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Spider-Man: Die Geschichte eines Lebens

Mit Spider-Man – Die Geschichte eines Lebens legten Chip Zdarsky und Mark Bagley 2019 eines der besten Spider-Man-Comics der letzten Jahre vor. Nun ist die Serie in einer schönen „Deluxe Edition“ bei Panini erschienen, die keine Wünsche offen lässt.

Cover der deutschen Deluxe Edition © Panini

Schon das Konzept ist interessant: Was, wenn alteingesessene Superhelden im Marvel-Universum nicht in einem Zustand zeitloser Jugend ein Abenteuer nach dem anderen bestreiten, sondern über die Jahre einfach älter werden? Im Falle von Spider-Man drängt sich diese Idee allein schon deswegen auf, da sich der Spinnenmann seit 1962 über die Hochhäuser New Yorks schwingt, und es ab irgendeinem Punkt wenig glaubwürdig erscheint, dass sein menschliches Alter Ego Peter Parker immer noch zur High-School geht.

Die Cover von Spider-Man: Life Story #1 und Spider-Man: Blue von Jeph Loeb und Tim Sale © Marvel

Die Herausforderung, der man sich als Autor bei so einem Konzept stellen muss, ist, wie man die starke Charakterentwicklung, die das Altern vor dem Hintergrund eines bewegten Zeitgeschehens mit sich bringt, in die Geschichte einbeziehen und dabei trotzdem der Figur treu bleiben kann, mit der Generationen von Leserinnen und Lesern vertraut sind. Autor Chip Zdarsky ist das auf meisterhafte Weise gelungen, nicht zuletzt deswegen, weil er mit Mark Bagley einen Veteranen in Sachen Spider-Man-Illustrationen mit an Bord hat. Die Zeichnungen wecken sofort Erinnerungen an die epochemachende Ultimate-Spider-Man-Reihe, die Bagley unter der Federführung von Brian Michael Bendis von 2000–07 gestaltet hat (danach wurde er von Stuart Immonen abgelöst), und die bis heute eine der am längsten anhaltenden Kooperationen zwischen Autor und Zeichner an einer Serie darstellt. Schon beim Durchblättern sorgt Bagleys markante Ästhetik dafür, dass sich Spider-Man-Fans sofort zuhause fühlen, einzig die einfarbig gestalteten Covers von Zdarsky ließen die Serie rein optisch bereits im Comicshop-Regal deutlich hervorstechen. Alle Covers, inklusive Variants, sind auch am Ende des Panini-Bandes abgedruckt. Life Story sollte distinkt aussehen, vergleichbar vielleicht mit Tim Sales puristischen Covern für Spider-Man: Blue (2002–03), die sich damals ebenfalls vom Gros der Spider-Man-Comics abheben wollten.

„We can’t do this job forever“ – Daredevil #5 (2019). Zeichnungen von Marco Checchetto. © Marvel

Bereits die Coverästhetik verrät also die Intention, neue Wege zu gehen. Gleichzeitig war die Gefahr, dass Zdarsky Verrat an einer klassischen Comicfigur begehen könnte, von Anfang an gering. Schon die Auftritte Spider-Mans in Zdarskys phänomenalem Daredevil-Run (einen Titel, den er seit Februar 2019 innehat) betonten nicht nur die von Freundschaft und gegenseitigem Respekt geprägte Beziehung der beiden Helden, sondern auch, dass Zdarsky verstanden hat, worauf es bei der Figur ankommt. „We can’t do this job forever“, sagt Spider-Man zu Daredevil in einer Schlüsselszene (Daredevil #5, 2019). Er weiß, was es heißt, wenn persönliche Konflikte dem eigenen Heldendasein im Wege stehen. Sobald man merkt, dass es nicht mehr geht, heißt es aufzuhören – das ist der Ratschlag, den er Daredevil mit auf den Weg gibt. Die Szene deutet bereits den zentralen Konflikt an, der dann auch in Life Story eine Rolle spielt: Wie lange kann man der eigenen Berufung folgen, ohne dass sie auf Kosten des Privatlebens geht? Peter Parker war immer eine Figur, die – auch aufgrund ihrer Jugend und Unerfahrenheit – versucht hat, alles unter einen Hut zu bringen: die Arbeit als Fotograf beim „Daily Bugle“, den Kampf gegen Superschurken, die Wahrung der Geheimidentität als Spider-Man, den Stress in Schule und College, die Beziehung zu seiner Freundin Gwen Stacy etc. Die spannende Frage, die alternative Realitätsentwürfe wie Life Story auszuloten vermögen, ist, was mit so einer Figur passiert, wenn sie „erwachsen“ wird: Wie lange schafft es Peter, an mehreren Fronten gleichzeitig zu kämpfen, bzw. ab welchem Punkt muss er Prioritäten setzen?

Life Story ist dabei so aufgebaut, dass jeder Dekade eine Einzelausgabe gewidmet wird, beginnend mit den 60er Jahren (die Dekade, in der das erste Spider-Man-Heft herauskam) und endend in den 2010ern. Die Kunst Zdarskys besteht darin, dass er nicht nur reales Zeitgeschehen in seine Handlung integriert (Vietnamkrieg, 9/11 etc.), sondern auch wichtige Ereignisse aus Spider-Mans mittlerweile 60-jähriger Vergangenheit miteinzubeziehen. Die 60er und 70er Jahre sind etwa geprägt von der amerikanischen Intervention in Vietnam, welche die Superhelden-Community mit einem ethischen Dilemma konfrontiert: Auf der einen Seite würde die Unterstützung des Militärs durch Menschen mit Superkräften dazu führen, den Krieg schneller zu beenden, auf der anderen Seite stellt sich aber die Frage, ob der Krieg als solches gerechtfertigt ist. Während Iron Man aktiv auf amerikanischer Seite mitkämpft, hat etwa Captain America seine Zweifel: „Das Licht ging am Ende eines Krieges aus … und im nächsten wieder an. Und der ist ganz anders. Ich weiß nicht … ob dieser richtig ist.“ (S. 29)

Spider-Man: Geschichte eines Lebens, Seite 29. © Panini

Im ideologischen Konflikt zwischen denjenigen Helden, die sich freiwillig in den Dienst des Staates stellen, und solchen, die sich dagegen wehren, erkennt die Leserschaft natürlich sofort den Konflikt um den so genannten „Superhuman Registration Act“, der in den 2000ern das Marvel-Universum spaltete. In Mark Millars CivilWar-Event (2006–07) wurden Superhelden gezwungen, sich zu registrieren und dadurch ihre Geheimidentität preiszugeben. Iron Man, der die gesetzliche Regulierung der Superhelden-Aktivitäten vorantreibt, und Captain America, der an den individuellen Gerechtigkeitssinn appelliert, um dem Staat gegebenenfalls entgegentreten zu können, standen sich damals als erbitterte Kontrahenten gegenüber. In Zdarskys Version bricht dieser Konflikt bereits in den 60ern anhand des Vietnamkriegs auf, und Spider-Man gerät zwischen die Fronten. Er bleibt zwar in New York, muss aber entsetzt feststellen, dass sein ehemaliger High-School-Bully Flash Thompson, der sich freiwillig zur Armee meldet, sich ausgerechnet Spider-Man zum Vorbild nimmt: „Ich tu es, weil … Spidey es tun würde.“ (S. 18) Spätestens als Flash in Vietnam zu Tode kommt, muss auch Peter die Sinnlosigkeit dieses Krieges akzeptieren, und schlägt sich auf Captain Americas Seite.

Spider-Man – Geschichte eines Lebens, Seite 67 © Panini (links) … und das Vorbild aus The Amazing Spider-Man #121 (1973), Zeichnungen: Gil Kane. © Marvel (rechts)

Die Civil-War-Storyline ist nur ein Beispiel dafür, wie geschickt Zdarsky traditionelle Marvel-Events in seine Geschichte einzubauen bzw. umzudeuten weiß. Spider-Man-Fans werden über die Jahrzehnte umspannende Handlung von Life Story unter anderem Elemente von Secret Wars (1984–85), der Clone-Saga (1994–96) und J. M. DeMatteis’ toller Storyline Kraven’s Last Hunt (1987) entdecken. Auch die Art und Weise, wie mit dem vielleicht schlimmsten Ereignis in Peters Biographie – dem Tod von Gwen Stacy – umgegangen wird, verdient Hochachtung. Am Ende der 70er Ausgabe von Life Story zollt Bagley der letzten Seite von The Amazing Spider-Man #121 (1973) visuell Tribut, in der Peters stille Verzweiflung über Gwens Tod sowie Mary Janes Unterstützung und Mitgefühl zum Ausdruck kommen (S. 67). Das Besondere an Life Story ist, dass auch nach dermaßen erschütternden Ereignissen gezeigt wird, wie das Leben weiter geht. Peter und Mary Jane bekommen Kinder, trennen sich, kommen wieder zusammen. Peter muss auf die harte Tour lernen, dass sein Superheldendasein bzw. die Leitung seiner eigenen Firma „Parker Industries“ nur schwer mit einem gelungenen Familienleben vereinbar ist. Im letzten Ausläufer des Civil-War-Konflikts (in der 2010er Ausgabe) ist Peter ein alter Mann: Er fliegt ins All um in einer Konfrontation mit dem Superschurken Doc Ock ein letztes Mal zu beweisen, woraus Helden gemacht sind.

Zum Schluss sei noch auf die Vorzüge der „Deluxe Edition“ aufmerksam gemacht: Das Buch ist schön gebunden und besticht durch exzellente Druck- und Papierqualität. Neben der Hauptserie ist außerdem das zwei Jahre später erschienene Spider-Man: Life Story Annual (2021) abgedruckt. Dieses beantwortet nicht nur ein paar bis dahin ungelöste Fragen (z. B. was mit Gwen Stacys Klon passiert), sondern liefert auch ein überzeugendes Psychogramm von Zeitungschef J. Jonah Jameson, dessen obsessiver Hass auf Spider-Man dabei durchleuchtet wird. Das versöhnliche Ende ist rührend und setzt einen würdigen Schlusspunkt unter die bewegte Lebensgeschichte eines Superhelden.

Spider-Mans Lebensgeschichte in Echtzeit

10von10Spider-Man: Die Geschichte eines Lebens
Panini, 2022
Text: Chip Zdarsky, Zeichnungen: Mark Bagley
Übersetzung: Michael Strittmatter
244 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 35,00 Euro
ISBN: 978-3-7416-2844-3
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