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Unico erwacht

Wie gelingt es den Menschen eigentlich immer aufs Neue, etwas Schönes zu erschaffen? Es kommt davon, dass die Göttin Psyche ein Einhorn zum Freund hat – diese Freundschaft inspiriert die Menschen. Da ist es nur verständlich, dass Venus, die eigentliche Göttin der Liebe und Schönheit, vor Wut und Eifersucht nur so schäumt: sie will das Einhorn, das so arglos in ihrem Revier des Schönen wildert, für immer aus dem Pantheon vertreiben und beauftragt den Westwind, Unico ans Ende der Zeit zu verschleppen. So beginnen Unicos Abenteuer.

Psyche und ihr Einhorn. Alle Abbildungen © Loewe-Graphix

Ausgedacht wurde Unico von Osamu Tezuka, dem „Gott des Manga“, bereits 1976; die Reihe war von vorneherein als internationaler Erfolg konzipiert und – für einen Manga ungewöhnlich – in Farbe und in westlicher Leserichtung verfasst. Tezukas sehr ursprüngliche Fassung ist von nahezu grenzenloser Poesie und in einem temporeichen und dabei klaren Erzählstil gestaltet, der sofort an eine japanische Aneignung des Disney-Stils aus der Ära der Silly Symphonies und Bambi erinnern lässt (Tezuka galt nicht ohne Grund als „Walt Disney Japans“). Dabei switcht Tezuka virtuos zwischen lustigem Klamauk und Poesie, kann aber jederzeit auch einen bitter-düsteren Ton anschlagen, wie man es aus Tezukas „erwachseneren“ Comics wie Die Geschichte der drei Adolfs oder Ode to Kirihito kennt. Es ist – ganz kurz gefasst – virtuos.

Unico erwacht ist nun der modernisierte Relaunch des Stoffs durch Autor Samuel Sattin (u. a. bekannt für die Comicadaptionen Wolfwalkers und Die Melodie des Meeres) und Gurihiru, einem japanischen Illustrator*innen-Duo, das unter anderem auch das wunderbare Superman Smashes the Klan gestaltet hat. Anders als Tezuka, dessen Stil sich an alten Disney-Klassikern anlehnt, orientiert sich das modernisierte Unico am klassischen Anime-Stil mit großen Mündern und weit aufgerissenen Augen, ein Look, der dem süßen Einhorn steht, als wäre es nie anders gewesen.

Unico von 1976. © Digital Manga, USA

Unico erwacht ist keine Fortsetzung des Tezuka-Stoffs, sondern ein Relaunch, eine Neuerzählung, gleichzeitig eine Variation mit zeitgemäßen Motiven. Während Tezuka noch sehr in abgeschlossenen Erzähleinheiten erzählte, entwerfen Sattin und Gurihiro eine etwas komplexere Storyline mit mehr Charakterentwicklung und einem übergeordneten Plot, der sich unter anderem nun auch mit dem Dilemma des Westwinds beschäftigt, der der Göttin Venus dienen muss, gleichzeitig aber große Zuneigung gegenüber dem Einhorn hegt. Daraus entsteht eine ganz andere Spannung.

Das erste Abenteuer erzählt im Großen und Ganzen Tezukas dritte Unico-Geschichte nach, in der Unico in höchster Not Hilfe von dem Kätzchen Chloe erhält, das mit unerschütterbarem Selbstbewusstsein über das Haus seines Besitzers herrscht. Aber für Chloe bricht eine Welt zusammen, als sie von der bösen Partnerin des Herrchens ausgesetzt wird. Von nun an verachtet Chloe die Menschen wegen ihrer Niedertracht und Bosheit – und wäre andererseits so gerne doch selbst einer: dann könnte sie sich wehren und müsste sich nicht mehr alles gefallen lassen. Ein interessantes Dilemma zeichnet sich ab, eigentlich fast schon eine kognitive Dissonanz, die den moralischen Untiefen vieler Tezuka-Stories in nichts nachsteht. Ein ganz ähnlicher Konflikt, die unvermeidliche Korrumpierung kindlicher Unschuld in der Welt, findet sich auch in Die Geschichte der drei Adolfs. Es ist bei Tezuka ein wiederkehrendes Leitmotiv.

Chloe will mithilfe von Unicos Zauberkraft zum Mensch werden.

Das magiebegabte Einhorn gestattet Chloe den Wunsch, Mensch zu werden, und verzaubert sie, aber stets nur für eine Stunde pro Tag. Ein adretter Adeliger namens Byron tritt auf: Byron wirft ein Auge auf die neu entstandene junge Frau und macht ihr den Hof und Chloe setzt alles daran, um auch Byron zu gefallen. Aber Byron ist ein schlechter Mensch, der Tiere zu seinen Vergnügen erschießt und sie als Trophäen in sein Kaminzimmer hängt. Und Byron hasst Katzen. Ist Chloe nicht vielleicht doch zu arglos bereit, ihre Unschuld abzustreifen, um auch ein Stück Sicherheit und Macht abzubekommen? Das ist klassischer Tezuka-Stoff, wunderbar mit moderneren – ebenfalls längst klassisch gewordenen – Mitteln aufbereitet.

Das Mädchen und der Jäger.

An Gurihiros Zeichnungen kann man sich kaum sattsehen: einerseits zuckersüß geraten, andererseits in abwechslungsreichen Layouts, die mal Tempo und Action, an anderer Stelle wieder für Ruhe und Verlangsamung des Erzähltempos sorgen. Bisher liegen zwei Bände der reizvollen Serie vor (Unico erwacht, Unico wird gejagt), ein dritter ist für Herbst 2026 anberaumt. Natürlich wäre es großartig, wenn auch Tezukas Original irgendwann eine Neuveröffentlichung erfahren würde; für das Vergnügen an Unico erwacht ist die Originalstory hingegen so relevant, wie es Bob Kanes Batman-Stories für den modernen Batman sind. Es gibt schlichtweg keine Berührungspunkte mehr.

Bezaubernder Relaunch eines klassischen Stoffs

10von10Unico erwacht
Loewe Graphix, 2024
Text: Samuel Sattin, nach Motiven von Osamu Tezuka
Zeichnungen: Gurihiru
Übersetzung: Jan-Christoph Müller
220 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 16,00 Euro
ISBN: 978-3743221024
Leseprobe

 

 

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