Wie funktioniert gute Charakterisierung in einer Geschichte? Charles Dickens wusste, wie das geht. Sein zweiter Roman, Oliver Twist, wimmelt nur so von überlebensgroßen, aber großartig ausgearbeiteten Figuren. Man denke nur an den Waisenjungen Oliver, der es wagt, im Waisenhaus einen Nachschlag einzufordern, oder an den jungen Taschendieb, der sich Artful Dodger nennt und der Oliver ins kriminelle Milieu einführt. Jede Gesellschaftsschicht ist bei Dickens durch pointierte Typen repräsentiert, das geht vom sozial engagierten Bürger hin zu bornierten und trägen Beamten, von Bediensteten, die sich ihr eigenes Überleben in der Hackordnung sichern müssen, bis hinunter zu den Prostituierten, den Räubern und den Gangstern. In Oliver Twist ist vor allem die Unterwelt in schillernden Farben gezeichnet. Sowohl der Räuber Bill Sikes als auch dessen Partner, der jüdische Bandenchef und Hehler Fagin, gehören zu den großen Schurkengestalten der Weltliteratur.
Dabei ist aber gerade Fagin, der Jude, eine problematische Figur, da sich in ihr sämtliche antisemitischen Ressentiments ihrer Zeit bündeln und durch Dickens‘ Kunstfertigkeit eine bis dato ungekannte künstlerische Aufwertung erhielten. Dickens‘ Darstellung des verschlagenen Juden war ideal dazu geeignet, als Archetyp im kollektiven Unterbewusstsein einer ganzen Gesellschaft Fuß zu fassen – und das dank der Aufnahme des Werks Oliver Twist in den Kanon guter Jugendbücher bis in die Kinderzimmer hinein.
Aber sollte man die Figur des Fagin nicht vielleicht trotzdem als Produkt ihrer Zeit erklären und akzeptieren? Immerhin gab es tatsächlich ein historisches Vorbild. Dem lässt sich entgegnen, dass es auch im 19. Jahrhundert bereits eine ausgeprägte Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Verwerfungen gab – und auch Dickens war ja ein sozial engagierter Autor, der es besser hätte wissen können. Jüdische Bürgerrechtler baten den Autor nach Erscheinen des Buchs, zukünftig von solchen Darstellungen abzusehen, und Dickens selbst war es, der in späteren Editionen des Romans zahlreiche jüdische und pseudo-jüdische Attribute, mit denen Fagin charakterisiert wurde, abschwächte und zum Teil auch herausnahm. Politische Korrektheit ist also keineswegs ein Komplex des späten 20. Jahrhunderts, bereits der frühe moderne Roman kannte solche Probleme.
So steht heute jeder, der Oliver Twist für ein visuelles Medium adaptieren möchte, vor einem Dilemma. Hält man sich zu sehr an die pralle, karikierende Darstellung des Originals, bedient man zwangsläufig antisemitische Klischees. Beispielhaft sieht man das in David Leans Filmadaption von 1947, die Fagin sehr unsensibel an den alten, diffamierenden Illustrationen des Buchs anlehnte und dabei völlig außer Acht ließ, welches Unheil die NS-Propaganda mit ebensolchen Bildern gerade erst angerichtet hatte. David Leans Film war deswegen lange Zeit in Amerika verboten.
Andererseits: Jede der Figuren des Romans ist eine Märchenfigur mit überzeichneten Zügen. Nimmt man Fagin seine teuflischen Attribute weg, schwächt man die stärkste Figur der Story. Und weshalb sollte gerade der Jude kein Schurke sein dürfen? Das wäre positiver Rassismus, und der ist nicht minder fatal als der gewöhnliche Alltagsrassismus, wenn auch aus anderen Gründen.
Auch Will Eisner hat dieses Dilemma erkannt. Aber gerade das hat sein Interesse an einer Adaption geweckt, weil sich darin sein Interesse an jüdischen Milieustudien und sein Interesse für Literatur auf interessante Weise verbinden ließen. Eisner findet den Ausweg aus dem Dilemma, indem er Fagin zum Hauptdarsteller der Geschichte macht und ihm eine Biografie verleiht. Das birgt natürlich die Gefahr des positiven Rassismus, aber Eisner konfrontiert gezielt genau diesen Aspekt: Die fatale Wirkung von Stereotypen.
Zunächst korrigiert er die Physiognomie des Fagin, indem er diesem europäische Gesichtszüge verleiht. Das geschieht nicht aus Willkür, vielmehr entspricht es der historischen Tatsache, dass die Juden der Unterschicht, die in den Ghettos lebten, zum Großteil europäische Migranten der zweiten Einreisewelle waren. Die südländische, vielfach missbrauchte Physiognomie findet sich hingegen nur bei den Sephardim, spanischen Juden, die einst vor der spanischen Inquisition geflohen sind und sich in England dank ihres hohen Bildungsstandards schnell assimilierten. Den europäischen Aschkenasim, die zum Großteil eher einen bäuerlichen Hintergrund hatten, ist diese Assimilation deutlich schwerer gefallen. Aus diesem realen Milieu entstammt die Figur des Fagin.
Die zweite Korrektur, die Eisner vollzieht, ist eine behutsame Glättung des Charakters. Eisner entzieht Fagin das Dämonische und gestaltet seinen Fagin fast freundlich. Diese Korrektur begründet sich aus Eisners Erzählansatz, dass Fagin den realen Erzähler Dickens in einer Meta-Erzählung, die geschickt mit dem Rest der Erzählung verwoben ist, zur Rede stellt und ihn mit seiner erzählerischen Verantwortung konfrontiert. Allzu leichtfertig hat Dickens das herrschende Vorurteil gegenüber Juden verwendet, um eine unheilvolle Aura zu erzeugen – und während der christliche Hintergrund der anderen Verbrecher wie eine Selbstverständlichkeit im Roman nie zur Sprache kommt, so ist das jüdische Zerrbild eine allzu leichte Möglichkeit für Dickens, seinen Fagin diabolisch aufzuladen.
Will Eisner greift Dickens‘ literarischen Taschenspielertrick geschickt wieder auf, indem er Fagin in dessen Geschichte immer wieder über antisemitische Ressentiments stolpern lässt, die ihn in ein Verbrecherleben drängen, dem er eigentlich zu entkommen versucht. So wird das Leben des Ghetto-Juden zur selbst erfüllenden Prophezeiung. Das Vorurteil bewahrheitet sich deswegen, weil die Menschen möchten, dass es sich bewahrheitet. Die entscheidende Akzentverschiebung allerdings ist, dass der Fagin bei Eisner unter dieser Entwicklung leidet.
Aber Will Eisner bietet uns noch mehr: Er konstruiert Fagins Schicksal als Parallelerzählung zu Oliver Twists Geschichte. Beide Biografien, Olivers wie Fagins, haben die Züge eines Märchens. Während Oliver Twist am Ende seiner Geschichte die wundersame Rettung aus dem Elend erfährt, endet Fagins Erzählung allerdings am Galgen – kein Deus Ex Machina für den Juden. Will Eisner montiert diese beiden Erzählstränge mit einem erzählerischen Geschick, das den Vergleich mit Dickens nicht zu scheuen braucht. Ebenso wie bei Dickens gibt es märchenhafte Zuspitzungen; und ebenso wie Dickens verfolgt auch Eisner ein pädagogisches, aufklärerisches Ziel.
Dabei ist unbedingt zu erwähnen, dass Will Eisner Charles Dickens großen Respekt zollt. Wer Eisner kennt, weiß, dass auch er im Lauf einer langen Karriere zuweilen in die Trickkiste der Typisierung griff und sich teilweise auch rassistischer Stereotype bediente. Sowohl Eisner als auch Dickens haben im Laufe ihres Lebens dazugelernt und sind sensibler geworden. So ist Ich bin Fagin nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit Oliver Twist, sondern zugleich auch die liebevollste Adaption von Dickens‘ Werk, die man sich vorstellen kann.
So geht Adaption. Will Eisner zeigt, wie man Literatur durch eine Comic-Adaption neues Leben einhaucht.
Egmont Graphic Novel, 2015
Text: Will Eisner
Zeichnungen: Will Eisner
Übersetzung: Axel Monte
136 Seiten, einfarbig, Hardcover
Preis: 19,99 Euro
ISBN: 978-3770455218
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