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Avengers: Twilight – Schattenkrieger

Eine Welt ohne Selfies und Social Media? Was für viele nach dem Paradies auf Erden klingen mag, präsentiert Chip Zdarsky in seiner Miniserie Avengers: Twilight (2024) als dystopische Zukunftsvision, in der die freie Meinungsäußerung radikal beschnitten wird. Die Serie ist jetzt gesammelt bei Panini erschienen und definitiv einen Blick wert.

Cover der deutschen Ausgabe © Panini

„Sind Sie Captain America? Also, der echte?”, fragt eine Passantin den alten Mann, der die Straße entlangkommt. „Ja, Ma’am.“ – „Oh, wow. Könnte ich –?“ – „Ein Selfie?“ – „Ich… Natürlich nicht. Ich würde nie –“

An der Reaktion der Frau merkt man gleich: So etwas würde sie nie wagen. Als Leserin und Leser fragt man sich sofort, wie man dahin gelangt ist. In welcher Welt kann man kein Foto mit Captain America machen? Noch dazu, da es sich um jenen Helden handelt, der die Ideale der USA verkörpert wie kaum ein anderer?

Ein Selfie? Niemals! (Zeichnungen: Daniel Acuña, © Marvel)

Den Blick, den Autor Chip Zdarsky und Zeichner Daniel Acuña in die Zukunft des Marvel-Universums werfen, wirkt zunächst alles andere als düster. Acuña taucht sie in bunte Farben, die Menschen tragen Insignien ihrer Lieblingshelden, während Hologramme und Projektionen von den Erfolgen eines neuen Avengers-Teams im Ausland das Straßenbild prägen. Und dennoch scheint etwas nicht zu stimmen. Ein alternder Steve Rogers quält sich zu Beginn aus dem Bett, im Hintergrund sehen wir ein Wahlplakat, dem wir seine Kandidatur als Senator entnehmen – eine Wahl, die er offensichtlich nicht gewonnen hat. Die Welt, in der Captain America keine Vorbildwirkung mehr hat, kann nur beim Teufel sein, oder?

Sukzessive enthüllt Zdarsky, wie es um seine Zukunftsvision bestellt ist. Cap trifft sich mit Luke Cage, dessen unzerstörbare Haut ihn durch den Alterungsprozess in ein verrunzeltes Männlein verwandelt hat, sowie Matt Murdock, dem Alter Ego Daredevils, im Central Park. Ein Blick in das grimmige Gesicht des blinden Anwalts – Alcuñas Rendering dieses Gesichtsausdrucks sagt mehr als tausend Worte – unterstreicht den Ernst der Lage: Ausgangssperren, Totalüberwachung mittels fliegender Kameraaugen und ein so genanntes „Watcher-Gesetz“, das alle, die ein altes Fotohandy besitzen (und damit der Überwachung entgehen), zu Verbrechern macht. Nun versteht man den Schreck der Frau zu Beginn.

Ein grimmiger Matt Murdock kämpft als Anwalt nach wie vor den guten Kampf. (Zeichnungen: Acuña, © Marvel)

Wie konnte es so weit kommen? Die alten Avengers sind verschwunden, stattdessen hat James Stark das Ruder übernommen. Der Sohn von Tony Stark (dem ursprünglichen Iron Man) und Janet van Dyne (der Superheldin Wasp) leitet nun Stark Industries und ist mit seiner Technologie wesentlich für den Erfolg des neuen Avengers Teams verantwortlich. Im Hintergrund scheint jedoch der mysteriöse Kyle Jarvis (welcher sich als Bruder des ehemaligen Avengers-Mansion-Butlers ausgibt) die Strippen zu ziehen. Als Steve von einer Fernseh-Doku erfährt, welche die Gräueltaten seines alten Erzfeinds – dem Naziverbrecher Red Skull – zu relativieren versucht, reicht es ihm. Er stellt sich gegen James‘ Medienmonopol und streift sich wieder sein Kostüm über, um dem totalitären Überwachungsregime Paroli zu bieten.

Der Kampf wird jedoch nicht nur mit Fäusten ausgetragen. In einer Fernsehdiskussion hat Steve gegen James Stark das Nachsehen, der mit populistischer Rhetorik gegen jene Generation von Helden wettert, zu der auch Captain America gehört. Der Grund dafür: Am so genannten „H-Day“ wurde durch den Amok laufenden Hulk eine Katastrophe ausgelöst, was vielen Superhelden das Leben kostete. In kurzen Rückblenden fangen Zdarsky und Alcuña ein paar dieser Sterbeszenen ein – wobei jene Spider-Mans auf tragische Weise hervorsticht. Auch in seinen letzten Atemzügen bittet er Steve, seine geheime Identität zu schützen und sich um seine Tante May zu kümmern. Der H-Day hat dazu geführt, dass die Avengers in Ungnade fielen und sich das quasi totalitäre Regime unter James Stark etablieren konnte. Steves Beteuerungen, dass der Hulk von der künstlichen Intelligenz Ultron manipuliert wurde, fällt auf taube Ohren. Steve muss lernen, wie schwierig es ist, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu ziehen.

Spider-Mans Sterbeszene am H-Day (Zeichnungen: Acuña, © Marvel)

Was Zdarskys Zukunftsvision so erschreckend macht, ist weniger, dass die Menschen unterdrückt werden, sondern, dass sie es gar nicht merken. Niemand interessiert sich für die Wahrheit, alle geben sich mit vorgefassten Meinungen zufrieden. Der Umstand, dass Zdarsky zusammen mit seinem Herausgeber Tom Brevoort die Story zu Avengers: Twilight bereits vor der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden, allgemein grassierenden Infragestellung von fundierten Tatsachen konzipiert hatte, muss für ein paar unheimliche Déjà-vus gesorgt haben. Normalerweise mögen es Autoren nicht, wenn sich Herausgeber zu sehr in ihre Geschichten einmischen, wie Zdarsky aber in einem Interview betont, verhielt es sich im Falle von Avengers: Twilight genau umgekehrt: Brevoort trat an ihn heran, lieferte ihm bereits alle möglichen Ideen und gewährte Zdarsky völlig freie Hand, welche davon er umsetzen wolle. Die Handlung ist klar von anderen düsteren Zukunftsvisionen der Comicliteratur geprägt. So erinnert Captain Americas Dasein als verbitterter alter Mann deutlich an Frank Millers Batman-Porträt in The Dark Knight Returns (1986). Die postapokalyptische Welt nach einem traumatischen Superheldenmassaker weckt wiederum Assoziationen zu Mark Millars Wolverine: Old Man Logan (2008-2009). Die Tatsache, dass ausgerechnet Alex Ross für die Covers von Avengers: Twilight engagiert wurde, ist eine eindeutige Verbeugung vor Mark Waids Elseworlds-Story Kingdom Come (1996), für die Ross das gesamte Artwork beisteuerte und welche ebenfalls von alternden Superhelden erzählt. Und so weiter.

Die Covers von Alex Ross weisen auf Kingdom Come als eine von Zdarskys wichtigsten Inspirationsquellen hin. (Covers zu Avengers: Twilight #3 und #4, © Marvel)

Zdarsky bewegt sich trotz der großen Vorbilder leichtfüßig von einem Panel zum nächsten. Wie gut der Autor die Geschichte des Marvel-Universums in einer alternativen Realität weitererzählen kann, hat er bereits in Spider-Man: Life Story (2019) bewiesen. Diesmal ist es nicht Peter Parker, sondern Steve Rogers, dessen Essenz Zdarsky in eine gerade einmal sechsteilige Serie packt. Denn auch wenn die Avengers offiziell im Titel stehen, im Kern bleibt Avengers: Twilight eine Captain-America-Story. Es ist die Geschichte eines in den 40ern eingefrorenen Soldaten, der einmal mehr in einer ihm unvertrauten Welt für Gerechtigkeit kämpfen muss. Anderer Helden, die vom Kern dieser Geschichte ablenken könnten, entledigt sich Zdarsky nonchalant (und, wie im Falle Daredevils, off-panel). Dafür gibt es ein Wiedersehen mit Kamala Khan, die als erwachsene Frau mit Kindern zunächst kein Risiko eingehen will, sich dann aber doch auf Caps Seite schlägt. Und auch Thor darf als buchstäblicher Deus ex machina vorbeischauen.

Das Schöne an alternativen Zukunftsentwürfen bleibt, dass man als Autor abseits der Hauptkontinuität über das Schicksal seiner Figuren selbst entscheiden kann. So wissen wir bis zum Schluss nicht, wie es um die Welt von Captain America bestellt sein wird. Eines sei aber jetzt bereits verraten: Ein Selfie sollte drin sein.

Captain America will’s noch einmal wissen.

9von10Avengers – Twilight – Schattenkrieger
Panini, 2024
Text: Chip Zdarsky, Zeichnungen: Daniel Acuña
Übersetzung: Bernd Kronsbein
200 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-7416-3896-1

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