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„Om Tiddy Pom Pom“: Der Kriegscomic Charley’s War

1917, Westfront. Der Krieg ist festgefahren und die Soldaten desillusioniert. Ein britischer MG-Schütze schießt, ohne dabei etwas treffen zu wollen, in die Luft. Es klingt wie ein Marsch, „Om Tiddy Pom Pom“, was einen deutschen MG-Schützen anspornt, im selben Rhythmus aus seinem Gewehr eine Salve mit einem rhythmischen „Pom Pom“ nachzuschieben. Es handelt sich hier um nicht weniger als einen subversiven Akt im Ersten Weltkrieg. Trotzig versucht man, wenigstens mit den MGs noch eine Kontaktform jenseits des gegenseitigen Tötens, und sei es nur, um sich zu versichern, dass die feindlichen Soldaten eben doch auch Menschen sind, auch wenn die Heeresleitung etwas anderes behauptet und das gemeinsame Musizieren mit Waffen als Verbrüderung mit dem Feind selbstverständlich der Todesstrafe würdig ist.

Diese sogleich anrührende und amüsante Anekdote mit dem „Om Tiddy Pom Pom“ findet sich in der britischen Comicserie Charley’s War, einem der bedeutendsten und ambitioniertesten europäischen Kriegscomics. „Es war ein beliebter Zeitvertreib unter MG-Schützen, durch geschicktes Bedienen des Abzugs musikalische Klänge zu erzeugen“, lässt uns dazu der Begleittext im Nachdruck der Reihe aus den 1990er Jahren wissen, der immer wieder Hintergründe erläutert.

„Om Tiddy Pom Pom“ – Leichtfertiger Missbrauch des Maschinengewehrs. (Alle Comic-Panels entstammen der zehnbändigen Gesamtausgabe von Titan Books.)

Battle Action Heft von 1980.

Charley’s War, Joe Colquhouns und Pat Mills‘ Serie über den Ersten Weltkrieg ist zu den wichtigsten Comic-Beiträgen zum Thema zu zählen, auch wenn die Serie außerhalb Großbritanniens leider nie die verdiente Beachtung bekam. Das war zuletzt 2014 schmerzhaft spürbar, als auf dem Comic-Salon Erlangen eine Ausstellung mit vielen Originalcomicseiten zum Thema „Erster Weltkrieg“ stattfand, darunter aber keine einzige von Charley’s War. Die Reihe erschien ursprünglich in der Anthologie-Reihe Battle Action, einem Heft, das es seit 1975 gab und primär für Jungen gedacht war. Zunächst waren die darin enthaltenen, unter anderem bereits von Pat Mills und John Wagner verfassten Kriegsgeschichten sehr klischeehaft, so dass in Pat Mills das Bedürfnis wuchs, einen kritischen Gegenentwurf zu verfassen, was er schließlich 1979 mit der Reihe Charley’s War in die Tat umsetzte. „In gewisser Hinsicht war Charley’s War mein Versuch, die Richtung meiner eigenen Kreation [Battle] zu korrigieren. Ich wollte nicht, dass meine Comics in irgendeiner Form dazu beitragen, dass sich junge Leute bereitwillig für irgendwelche fragwürdigen militärischen Schweinereien verheizen lassen, die ja nach wie vor stattfinden.“

Pat Mills unterscheidet zwischen zwei populäre Kategorien von Kriegserzählungen: Zur ersten Kategorie zählt er „War-is-hell“ stories, die von sich behaupten, sie seien Anti-Kriegs-Erzählungen, tatsächlich aber weit davon entfernt sind. „Mir wurde gesagt, US-Soldaten schauten sich solche ‚War is hell‘-Streifen wie Full Metal Jacket oder Apocalypse Now an, um sich vor ihrem Einsatz im Irak aufzuputschen. Ich bezweifle, dass sie auch Im Westen nichts Neues gesehen haben, einen der Haupteinflüsse von Charley’s War.“ Charley’s War sollte sich an der zweiten Kategorie orientieren, der wahrhaftigen Antikriegs-Erzählung, die sich nicht so einfach zu Propaganda umdeuten lässt, weil sie den Krieg ästhetisch auflädt und die Soldaten cool aussehen lässt.

Während der 1949 geborene Mills der 1968er-Generation zugeordnet werden kann, entstammt der Zeichner, Joe Colquhoun, geboren 1926, der Generation, die durch den Zweiten Weltkrieg geprägt wurde. Colquhoun war in seiner Haltung konservativer als Mills, doch verstanden es die beiden perfekt, einander zu ergänzen. Colquhoun hatte zunächst Zweifel, ob man über Soldaten im Grabenkrieg eine tragfähige, lange Serie erzählen konnte: „Meine Güte, wie kann man so etwas starres und statisches wie den Grabenkrieg zum Thema für eine Comicserie machen?“ „Keine Sorge“, sagte ihm Battle-Herausgeber Dave Hunt, „wir haben einen großartigen Autor. Der kriegt das hin.“ Mills und Colquhoun haben sich nie persönlich kennengelernt, dennoch war Colquhoun sehr schnell überzeugt von Mills Texten, so dass er die besten Arbeiten seiner Karriere ablieferte – und dabei eine Genauigkeit und Detailversessenheit an den Tag legte, die sich bei den kargen Honoraren, die Comiczeichner damals erhielten, niemals rechnete. Es war eine Arbeit aus Leidenschaft.

Colquhouns Zeichnungen leben von ihren detaillierten, lebendigen Schauplätzen und einem guten Gespür fürs technische Detail.

Erster Band der gebundenen Ausgabe von 2004.

1982 sagte Colquhoun im einzigen Interview, das je mit ihm geführt wurde: „Charley’s War illustriert eine Epoche, die im Prinzip schon zu Ende war, als wir mit der Arbeit begannen; eine Epoche, in der Worte wie ‚Ehre‘, ‚ Pflicht‘ und ‚Patriotismus‘ noch etwas bedeuteten. Ich glaube, dass die Kids schwer beeindruckt waren, als sie Charley’s War zum ersten Mal lasen, dass sie vielleicht das Gefühl beschlichen haben mag, dass ihnen in unserer kranken, egoistischen Welt, in der sich Gewalt und Unmoral so offensichtlich auszahlt, etwas ganz Grundsätzliches fehlt.“ Eine interessante Einstellung, zumal sie sehr in Kontrast zur subversiven und antiautoritären Haltung von Pat Mills steht. Mills‘ Anspruch ist es, in Charley’s War aufzudecken, dass der eigentliche Krieg nicht zwischen den Nationen stattfand, sondern vielmehr ein Klassenkampf war: „Charley und seine Freunde haben tatsächlich gekämpft, um jemand anders reich werden zu lassen“, sagt Mills im Vorwort zur gebunden Ausgabe von Charley’s War und nimmt dabei auch Bezug auf den damals aktuellen Film Fahrenheit 9/11, in dem der Regiesseur Michael Moore Kritik an den modernen amerikanischen Kriegen übt. Wie aber passen die von Colquhoun formulierten Werte „Ehre, Pflicht und Patriotismus“ zum von Mills gewählten Ansatz?

Prinzipiell ist Pat Mills‘ Ansatz antiautoritär und anarchistisch. Die niedrigen Mannschaftsdienstgrade, denen Charley angehört, stehen in ständiger Opposition zur elitären, abgehobenen Offizierskaste, wobei Mills‘ Sympathien eindeutig auf Seiten des einfachen Soldaten stehen. Mehrmals wird betont, dass die englische Infanterie um 1916 sich vor allem aus Freiwilligen wie dem gutmütigen Charley zusammensetzte, jungen Männern, die keine Ahnung hatten, auf was sie sich einließen und die von abgehobenen Offizieren als taktische Verschiebemasse verheizt wurden. Dennoch gibt es auch unter den Offizieren positive Figuren, beispielsweise den ritterlichen Leutnant Thomas, dem seine Menschenfreundlichkeit zum Verhängnis wird. Als er seinen Soldaten angesichts der Übermacht des Feinds den taktischen Rückzug ermöglicht, wird ihm auf Grund von Feigheit vor dem Feind der Prozess gemacht. Verbrüderung zwischen Offizieren und Mannschaften, so lernen wir, ist ebenso tabu wie die Verbrüderung zwischen Engländern und Deutschen.

Sogenannte Fraternisierungen hat es ja tatsächlich gegeben, beispielsweise im ersten Kriegswinter an Weihnachten. Auch in Charley’s War wird von so einem inoffiziellen Waffenstillstand (einem sogenannten „Christmas truce“) unter den Soldaten erzählt. Die Soldaten der gegnerischen Fronten beginnen in einem solchen inoffiziellen „Truce“, sich gegenseitig Essensrationen mit Katapulten zuzuwerfen und rufen sich dabei freundliche Worte zu. Dem verantwortlichen Leutnant – einem durchaus schablonenhaft dargestellten Offizier – bleiben diese Vorgänge nicht lange verborgen. Er zwingt einen der Soldaten, den Deutschen anstelle von Lebensmitteln eine Bombe zuzuwerfen, eine heimtückische Handlung, die in ein anschließendes Gemetzel führt. „Krieg ist kein Spiel! Zur Hölle mit Weihnachten“, sagt der Leutnant. „Zurück zur Arbeit! Schießen! Bomben! Töten!“

Unsere treuen Pferde.

Das willkürliche Sterben an der Front hat die verrohende Folge, dass das einzelne Menschenleben schnell austauschbar und entbehrlich wirkt. Diese Art zu Denken bleibt nicht nur den verhassten Offizieren und Generälen unterstellt, sie erfasst ab und an auch den Sympathieträger Charley. Nach einem verheerenden Gasangriff beobachtet Charley mit zwei Kameraden, wie eine britische Kavallerieeinheit mit ihren Pferden auf einen MG-Hinterhalt der Deutschen zusteuert. Charley möchte die Einheit retten, weiß aber nicht, wie er dieses bewerkstelligen soll, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Sein Kumpel Ginger versucht ihn zu stoppen: „Wen zur Hölle wird in fünfzig Jahren interessieren, ob ein einzelnes Kavallerieregiment ausgelöscht wurde?“ Darauf Charley: „Mich interessiert es aber JETZT! Ich habe schon so viele Tommies [britische Soldaten] sterben sehen, dass es mich nicht mehr berührt. Aber ich kann nicht dabei zusehen, wie die Pferde niedergemäht werden.“ Später, als das Gemetzel losgeht, legt Charley noch nach: „Ich mag das nicht, dass die Pferde sterben. Es kommt mir grundfalsch vor, einen modernen Krieg mit Pferden zu führen.“ (So empathievoll mit Tieren würde man sich die Figuren von Jean Michel Charlier, allen voran Leutnant Blueberry, auch manchmal wünschen, bedenkt man nur wie viele Pferde Blueberry im Verlauf der Serie zuschanden geritten oder mit Sprengstoff unterm Sattel Richtung Feind geschickt hat.)

Pferde mit Gasmasken. Die Science-Fiction wird zur Realität und erweist sich als Albtraum.

Dieser epochale Zusammenprall zwischen traditioneller Kriegsführung auf der einen und den Möglichkeiten der totalen Kriegsführung auf der anderen Seite, welche durch Industrialisierung und Fortschritt erst möglich wurde, lässt Pat Mills zu der Schlussfolgerung kommen, dass es sich beim Ersten Weltkrieg um ein Ereignis handelte, das unserer Vorstellung eines „Science-Fiction-Kriegs“ sehr nahe kommt. All die Jules-Verne-Träume von Unterseebooten und Flugschiffen hat der Erste Weltkrieg wahr werden lassen – und sogleich pervertiert. Plötzlich werden die Menschen mit ihrer durch das 19. Jahrhundert geprägten Denkweise mit Flammenwerfern, Panzern, Maschinengewehren, U-Booten, Giftgas, Gasmasken für Mensch und Tier sowie immer größer und größer werdende Kanonen konfrontiert. Pat Mills arbeitet diesen Clash in immer neuen Episoden sehr pointiert heraus, aber auch Joe Colquhoun leistet einen immensen Beitrag, dass sich das Staunen und Entsetzen, beispielsweise über das Auftauchen von Luftschiffen über London, auch auf den Leser überträgt. Charley’s War vermittelt gerade hier einen ständigen „Sense of wonder“.

Beginn des Terrors gegen Zivilisten aus der Luft.

Charley’s War ist eine Serie für Jugendliche, entsprechend wurde hier und da von der Chefredaktion zensiert. Man sieht keine Verstümmelungen, keine Gesichtsverletzungen, auch die Sprache bleibt jugendfrei, wobei Mills dennoch ein schönes Gespür für Umgangssprache an den Tag legt. Auch die Darstellung von „mercy-killings“, also Töten, um Leid zu beenden, wurde nicht gestattet. Vieles fand aber durch den Umweg der Andeutung den Weg in die Story.  So ist das Beinahe-Ertrinken eines Soldaten in einem Schlammloch mit einer solchen Intensität dargestellt, dass es letztlich keinen Unterschied macht, ob die Figur überlebt oder stirbt. Das Entsetzen über die täglichen Albträume des Kriegs lässt sich auch ohne „Splatter“ vermitteln. Es ist auch in anderen Genres, die gerne viel zeigen, eine oft gemachte Erfahrung, dass der wahre Kitzel mehr in der Andeutung liegt als im unverhüllten Zeigen.

Dennoch findet nahezu jeder menschliche Abgrund seinen Weg in die Serie, beispielsweise wenn ein General die Verwundeten besucht, dabei aber zur Bedingung macht, nicht mit allzu heftig Verunstalteten konfrontiert zu werden. Und auch Selbstverstümmelung, um dem Frontdienst zu entkommen, wird immer wieder thematisiert, ebenso Meuterei und das gezielte Töten von Vorgesetzten. Zeitweise ist Charley auch zu einem Erschießungskommando für sogenannte Feiglinge und Drückeberger abkommandiert – eine Tätigkeit, die schwere Schuldgefühle in der Hauptfigur erzeugt und dem Autor somit Gelegenheit gibt, die Frage von Verantwortung und Schuld zu diskutieren.

„Wenn wir es nicht tun, tut es jemand anders.“

Eines, was man den Machern der Serie damit sicher nicht vorwerfen kann, ist, dass sie sich hinter wohlfeilen pazifistischen Positionen verschanzen. Sie nehmen die Mentalität der damaligen Zeit ebenso ernst wie das Kriegsgenre, für das sie sich nun mal entschieden haben. Gleichzeitig loten sie nahezu lückenlos sämtliche Schattierungen und Untiefen der Begriffe Pflichtbewusstsein, Ehrgefühl und Patriotismus aus, ohne einen dieser Werte voreilig zu denunzieren. Mir fällt keine andere Comicserie ein, die die Fallhöhe dieser Begriffe und auch deren Abgründe so gründlich ausleuchtet wie Charley’s War. Alles in dieser Reihe ist ambivalent; einfache Antworten werden nicht geboten. Damit ist Pat Mills und Joe Colquhoun ein zeitloser Klassiker zum Ersten Weltkrieg gelungen, der die Arbeiten von Jacques Tardi zwar nicht ersetzen kann, diese aber um eine wertvolle Perspektive erweitert.

Die Gesamtausgabe von Charley’s War ist bei Titan Books erschienen.

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