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Die Bombe

Schwierig. Zu den vielen problematischen Jahrestagen, die heuer mit 75 Jahren Weltkriegsende einhergehen, gehört das Jubiläum des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki, am 6. bzw. 9. August.

Alle Abbildungen: © Carlsen Verlag

Die Bombe, ein über 450seitiges Trumm von einem Comicband, will die Hintergründe dieses traumatischen Doppeldatums beleuchten. Trotz einer multiperspektivisch angelegten Erzählung schälen sich schnell die Hauptfiguren dieser Nacherzählung heraus: Unser sympathischer Anti-Held ist der ursprünglich aus Ungarn stammende Physiker Leo Szilard, der vor den Nazis aus Berlin in die USA flieht und den Präsidenten eindringlich ermahnt, die Atombombe zu entwickeln. Am Ende des Krieges ermahnt er ihn ebenso eindringlich, aber vergeblich, sie nicht einzusetzen.

Ständiger Stolperstein für Szilard und die anderen an der Atombombe beteiligten Wissenschaftler ist der US-General Groves, trotz historischen Vorbilds deutlich eine Variation von General Ripper aus Kubricks Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben (1964, Regie: Stanley Kubrick): ein unangenehm komischer dumpfer und autoritärer Militarist. Eigentlicher Gegenspieler ist aber das Element Uran, das uns in weihevollen Worten in seine bösartigen Pläne einweiht. Es soll eine Art Todesgott darstellen, aber dafür ist es ein bisschen zu eitel.

Über weite Strecken ist Die Bombe allerdings ein politischer Comic alten Schlags und ein markantes Gegengewicht zu anderen aktuellen politischen Comics. Die Bombe ist weder autobiographisch noch biographisch und alles andere als minimalistisch. Es ist ein kühler, faktenbesessener Großband voll prächtiger Schwarzweißbilder.

Da ist jeder Manschettenknopf mit viel Sorgfalt und noch viel mehr Tusche in Szene gesetzt und vermutlich historisch verbürgt. Da ist jedes Bild allein schon durch Bildausschnitt, Perspektive und Platzierung mit Bedeutung aufgeladen. Die schmalen Panels einer Dialogszene hängen an dem großen Bild des sie umgebenden Balls. Riesenhafte Soundwords verkünden Unheil. Bilder werden geteilt oder verdoppelt, lösen sich an den Rändern auf oder bedrohen einander – und all das weitgehend unauffällig im Dienst der Erzählung. Wir kriegen weite Wüsten mit endlosem Horizont und gedrängte, klirrend kalte Eiswüsten aufs Papier geworfen und werden mit dem verhaltenen und unnachgiebigen Schocks verstörender Kriegsszenen aufgescheucht. Chicago im Schnee, der Kreml oder das nach dem Krieg zerstörte Berlin wurden selten atmosphärischer zeichnerisch abgetastet und eingefangen. Und unter den vielen eindrucksvollen Schauplätzen ragt einer zu Recht heraus: Seitenlang streunen wir durch das schmerzhaft pittoreske Hiroshima vor dem Bombenabwurf, das sonst selbst in japanischen Comics in der Regel nur als verbrannte Erde auftaucht.

Die beiden Szenaristen haben sich vorherige Lorbeeren u. a. mit XIII und einem Bruno Brazil-Ableger verdient, der Zeichner war u.a. für Superman tätig. Alle drei haben offensichtlich ähnliche Lieblingscomics, und das ergibt eine eigenartige und dynamische Mischung. Wenn Joe Kubert, Hugo Pratt und Will Eisner zusammen ein Bruno-Brazil-Abenteuer gezeichnet  hätten, hätte das Ergebnis ähnlich aussehen können (und manche Seiten lassen uns ahnen, wie ein Dylan Dog der drei Großmeister vielleicht ausgefallen wäre). Die Bombe ist ein klassischer europäischer Comic auf der Höhe seiner Gestaltungsmöglichkeiten, nur viel umfangreicher und trotzdem keine Serie, und als das, sozusagen als Entsprechung zu einem überlangen Ausstattungsfilm, ist der Comic einzigartig und eine klare Empfehlung wert.

Wie gelungen er ist, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Die liebevoll gestrichelten Landschaften und die formalen Spielereien sollen sicherlich auch ein Gegengewicht dafür sein, dass über weite Strecken und die meiste Zeit vor allem in geschlossenen Räumen diskutiert wird: Wissenschaftler tauschen ihre Ansichten über Uran aus, amerikanische Politiker streiten über die richtige Strategie gegenüber Japan, wichtige Männer führen wichtige Gespräche. Immer noch mehr. Und immer weiter. Auch das ist optisch so ansprechend gestaltet, dass es durchgehend lesbar bleibt. Nie wurden über 250 Seiten angespannter Gespräche spannender geschildert. Und auch wenn es schlicht unmöglich ist, vor allem die physikalischen Überlegungen im Detail nachzuvollziehen, bleibt dann doch eine Menge neues Wissen hängen. Aber beinahe alles liest sich wie eine ausladende Exposition für eine Handlung, die nie wirklich beginnt. Und nicht nur deswegen drängt sich irgendwann ein fettes, unübersehbares „Warum?“ vor den Comic. Was will dieser Comic?

Erinnert sich noch jemand an die alte Bastei-Serie Entdecker und Gelehrte? Oder an Die Bibel im Bild? Wohl in jeder Sprache und jeder Sparte gibt es Comics, die primär Wissen vermitteln sollen und dabei manchmal unfreiwillige Komik produzieren, denn das Wissen wird gern gegen jede Lesbarkeit und gegen die Stärke der Kunstform auf Biegen und Brechen in die Sprechblasen gezwängt. Solche Comics stammen üblicherweise aus der Zeit, als der Comic für Jugendliche noch ein echtes Massenmedium und die Hoffnung berechtigt war, dass schwierige, aber wichtige Themen in Comicform wenigstens irgendwie und zumindest unter Streuverlusten an Schülerinnen und Schüler herangetragen werden konnten. Merkmal dieser zum Teil rührenden Versuche war der „Wie Sie wissen“-Dialog, in dem sich Gesprächspartner ohne Rücksicht auf irgendein realistisches menschliches Gesprächsverhalten Informationen um die Ohren hauen, die ihnen beiden bereits bekannt sind.

Die Bombe erhebt diesen alten Kniff in immer neue Höhen: So ziemlich jeder Wissenschaftler muss sich von seinem Gegenüber den eigenen seinen Werdegang erklären lassen, und auch der Vizepräsident der Vereinigten Staaten muss von Nebenfiguren erst einmal aufgeklärt werden, was ein Vizepräsident eigentlich so für Aufgaben hat. Atomphysiker scheinen besonders gerne wie gehetzt einander die Grundlagen der Atomphysik, wie wir sie heute formulieren, vorzutragen. Alle auftretenden Personen scheinen unter schweren Gedächtnisproblemen zu leiden. Jetzt ließe sich das sicherlich damit entschuldigen, dass Laien nun einmal eine Menge wissenswertes Zeug vermittelt werden soll. Aber so wenig anschaulich (und das in einem Comic!) und so spröde geschrieben kann das kaum funktionieren.

Viel zu selten werden naturwissenschaftliche und politische Schemata und Zusammenhänge graphisch, und nicht über den Dialog, vermittelt. Um die größtmögliche Verwirrung zu garantieren, setzen die Autoren zusätzlich viele Figuren und Geschehnisse der Weltgeschichte als bekannt voraus, weswegen trotz des ständigen Informationsgewitters eigentlich nur der Die Bombe verstehen kann, der ohnehin schon Bescheid weiß. Für den gibt es allerdings haufenweise augenzwinkernde Anspielungen und Andeutungen wie: Hoover? Ist das etwa DER Hoover? Wie, Bush, etwa ein Vorfahre von DEN Bushs? Ist das jetzt Iwo Jima? Das muss es doch sein, sonst gäbe es eine Ortsangabe. Moment, ist dieser Typ etwa Heisenberg? Sah Heisenberg nicht so ähnlich aus? Bei einer am Anfang des Buches entscheidenden Figur habe ich keine Ahnung, wer das sein soll, aber ich sollte es offensichtlich wissen, denn sie wird nie benannt.

Zur allgemeinen Verwirrung trägt bei, dass zusätzlich zu den bereits fakten- und datengetränkten Sprechblasen und Fließtexten noch Fußnoten benutzt werden (ich will in einer Comicrezension nicht „Asterisk“ schreiben, das verwirrt nur), um, offensichtlich nach dem Gießkannenprinzip, noch ein paar zum Themenkomplex gehörende Begriffe zu erklären.

Dies ist kein deutscher Film, für den die Autoren verschiedenen Gremien die Relevanz des Stoffs beweisen mussten – oder dass sie ihre Hausaufgaben gemacht haben. Comics werden in der Regel nicht gefördert – und auch nicht in der Schule eingesetzt. Selbst in französischen Schulen werden vermutlich keine 500seitigen Comics gelesen (und bei uns üblicherweise keine 2seitigen). Warum also dieses Dickicht an kaum kaschierten Infowüsten? Jedes zeitgemäße Geschichtsbuch kann die Informationen weniger verklausuliert vermitteln (und soweit ich weiß, gibt es bereits lieferbare Comics zum Thema).

Dazu kommt, dass die Autoren der europäischen Lehrmeinung über die Entwicklung der Atombombe folgen: Dieser Sicht nach war die Entwicklung der Atombombe verständlich, ihr Einsatz jedoch ein Verbrechen (und letztendlich wenigstens teilweise einer zynischen Haltung gegenüber Geopolitik und Machbarkeit geschuldet). Ich bin selber mit diesem Narrativ aufgewachsen, ich teile es und gebe es weiter. Ich halte den Abwurf der beiden Atombomben für unentschuldbar. Aber eine vereinfachte Version dieser allgemein bekannten Geschichte ist meiner Ansicht nach zu wenig und zu dünner Stoff für fast 500, weitgehend flache, Seiten.

Das Problem beginnt bereits mit dem Personal der Geschichte: Wer offiziell wichtig ist, der kommt vor. Weil die Bevölkerung von Hiroshima einen wichtigen (schrecklichen) Part der Geschichte spielt, taucht sie auf. Für andere Zivilisten gilt das nicht. Der selten besungene, sympathische Szilard als Protagonist ist ein echter und origineller Wurf, aber auch der wird laut Nachwort in seinen persönlichen Macken zum Wohl der Geschichte geglättet. Dazu muss natürlich Oppenheimer einen schillernden Auftritt haben, auch wenn dies das Gleichgewicht der Figuren aus dem Gleis wirft.

Die surreale Vorstadt voller Wissenschaftler in der Wüste von Nevada hätte eine üppigere Schilderung verdient als zwei Sprechblasen, war aber den Autoren offensichtlich objektiv zu unwichtig. Dieses Abhaken der allgemein als bedeutend akzeptierten Stationen auf Teufel kaputt ist der klassische, in der Geschichtswissenschaft kaum noch übliche, Zugriff auf politische Geschichte (ohne größere Berücksichtigung von bspw. Sozial -, Wirtschafts- Kultur,- oder Ideengeschichte). Der würde aber überzeugender ausfallen, wenn sie nicht gleichzeitig mit den raunenden Monologen des Uran in tiefenpsychologischen Abgründen wildern wollen würden, wenn nicht in der okkulten Ideengeschichte eines Alan Moore. Der hat sich ja nicht nur in Watchmen am Rande mit der Atomkraft befasst (worauf die Autoren übrigens anzuspielen scheinen), sondern hat in From Hell versucht zu schildern, wie das Konzept des Serienmörders in die Welt hineinwirkt. Das ist auch dann eindrucksvoll und anregend, wenn man die von Moore vertretene Theorie über Jack the Ripper für Blödsinn hält. Wenn Moores Jack/Dr. Gull im klarsichtigen Delirium behauptet, er habe das 20. Jahrhundert erfunden, sorgt das für Gänsehaut. Das Uran der Bombe teilt uns dagegen mit: „Ich liebe es, begehrt zu sein.“ Uran, die kleine Bitch. Was sagt eigentlich Plutonium dazu (wird das die Fortsetzung)?

Auch sonst scheinen die Versuche in Tiefe im Vergleich zu den Informationskaskaden zum Teil nur ansatzweise durchdacht zu sein und gehen in meinen Augen häufiger schief: Wer vor einer wichtigen inneren Entscheidung steht, steht auf der Straße vor einem sich gabelnden Wegweiser (warum passiert mir so etwas nie?). Bei Gesprächen über die Atombombe bilden Rauchwolken oder Baumkronen natürlich Atompilze nach. Gespräche über Frieden werden freundlicherweise von einer Taube auf dem Fenstersims überwacht (und, in einer charmanten Variation, ist Einsteins Haus von Pilzen umgeben und verweist mindestens unbewusst auch der Bildausschnitt auf seinen Doppelgänger in der Welt der Comics, den Graf von Champignac/Rummelsdorf).

Nicht jedem liegt das verflochtene multiperspektivische Erzählen auf mehreren Bedeutungsebenen der alten Vertigo-Comics. Das ist weniger eine Frage des Talents als des Temperaments. Alcante, Boillée und Rodier sind so gut darin, mit gekonntem Understatement starke Emotionen erlebbar werden zu lassen, es ist ein Jammer, dass sie mit diesem Pfund nicht stärker wuchern. Das Heben einer Braue in den leicht karikierten Gesichtern oder eine beiläufige Geste sprechen Bände. Wenn Figuren Gefühle füreinander haben dürfen, gewinnt der Comic sofort an Dynamik. Aber häufiger wird geweint oder werden Augen aufgerissen, Stirnen gerunzelt und schmerzverzerrt Gesichter verzogen, dass Käthe Kollwitz es etwas übertrieben fände.

Parallel zum Abwurf der Atombombe sitzt ein fröhliches Kind in Hiroshima auf einem Dreirad. Das ist in einer Geschichte voller Kriegsgräuel und einiger auch diskutierbarer Härten in meinen Augen ein nicht unbedingt geschmackssicherer Weg, um trotz der vielen redenden Köpfe emotionale Wucht zu entfalten.

Emotionale Wucht entsteht bei der Bombe durch die eingestreuten Geschichten von Opfern, die den Fokus auf historische Figuren sprengen. Diese Opfer tragen nicht die Last der Informationsvermittlung, aber gewinnen trotzdem wenig individuelle Kontur. Persönlichkeit kommt, vielleicht auch das als Gegenentwurf zu den beliebten in sich selber verschossenen Graphic Novels, nur im negativen Sinn vor, als Trauma oder Spleen.

Der Idiot General Groves besitzt Persönlichkeit (und eine Backstory), genau wie der verstörte sowjetische Spion, den wir auch nicht mögen. Die einzige Person mit Persönlichkeit, die auch sympathische Züge trägt, ist Oppenheimer mit seinem wilden Privatleben und seinem wüsten Temperament, aber der bleibt zumindest zwielichtig und wird vom Uran (und das muss es ja wissen) als „mystisch“ und „ungreifbar“ beschrieben. Einstein, im wirklichen Leben ein vermutlich schwieriger Charakter, ist dagegen ganz gutmütige Verschmitztheit und Weisheit, ein glückliches Klischee.

Die Opfer der Geschichte sind unglückliche Klischees. Was wird wohl aus dem Jungen werden, der von seiner schwangeren Freundin erzählt? Ob der besorgte Vater wohl seinen Sohn vor dem Kriegsdienst retten wird? Und wird sich das amerikanische Militär wohl gut um den netten, gebeutelten Afroamerikaner kümmern?

Nein, natürlich nicht, alle tot. Speziell das amerikanische Militär verachtet nämlich, in der Bombe, das Leben und gewinnt dadurch den Krieg. Ähnlich wie das japanische Militär, aber das ist wenigstens ehrlich (und verliert den Krieg). Der erwähnte, schwer kranke Afroamerikaner gehört beispielsweise zu den Unglücklichen, an denen vor Abwurf der Atombombe Menschenversuche zur Erforschung der Wirkung von Uran vorgenommen werden. Es sind schreckliche Versuche. Und es sind die einzigen Menschenversuche, die in der Geschichte vorkommen.

Noch schlimmere Versuche, die zur gleichen Zeit in Deutschland und Polen vorgenommen wurden, werden nicht erwähnt. Für die Verbrechen des Nationalsozialismus findet sich auf den gut 475 Seiten überhaupt erstaunlich wenig Platz (zwei Szenen mit brutalen Hinrichtungen, ein paar Andeutungen in großen Panoramabildern über die Zeitläufte). Die japanische Spielart des Faschismus wird vergleichsweise ausführlich geschildert, aber sie erscheint in ihren Auswirkungen und auch in ihrer Logik als nicht annähernd so schrecklich wie die Atombombe. Ja, selbst der Antisemitismus in Deutschland wird knapp am Anfang der Geschichte behandelt, während der Rassismus des US-Militärs sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im asiatischen Kriegsgeschehen deutlich größeren Raum einnimmt.

Unser Freund Leo Szilard vergleicht explizit die nationalsozialistischen Verbrechen mit dem Abwurf der Atombombe. Aber wir sehen nicht die Bilder aus den gerade befreiten Konzentrationslagern, auch nicht in Andeutungen. Wir sehen nicht, wie diese Bilder die amerikanischen Militärs erschüttern, die zudem, in der Realität, begreifen müssen, dass die schlimmsten Verbrechen in Deutschland begangen wurden, als die Niederlage sich bereits abzuzeichnen begann. Im Comic wissen sie bereits alle lange vor Hiroshima, dass sie Wettrüsten und Weltkrieg unverrückbar gewonnen haben. Die Bombardierung, die zur Kapitulation Japans führte, ergibt hier nicht einmal Sinn. Sie geschieht hier ausschließlich aus Machtgier bzw. der allgemeinen Hingabe an den destruktiven Teufel Uran. Das Böse triumphiert in dieser Geschichte erst beim Abwurf der Atombombe. Deren fürchterliche Folgen werden uns 20 stumme Seiten voller ausgemalter Verbrennungen und Verkrüppelungen und immer neuen Symbolen für Entmenschlichung und totale Zerstörung geschildert.  Noch einmal: Ich halte den Abwurf der Atombombe für unentschuldbar. Ich halte auch die Vereinfachung der Debatte für legitim (wobei ich mich frage, warum es bei 475 Seiten um Vereinfachung gehen muss). Aber diese durch und durch schiefe Aufrechnerei, die den französischen Szenaristen vielleicht nicht einmal bewusst ist, würde ich lieber, wie früher, denen überlassen, die den Krieg verloren haben.

Ausgerechnet zur politischen Bildung würde ich diesen Band also nicht heranziehen. Aber dafür taugen ja auch Kostümfilme in der Regel nicht. Trotzdem strotzt der Comic vor Highlights: Wie bereits erwähnt ist Hiroshima mit seinen Kanälen und Gassen ein bittersüßer Traum aus Stadtimpressionen, in die die Katastrophe schon eingeschrieben ist (auch Hiroshima während und nach der Bombe ist mehr als eindrücklich, allerdings empfinde ich, da gibt es natürlich andere Standpunkte, die vielen makabren Bilder, gerade weil sie historisch verbürgt sind, als etwas unpassend, genau wie die Verbeugungen vor dem Comicklassiker Barfuß durch Hiroshima).

Mitten im Buch verbirgt sich ein albumlanger, harter Kriegscomic über die Sabotage eines deutschen Kraftwerks in Norwegen, der in seinen Schilderungen von Hunger, Kälte und Action einfach spektakulär ist (und ich hasse eigentlich Kriegscomics, aus Prinzip und konkret). Hier zeigt sich, dass die europäische und die amerikanische Comictradition einander bei Thrills überraschend ergänzen können und wie angenehm nervenaufreibend die Verbindung von Existenzialismus und Idealismus ausfallen kann.

Die immer wieder überraschend eingestreuten psychedelischen Passagen sind, selbst dann, wenn sie vom Raunen des Urans begleitet werden, in meinen Augen eine Wucht. Die penibel ausgeführten Bilder der verschiedenen geisterhaften und gigantischen Kraftwerke, über deren Existenz zur Zeit des Zweiten Weltkriegs wohl ansonsten nur Experten etwas wissen, sind faszinierend und fremdartig. Und der Mann auf der Treppe, der sich in weiße Strahlen und gesprenkelte, schwarze, flockenartige Fetzen auflöst, ist die eindrücklichste Chiffre für die Ereignisse am 6. August 1945 und ihre Auswirkungen, die bisher in einem Bild gefunden worden ist.

Ich bin alles andere als glücklich mit diesem Comic. Aber ich brenne auf einen Thriller von diesem Team. Und da kann meinetwegen auch Uran noch ein paar Monologe haben.

Trotz einer über weite Strecken brillanten Gestaltung ein nicht immer geglückter, häufig spröder und verblüffend wenig innovativer Versuch, die Entwicklung der Atombombe in einem multiperspektivischen Geschichtscomic zu erzählen.

4von10Die Bombe
Carlsen, 2020
Text: Alcante, Laurent-Frédéric Bollée,
Zeichnungen: Denis Rodier
472 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 42,00 Euro
ISBN: 978-3-551-79360-7
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