Hexen, sagt die Großmutter zu ihrem Enkel, gibt es in allen Ecken der Welt. Sie sind ganz normal angezogen und haben Freunde und normale Berufe, weshalb sie nur schwer zu erkennen sind. Was sie alle gemeinsam haben, ist ihr abgrundtiefer Hass auf Kinder. Man erkennt Hexen an ihren Händen, denn sie haben Krallen und krumme Finger, weswegen sie immer Handschuhe tragen. Außerdem sind Hexen kahl und tragen daher stets Perücke. Das Jucken auf der Kopfhaut treibt sie in den Wahnsinn. Ihre Nasenlöcher sind gewellt, damit sie Kinder besonders gut riechen können. Eine Hexe denkt nur an das eine: Möglichst viele Kinder verschwinden zu lassen, auszulöschen und zu zermalmen. Hexen nehmen immer die Gestalt einer Frau an. Das ist eben so. Vampire und Werwölfe sehen aus wie Männer. Hexen sehen aus wie Frauen.
Das Allerwichtigste aber, was man über Hexen wissen muss: Hexen sind keine Frauen. Sie sehen nur so aus! So zumindest die Versicherung der Großmutter an ihren Enkel, respektive die Erzählerin Bagieu an ihre Leser*innen – und auch Roald Dahl hat das den Kindern in seiner Romanvorlage 1983 schon mit auf den Weg gegeben. Das Dumme daran ist nur: Wir haben in den letzten Jahren so sehr gelernt, zwischen Zeilen zu lesen und Rückschlüsse auf deren Urheber zu ziehen, dass wir gar nicht anders können, als in den kinderhassenden Hexen ein Zerrbild von kinderlosen, unabhängigen Businessfrauen zu sehen. Das war wohl auch Pénélope Bagieu bewusst, weshalb sie vorsichtigerweise noch eine Abgrenzung zum echten Hexenwahn der frühen Neuzeit in ihre Adaption mit eingewoben hat, die so im Originaltext nicht zu finden ist. Auch die Künstlerin weiß um die Untiefen und Fallstricke der Vorlage.
In den letzten Jahren war Pénélope Bagieu vor allem mit ihren zahlreichen Kurzbiografien starker Frauen in Erscheinung getreten und auch California Dreaming, ihre Biografie über Mama Cass von The Mamas and the Papas, war in erster Linie die Würdigung einer verdienstvollen Frau, die es im Leben nie leicht hatte. Und jetzt diese 180°-Kehrtwende, in der die Frauen allesamt – bis auf Oma – garstige, kinderfressende Monster sind? Das kann für eine Künstlerin wie Bagieu nur eine bewusste Entscheidung sein. Offensichtlich ging es Pénélope Bagieu um den hemmungslosen Spaß, den die Geschichte um Hexen, die Kinder in Mäuse verwandeln, ja zweifellos bietet.
Dennoch hat die Künstlerin an einigen Stellen behutsam modernisiert. Bei ihr ist die Oma tatsächlich eine ganz moderne Frau, die bei der Hausarbeit Madonna hört und Leopardenleggins trägt, und ihr Enkel nimmt die Qualmerei der Oma nicht mehr wie früher unwidersprochen hin. Die auffallendste Änderung aber ist, dass sie den dicken, verfressenen Bruno der Romanvorlage, der im Lauf der Erzählung ebenfalls in eine Maus verwandelt wird, gegen ein aufgewecktes Mädchen auswechselt.
Sicherlich: Der garstige Bruno, eine typische Roald Dahl-Nebenfigur, war mit seiner Boshaftigkeit und seiner völligen Fixiertheit aufs Futtern eine etwas piefige Figur. Andererseits steht die Figur des Bruno für genau die Sorte von garstigem Kind, die im Leser dann doch Verständnis für die Hexen aufkommen lässt. Solche gruseligen, lauten, boshaften Kinder will man in der Tat am liebsten weghexen (und deren Eltern gleich mit). Mit dieser kleinen Akzentverschiebung hat Pénélope Bagieu leider gleich eine komplette Erzählebene ausradiert. Der schwungvollen Erzählung mit ihren teils abenteuerlichen Mäuseperspektiven tut dies indes keinen Abbruch. Besonders erfreulich auch: Den bittersüßen Schluss der Erzählung, in dem es um die Zukunftsperspektive und Lebenszeit einer Maus sowie um das Sterben im Allgemeinen geht, hat sie mit spürbarer Liebe zum Original und viel Sinn für Poesie gestaltet.
Hexengrusel und Mäuse-Action. Flotte Adaption.
Reprodukt, 2020
Text und Zeichnungen: Penelope Bagieu, nach einer Vorlage von Roald Dahl
Übersetzung: Silv Bannenberg
300 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 24 Euro
ISBN: 978-x3956402258
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