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Infidel

Reinheit ist der Stoff, aus dem Rassismus gemacht ist. Darum geht es in dem Horrorcomic Infidel von Pornsak Pichetshote und Aaron Campbell.

Alle Abbildungen © Splitter Verlag

Protagonist ist ein Mehrfamilien-Miets- und Eckhaus in einer amerikanischen Großstadt. Seitdem vor drei Monaten die selbstgebastelte Bombe eines islamistischen Attentäters dort hochging, blieb dort nur wohnen, wer sich den Umzug nicht leisten konnte oder wem alles schnurzegal ist. Im obersten Stock wohnen Aisha und Tom mit seiner Tochter Kris bei dessen Mutter Leslie, direkt neben der von der Polizei versiegelten Tür des irregeführten Bombenbastlers.

Die Patchworkfamilie leidet unter der Wohnsituation, denn Leslie begegnet der Muslima Aisha ebenso mit Vorbehalten wie allen Menschen mit dunklerer Hautfarbe, denen sie im Alltag begegnet. Anschluss findet Aisha bei der Architekturstudentin Medina, die neu im Haus ist, in Aishas Leben aber eine lange Geschichte hat.

Tom beobachtet den latenten Rassismus seiner Mutter, wohingegen Aisha über die kleinen Gesten noch hinwegsehen kann. Nicht übersehen kann sie aber, was außer ihr niemand zu sehen vermag: grässliche Gesichter und bedrohliche Geister.

Angst ist der Nährstoff der feindlichen Geisterwelt und, by the way, auch derjenige der Fremdenfeindlichkeit. Das „Andere“, das „da draußen“ lauert und uns in Angst und Schrecken versetzt, ist eine beliebte Zutat für Storys, die Fremdenfeindlichkeit entweder transportieren (wie etwa der Horror-Film-Klassiker White Zombie von 1932) oder kommentieren. Infidel gehört zu Letzterem.

Füsslis Nachtmahr lässt grüßen.

Horrorgeschichten lassen sich oft als soziale Kommentare lesen, weil sie gesellschaftliche Ängste in fiktionale Bilder und Handlungsverläufe transformieren. Infidel ist ganz offenkundig eine Erzählung über Rassismus und Vorurteile, und zwar von verschiedenen Seiten. Aisha begegnet rassistischen oder fundamentalistischen Positionen in der eigenen Familie, insbesondere bei ihrer orthodoxen Mutter, aber auch in Toms Familie wie in der Nachbarschaft. Einen Ursprung dessen zu finden, ist ebenso schwierig wie die Ursache für die Geister zu ergründen. Ob das Leid die Geister heraufbeschwört oder die Geister das Leid … Wer, mag man mit Freud fragen, ist eigentlich Herr in diesem Haus?

Aisha wird von ihrer Mutter als unrein („infidel“) bezeichnet, weil sie sich zu westlich ausrichtet, Toms Mutter wiederum nimmt sie vor allem als (bedrohliche) Muslima wahr, zumindest nehmen wir dies anhand von Toms Äußerungen an. Der Druck, der durch die verschiedenen und gegenläufigen Rollenerwartungen an Aisha entsteht, entlädt sich in den Geistern, die ihr begegnen wie Johann Hinrich Füsslis „Nachtmahr“ (1781). Aber nicht nur gegenüber ihr machen sich die Geister bemerkbar, und das ist nicht überraschend, denn Ressentiments gibt es allerorts in ihrem Freundeskreis. Und dass die Welt nicht schwarzweiß ist, machen die ebenso düsteren wie grellen Farben des Comics ebenso deutlich wie die komplexen Figuren.

Aisha und Medina sind nämlich nicht nur Opfer, sie haben sich vielleicht auch schuldig gemacht. Aisha etwa, als sie im Kampf gegen Gespenster ihre Schwiegermutter die Treppe hinabwirft. Wer auch immer das „First Blood“ vergossen hat, nun ist das Grauen im Haus und geht nicht mehr raus.

Am Ende konkurrieren zwei Perspektiven miteinander: Ein versöhnliches Gespräch zwischen Aisha und Kris präsentiert eine optimistische Sicht, während der Anblick von Arbeitern, die im Keller des Hauses auf grauenhafte Fratzen stoßen, den ganzen Horror wieder heraufbeschwören. Es ist passend, dass die positive Story in hellen Farben gezeichnet ist und wir Kris mit Buntstiften sehen. Denn die Farben (die Kolorierung stammt von José Villarrubia) tragen erheblich zum Horror bei.

Meist empfinde ich das Bonusmaterial im Anhang vieler Comics als wenig bereicherndes Füllmaterial, das die Regalmeter in der Wohnung stärker belastet als mein Leserherz höherschlagen lässt: hier eine Skizze, da eine Zeichnung ohne Kolorierung. Ein paar Cover, Figurenskizzen. Gähn.

In diesem Fall ist der Anhang hingegen spannender geraten: Das Nachwort von Jeff Lemire enthält zwar weitestgehend nur die branchenübliche Lobeshymne auf das veröffentlichte Werk, aber auch ein paar Gedanken über Horror und Politik im Comic. So ist Lemire überzeugt, dass Horror es im Comic schwerer habe als im Film, weil der Ton so eine wichtige Bedeutung hat – wer daran zweifelt, sollte die Netflix-Serie Dark (2017-20) einmal mit und einmal ohne Ton sehen. Ein wenig Koketterie ist natürlich auch bei Lemires Zweifel am Potential von Horrorcomics dabei, denn er selbst schreibt schließlich an der Horror-Story Gideon Falls gemeinsam mit Andrea Sorrentino. Und dass diese recht erfolgreich ist, wird auch ihm nicht entgangen sein.

Auf Lemires Nachwort folgt eine Cover-Galerie mit Zeichnungen von arrivierten Comiczeichnern wie auch von Studierenden des Kurses „Fantasy Art“ des Maryland Institute College of Art. Ganz nett, aber klassische Seitenfüllmasse. Die Covergestaltung wird auch in einem gekürzten Gespräch der Künstler mit „The Comics Beat“ diskutiert, der online in ganzer Länge hier einzusehen ist.

Interessanter noch ist der Pitch, den Pichetshote und Campbell bei Image Comics eingereicht hatten, um für ihr Projekt einen Verlagspartner zu finden. Vom Anschreiben über die Figurencharakterisierungen bis hin zu (gähn) einer Zusammenfassung enthält der Anhang das Konzept, von dem Image Comics sich überzeugen ließ. Und der Erfolg gibt allen Beteiligten recht, denn nicht nur die Kritik ist ausgesprochen begeistert, sondern auch TriStar Productions, die Infidel auf die Leinwand bringen werden.

Wer ist Herr in diesem Haus?

8von10

Infidel
Splitter, 2020
Text: Pornsak Pichetshote
Zeichnungen: Aaron Campbell
Übersetzung: Katrin Aust
168 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 24,00 Euro
ISBN: 978-3962194932

Leseprobe:

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