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Windows on the World (US)

2021 ist das Nine-Eleven-Jubiläumsjahr, in dem man sicher auch einige Filme, Romane und Comics erwarten kann, die den Terrorakt von 2001 beschreiben. Windows on the World von Robert Mailer Anderson, Zack Anderson und Jon Sack hat eine erfrischende Perspektive gefunden.

Alle Abbildungen © Fantagraphics

Die Twin Towers von Manhattan waren ein Symbol des amerikanischen Finanzkapitalismus, Chiffre für Manhattan, westlichen Wohlstand und überhaupt für viel zu viel. Als sie 2001 von zwei Passagierflugzeugen zum Einsturz gebracht wurden, wurden sie zum Symbol von Heldentum und grenzenlosen Opfern. Narrative Inszenierungen des historischen Ereignisses kommen kaum umhin, sich entsprechender Muster zu bedienen. Die beiden Anderson-Cousins erzählen von Nine Eleven, ohne auf Helden oder Opfer zurückgreifen zu müssen. Eine Tragödie gibt es dennoch.

Auf dem Cover sehen wir den jungen Fernando, der aus seiner mexikanischen Heimat aufgebrochen ist, um seinen nach Nine-Eleven verschollenen Vater Balthazar in New York zu finden. Dieser hatte im World Trade Center gearbeitet, als die Flugzeuge in die beiden Türme stürzten. Auf seiner Suche begegnet er New Yorker*innen, die ihn mit offenen Armen empfangen, und solchen, die ihre Türen verschlossen halten. Die Türkette auf dem Cover ist ein Symbol für den Mexikaner, der ‚draußen vor der Tür‘ bleiben muss, zugleich erscheinen Tür und Rahmen wie die Twin Towers, in deren Schatten sich die Familientragödie abspielt. Fernando wird von den Einheimischen beschimpft und ausgegrenzt. Und wirklich bewegend wird es, wenn die Figuren ihren Rassismus selbst bemerken.

Anstelle einer heroischen Erzählung von Gut und Böse, anstelle einer Katastrophenerzählung über den Überlebenswillen einzelner, erzählt Anderson eine spannende Road Novel. Nine-Eleven bleibt in Windows on the World aber keine bloße Kulisse, weil die Andersons das Ereignis als Brennglas gesellschaftlicher Radikalisierung, als Katalysator von ideologischer Polarisierung inszenieren. Unter dem psychischen Druck, den die Katastrophe bei den Überlebenden und den Beobachter*innen (also allen) auslösen, geraten bislang subkutane Vorurteile zu offen ausgetragenen Feindseligkeiten. Der Twist, den die Story bereithält, ist überraschend und gibt der Handlung eine weitere interessante Wendung.

Zahlreiche Comickünstler*innen reagieren auf das historische Ereignis und verarbeiten den kollektiven Schock in visuellen Erzählungen wie etwa In the Shadows of No Towers von Art Spiegelman (2002-04), die Comic-Dokumentation The 9/11 Report von Sid Jacobsen und Ernie Colón (2006) oder die Comics der Big Two: DC veröffentlichte zwei Sammelbände unter dem Titel 9-11 September 2001 mit kurzen Beiträgen u.a. von Kurt Busiek, Darwyn Cooke, Jeph Loeb, Mike Carey, Ed Brubaker, Brian Azzarello, Brian K. Vaughan und anderen bekannten Autor*innen und Zeichner*innen (2002). Marvel veröffentlichte im Februar 2002 A Moment of Silence mit Comics u.a. von John Romita jr., Brian Michael Bendis und Kevin Smith. Und mit einer Einführung des damaligen New Yorker Bürgermeisters Rudolph Giuliani.

Windows on the World hat genügend Abstand zu dem Ereignis, um sich vom Pathos der unmittelbar danach produzierten Comics absetzen zu können. Das gilt gleichermaßen für die Story als auch für die zurückhaltende Schwarz-Weiß-Ästhetik von Jon Sacks, dessen Comic La Lucha bereits von der mexikanischen Grenze handelte. Sack verzichtet darauf, die ikonischen Bilder von Nine-Eleven immer wieder aufs Neue zu reproduzieren, auch wenn er nicht ganz darauf verzichten kann. In den Fokus stellt er die Erlebnisse Fernandos und Balthazars, und, soviel darf man vorwegnehmen, die Tragödie ist keine nationale, sondern eine familiäre.

Übrigens: Mit dem gleichnamigen Roman von Frédéric Beigbeder von 2003 hat der Comic nichts zu tun: „Windows on the World“ war der Name des Restaurants im 106. und 107. Stockwerk des Nordturms. Der Comic basiert auf einem amerikanischen Spielfilm von Regisseur Michael D. Olmos, der auf dem Sedona Film Festival im März 2019 seine Premiere feierte. Die Anderson-Cousins schrieben das Drehbuch.

Der Comic stellt Fremdenfeindlichkeit ins Zentrum seiner Erzählung, Fernando wird für einen Moslem, für einen Puerto-Ricaner, also: für irgendeinen Fremden gehalten. Den Andersons und dem Zeichner Jon Sacks ist ein wunderschöner Comic gelungen, der Rassismus als amerikanisches Urthema anprangert, indem er es mit der amerikanischen Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts engführt.

Eine überraschende Perspektive auf Nine-Eleven

8von10Windows on the World
Fantagraphics, 2020, englisch
Text: Robert Mailer Anderson und Zack Anderson
Zeichnungen: Jon Sack
240 Seiten, schwarzweiß, Hardcover
Preis: 24,99 USD
ISBN: 9781683963226
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