Jens Harder ist ein Spezialist für dicke Bücher. Seine Comics eignen sich weder zur Klammerbindung noch sind sie eine Lektüre für den öffentlichen Nahverkehr. Und seine Themen sind auch nichts zum Zeitvertreib zwischendurch.
Jens Harder hat seine „Große Erzählung“ mit dem Band Beta … civilisations volume 2 fortgeführt. Nach dem Erfolg von Alpha (Carlsen 2010) und Beta 1 (Carlsen 2014) wendete Harder sich zunächst dem Epos Gilgamesch (Carlsen 2017) und dem in Deutschland noch nicht publizierten Comic Cités (2019) mit Stadtreportagen zu.
Harder veröffentlichte sein Großprojekt zuerst nach fünfjähriger Arbeit bei dem französischen Verlag Actes Sud, wo auch sein in Deutschland bislang unveröffentlichter Comic Leviathan (2003) erschienen ist. Dieser wurde wie später auch Alpha auf dem Comic-Salon Erlangen mit dem Max-und-Moritz-Preis ausgezeichnet. Darin lassen sich schon einige Charakteristika seiner späteren Comicreihe „Die große Erzählung“ finden, wie etwa der (weitgehende) Verzicht auf Texte, die Faszination für die großen Mythen der Menschheit (das verbindet ihn auch mit Gilgamesch), die Verzahnung verschiedener Zeitebenen und schließlich der Hang zu umfangreichen Projekten, denn auch Leviathan ist mit 150 Seiten kein schmales Buch.
Nachdem in Alpha die Zeit vom Urknall bis zur Vorgeschichte des Menschen (also grob 14 Milliarden Jahre) und in Beta 1 die Geschichte des Menschen bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung (immerhin noch mehr als 2 Millionen Jahre) dargestellt worden sind, muss Beta 2 viel Aufwand betreiben, um die letzten 2000 Jahre Weltgeschichte in 360 Seiten zu erzählen. Das ist natürlich keine Überraschung, denn die umfangreichere Quellenlage macht die Auswahl der Bilder um einiges anspruchsvoller.
Das Besondere an dem erzählerischen Projekt ist die Kompilation von Bildern verschiedener Kulturen und Quellen. Wenn er den frühneuzeitlichen Sklavenhandel ausführlich ins Bild setzt, springt Harder kühn in die Gegenwart und zeigt die imposanten Schriftzüge der großen Banken an den heutigen Finanztempeln: Der heutige Reichtum westlicher Gesellschaften beruht eben auch auf der jahrhundertelangen Tradition des Kolonialismus. Immer wieder schaffen die Kontraste und Sprünge Raum für Interpretationen, auch fordern sie uns Leser*innen heraus, denn kommentarlos platziert Harder neben zeitgenössischen Darstellungen auch jüngere, mitunter stereotype Bilder aus der Populärkultur. Auf wenigen Seiten schildert er die astronomischen Fortschritte durch Kepler und Kopernikus sowie den Widerstand der Kirche dagegen. Die Verbreitung des Wissens durch den Buchdruck wird ganz konsequent nicht idealisiert: Wir sehen unkommentiert nebeneinander: Hitlers „Mein Kampf“, „Das Kapital“ von Marx, ein berühmtes Propagandafoto mit Chinesen mit der „Mao-Bibel“ und George Orwells „1984“. Wissen kann eben nicht nur zu medizinischen oder wissenschaftlichen Fortschritten führten, sondern auch zur Verbreitung von Ideologie.
Immer wieder zieht Harder Querverbindungen (von Malcom X zur I-can’t-breathe-Bewegung) und verbindet Fiktion und Wirklichkeit zu einer untrennbaren Melange. Unsere Bilder der Vergangenheit beruhen eben nicht immer auf Fakten, sondern oft wiederum auf Erzählungen oder Filmen, und es ist sehr stimmig, dass Harder sich ebenfalls darauf bezieht, wie er im Nachwort schreibt: „Als Bildquelle für meine Adaptionen wurden über die letzten Jahre neben Fotos und ready mades Filmstills immer wichtiger Filme, die zeigen, was war bzw. gewesen sein könnte.“
Ob man es nun als postmodernes Pastiche, als Sampling, als Remix oder als intertextuelles Gewebe interpretiert, Jens Harder macht keinen Hehl daraus, dass jedes Panel die Kopie eines Originals ist, ein Teil unseres kollektiven Gedächtnisses, und die gewaltige Bilderflut ermöglicht uns eine rasante Reise durch diesen dichten Wald. Das Verfahren hat nach der Veröffentlichung von Alpha auch zu erheblichen Vorwürfen geführt.
„Jens Harder hat viele seiner Motive durchgepaust und geklaut. Und zwar vom Illustrator Zdenek Burian… Ein Pfui für Harder als Dieb geistigen Eigentums und ein Pfui für die Presse, die es nicht bemerkt und unreflektiert seinen gesampelten Comic hochjubelt!“ So zitierte der Blog des Berliner Comic-Händlers „Grober Unfug“ die beiden Zeichner Ulf. S. Graupner und Tom Encke im Februar 2011. Und eine Übersicht über die Vorbilder (hier vom Würzburger Comic-Dealer zusammengestellt) belegt das Verfahren. (Hier ein damaliger Text auf Comicgate dazu.)
Allerdings hat Harder niemals verheimlicht, dass er die Bilder nicht erfindet, sondern „alle visuellen Vorstellungen … zu bündeln“ versucht hat, so Harder im Nachwort zu Alpha. Und Zdenek Burian hebt er ganz besonders hervor: „Dabei stieß ich bald auf den tschechischen Maler Zdenek Burian, bis heute unerreicht in seiner grandios lebendigen Visualisierung der versunkenen Epochen. Ich begann, wieder und wieder seine Gemälde, abgedruckt in Dutzenden Urzeitpublikationen, nachzuzeichnen und zu verinnerlichen (und Meister Burian möge mir nachsehen und es als kleine Hommage an sein Schaffen verstehen, dass ich auch für Alpha etliche Anleihen nur bei ihm finden konnte).“ Aber Harder hat die Vorwürfe offenbar dennoch ernst genommen und die Quellenangaben, in Alpha noch sehr hemdsärmlig und vage, in Beta 2 auf zwei engbedruckte Seiten ausgedehnt.
Am Ende stellt sich auch bei der Lektüre das Gefühl ein, in der aktuellen Bilderflut gegen das Ertrinken zu kämpfen. Allein auf den letzten Seiten werden u.a. Plastikverschmutzung, Fridays for Future, Künstliche Intelligenz, Terrorismus und Occupy Wall Street nebeneinandergestellt. Vielleicht stößt das anspruchsvolle Projekt hier allmählich an seine Grenzen. Der enzyklopädische und assoziative Ansatz droht zu Beginn des 21. Jahrhunderts zur hastigen Aufzählung zu werden, und vielleicht ist das eigentlich das Beste an diesem Comic, weil es ein Abbild unserer Überforderung in einer modernen Wissensgesellschaft widerspiegelt.
Der Abschluss der Trilogie („Gamma“) ist übrigens für Ende 2024 angedacht. „Somit habe ich für die gesamte Serie mit circa. 1.300 Seiten und 8.500 Panels und einer erzählten Zeit von etwa 115 Milliarden Jahren am Ende zwanzig Lebensjahre gebraucht – eigentlich ein Klacks!“ So Harder im Interview auf comic.de. „Gamma … visions“, so Harder im Nachwort von „Alpha“ soll „Blick auf Visualisierungen der Zukunft“ richten. Auf 180 Seiten, so Harder im Interview, möchte er ausloten, wie das Projekt „Menschheit“ weitergehen wird: „Ich stütze mich aber immerhin auf starke Schultern – auf den reichen Fundus an utopischer und Science-Fiction-Literatur, auf die vielen Filme, die seit Jahrzehnten unsere Kinos und Monitore überschwemmen, an Prognosen und Interpolationen der Wissenschaftler*innen und Trendforscher*innen, selbst an vergangene Zukünfte, sogenannte Paleo-Future.“
Wer Harders Weltgeschichte durchwandern möchte, kann dies im saarländischen Weltkulturerbe Völklinger Hütte tun. Die Ausstellung „Jens Harder – The Story of Planet A“ in den beeindruckenden Räumen des alten Eisenwerks wurde bis zum 28. April 2024 verlängert.
Postmoderne Bilderflut
Carlsen, 2022
Text und Zeichnungen: Jens Harder
368 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 50,00 Euro
ISBN: 978-3-551-79000-2
Leseprobe
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