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Vom Winde verweht 1

Vom Winde verweht als zweibändige Graphic Novel mit annähernd 300 Seiten? Ganz schön ambitioniert. Aber Pierre Alary hat ja schon mit seiner Moby-Dick-Adaption bewiesen, dass er mit großen Stoffen umgehen kann. Und dass er keine Scheu davor hat, eine Vorlage so zu stutzen, dass sie sich seinem Stil anschmiegt.

Scarlett O’Haras Heimkehr nach Tara. Alle Abbildungen © Splitter

Der Roman ist nicht unumstritten, da man Margaret Mitchell unterstellen kann, dass sie die Sklaverei verklärt. Bei sämtlichen der afrikanischen Figuren der Story handelt es sich um Hausbedienstete, die sich sehr mit den weißen Herren identifizieren, wenn nicht sogar als Teil der Familie sehen. Manchmal wird angedeutet, dass die Sklaven sich noch nach der alten Ordnung sehnen werden, wenn das soziale Gefüge des Südens erst zusammengebrochen und die Community dann auf sich allein gestellt sein wird. Aus dieser Warte heraus gelingen Margaret Mitchells aber auch interessante Beobachtungen: beispielsweise, dass die unterste Kaste von Mensch im Süden nicht der Sklave ist, sondern der weiße Farmer, der sich keine Sklaven leisten kann und die Feldarbeit selbst tätigen muss. Im Roman und in David O Selznicks Film sind diese damals schon als „white trash“ bezeichnet.

Pierre Alarys Comic-Adaption ist eine weitgehend unkritische Adaption des Materials. Pittoreske Landschaften, zeitgenössische Dekors, die Gebäude des alten Südens, Uniformen, herrschaftliche Kostüme, blasierte Aristokratie und dreiste Auflehnung dagegen, darum geht es Alary zuvorderst, und natürlich um die Herausforderung, das ausufernde Ausgangsmaterial in den Griff zu bekommen. Aber in Gone with the wind geht es ja auch gar nicht um die soziale Frage, dafür gibt es andere Schlüsselwerke. Gone with the wind ist nicht weniger als das große Epos um den Untergang eines stolzen Märchenlands. Das ist im Roman oft mit der bissig-sarkastischen Stimme der Scarlett O’Hara formuliert und im Film vor allem opulent-schwelgerisch dargestellt. Schwelgerisch ist auch der Comic, der am stärksten immer dann ist, wenn er – bei aller Nähe zum Film – die Leerstellen des Films zu füllen weiß.

Das gelingt beispielsweise beim ersten Auftritt des Captain Rhett Butler recht gut, der bei den Familien des Südens eben nicht, wie uns der Film erzählt, nur deshalb in Ungnade gefallen ist, weil er ein Mädchen, mit dem er ausritt, zu spät nach Hause brachte (das Pferd war durchgegangen) und sich dann weigerte, die junge Frau zu heiraten. Der Comic weiß es besser: um die Ehre seiner Schwester zu retten, wurde Rhett Butler danach vom Bruder zum Duell gefordert und Butler hat ihn erschossen. Es sind diese kleinen Details, die den Comic auf der erzählerischen Ebene aufwerten. Andererseits vermisse ich im Comic aber die Figur der Bordellbetreiberin Belle, die zwar vorkommt, aber sehr am Rande. Aber natürlich muss Alary bei der gewählten Form straffen.

Rhett Butler

Abseits davon überzeugt Alary visuell, zum einen in der ausdrucksstarken aber konventionellen Grafik, vor allem aber in der flirrenden Lichtgestaltung. Nahezu kein Panel ist konventionell koloriert: Stets sind Figuren entweder im Schatten oder in blendendem Licht, was die Grafik auf ein Niveau hebt, das seinesgleichen sucht. Vielleicht war Alarys Gespür für Farbe sogar die Haupttriebfeder, weshalb er sich des Stoffs angenommen hat, schließlich ist auch der Film in seiner Farbgestaltung opulent.

Einige Szenen sind im Film dramatischer, so vor allem die bombastischen Massenszenen mit unzählbaren Mengen an Komparsen; auch der Brand von Atlanta wird gerade im Film zur atemberaubenden Actionsequenz, wie man sie selbst heute, 2024, nicht oft zu sehen bekommt. Aber auch Alary zaubert daraus eine beeindruckende Sequenz, in der die ganze Tragik eines Konflikts spürbar wird, in dem die Zivilbevölkerung gezielt Terror ausgesetzt ist.

Roter Himmel über Atlanta. Und immer überzeugt die Farbgestaltung.

An anderer Stelle hat dann Alaray gegenüber dem Film die Nase vorn, vor allem wenn er sich den Raum nimmt, ein Plateau wirklich auszubreiten, so zu Beispiel Scarlett O’Haras epische Rückkehr zum heimatlichen Tara, eine visuell wunderschöne, berührende Sequenz, in der Alary mit seiner Farbstimmung sämtliche Register zieht. Es ist schon erstaunlich, wie viel Inhalt und Atmosphäre ohne viele Worte vermittelt werden kann.

Man darf gespannt sein, wie es Alary gelingen wird, den komplexen zweiten Teil des Opus‘ in den Griff zu kriegen. Vielleicht entpuppt sich das Medium des Comics als Vorteil, wenn der melodramatische letzte Part sich entfaltet. Wenn die Tragödien sich in Scarlett O’Haras Leben erst überschlagen, werden wir vielleicht noch froh sein, es diesmal ohne den Klangteppich der Filmmusik erleben zu dürfen, denn Selznicks Film trägt gerade im letzten Teil des Films sehr dick auf. Ob Alary aber in der Lage sein wird, die komplette Tragik in Bilder zu bringen?

Märchenland abgebrannt.

Auch frage ich mich, ob Alary es wagen wird, den Ku-Klux-Klan zu thematisieren, dessen Rolle im Film verschämt als „politische Versammlung“ sehr flüchtig abgetan wurde. Damals war dieser Aspekt aus gutem Grund zensiert, denn seit dem Skandal um die Neugründung des Klans in Folge von D.W. Griffiths Birth of a Nation war man in Hollywood vorsichtig geworden. Man hatte erkannt, dass filmische Darstellungen Konsequenzen von großer Tragweite nach sich ziehen können. Pierre Alary jedoch könnte sich aus deutlich größerer Distanz dem Thema neu stellen und sich gegenüber dem Film als reizvolle Variante positionieren.

Die einzig wirklich kritisch distanzierte Aufarbeitung des Stoffs dürfte bisher die Hörspielbearbeitung des WDR bleiben, Vom Wind verweht – Die Prissy Edition. Selbst wenn diese Adaption heftig im postkolonialen Reframing ist, eignet sich der gewählte Ansatz vielleicht doch am besten, um sich alten, allzu vertrauten, vielleicht vorbelasteten Stoffen anzunähern. Im Comicsektor finden sich solche Erzählstrategien beispielsweise in Will Eisners Ich bin Fagin, bei Auf der Suche nach Moby Dick von Sylvain Venayre und Isaac Wens, oder auch bei Nicolas Junckers Die drei Musketiere. Wichtig ist dabei jeweils, dass eine erweiternde Erzählstimme gefunden wird, die die bekannte Geschichte reflektiert und mit zeitgemäßer Linse bricht. Aber wer wagt zu behaupten, dass Alarys konsequent ästhetische Adaption ohne politische Positionierung nicht ebenso ein Kind ihrer Zeit ist?

Ambitioniertes Großprojekt mit opulenten Bildern

9von10Vom Winde verweht 1
Splitter, 2023
Text und Zeichnungen: Pierre Alary
Übersetzung: Sophie Beese
142 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 29,80 Euro
ISBN: 978-3987212673
Leseprobe

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