutschen Kino und werden entführt in eine fremde Welt, die gerade den Weltkrieg durchstanden hat und unsicheren Zeiten entgegenblickt. Die Gesichter in den Ausschnitten wirken eigenartig fremd und doch vertraut. Man fragt sich nicht nur deshalb, was in den Köpfen Gesichter vorgeht, weil der Sprecher diese Frage formuliert, man kommt von ganz alleine auf diese Fragestellung: Was mögen diese Menschen gesehen haben? Was mögen ihre Erwartungen, ihre Haltungen gewesen sein?

Wir lernen viel über eine Zeit, in der das Kino von Künstlern wie Fritz Lang, Ernst Lubitsch, F.W. Murnau und Georg W. Pabst, später auch Billie Wilder von einer Jahrmarktattraktion in den Stand einer Kunstform gehoben wurde. Die Spezialeffekte der Zeit sind auch heute noch wirkungsvoll, zudem hatte man damals ein außergewöhnlich gutes Gespür für Montage und Schnitt, überhaupt für die Wirkung von Bildern, all diese Dinge wurden ja damals erfunden und viel damit experimentiert. Man sieht aufregende Bildkompositionen, z.B. aus Murnaus Faust oder Langs Nibelungen-Filme, in denen deutsche Düsterromantik mit einer Unschuld zelebriert wird, die unwiderbringlich verloren ist. Betrachtet man das heute, spaltet sich die Wahrnehmung unweigerlich auf in einen distanzierten Blick, der Nazi-Deutschland mitdenkt und eine empathische Betrachtung mit dem Blick von damals – oder zumindest dem, was man sich darunter vorstellt. Kracauer, ein Zeitgenosse der Stummfilmära, erkannte in den deutschen Stummfilmen der Weimarer Ära eine deutsche Mentalität und eine gesellschaftliche Konstellation, die vielleicht besonders nährstoffreich für den Nationalsozialismus war, ist sich aber auch bewusst, dass man im Rückblick alles als Zeichen deuten kann, was vielleicht doch nur zufällige Schnipsel waren.

Zwei prägende Strömungen gab es in der Weimarer Filmära: Den Expressionismus und die Neue Sachlichkeit. Der Expressionismus hatte die künstlerisch aufgeladenen Bilder, die wahnsinnigen Dekors, die fantastischen Tableaus und die ausladenderen Gesten. Die Dr Mabuse-Filme von Fritz Lang,  F. W. Murnaus Faust und Nosferatu gelten als expressionistisch, auch der frühe Tonfilm M – Eine Stadt sucht einen Mörder, ebenfalls von Lang. Die spätere neue Sachlichkeit dagegen zeigt den modernen Menschen seiner Zeit und ist weit dokumentarischer. Menschen Am Sonntag ist einer der bedeutendsten Filme dieser Ära. In ihm sieht man Laiendarsteller, die ganz alltägliche Dinge tun, in der Stadt und in der Natur. Die Bilder sind so schön, dass sie beim Betrachten weh tun. Man weiß ja, was noch kommen sollte.

Als Comicleser denke ich beim Betrachten der Szenen aus Menschen am Sonntag an Comics wie Ein Sommer am See von Mariko und Jillian Tamaki, an Bastian Vives Eine Schwester und an David Mazzucchellis Asterios Polyp. Wie nah sich die Ansätze der modernen Graphic Novels und der Filme von damals doch sind. Sehe ich dann Szenen aus Weimarer Actionfilmen, fühle ich mich schnell an die flotte Darstellung der frühen Tintin-Comics erinnert und bei Die drei von der Tankstelle, einer der letzten Weimarer Filme, habe ich sofort die lustigen Figuren der frühen Spirou-Comics vor Augen. Gar nicht so sehr etwas Deutsches – ein Glück.

Diese expressionistischen und sachlichen Filme haben Bilder, auch Stimmungsbilder, geschaffen, die bis heute nachwirken und aus gutem Grund immer wieder als prägende Referenzen aufgegriffen werden. Wer sehen möchte, wo so viele tolle Motive und Ideen ihren Ursprung hatten, sollte sich Von Caligari zu Hitler unbedingt ansehen. Meine Watchlist ist seitdem um nicht wenige Stummfilme angewachsen.

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