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Kamingespräch: Was kann die Sandman-Serie bei Netflix?

Die Vertigo-Comicserie Sandman, die Neil Gaiman mit unterschiedlichen Künstlern von 1989 bis 1996 gestaltete, war eine der einflussreichsten Comicserien der 1990er Jahre und neben den Comicserien Hellblazer und Swamp Thing einer der Grundpfeiler des DC-Imprints Vertigo, das unter der leitenden Hand der Redakteurin Karen Berger ebenfalls einen bis heute nachwirkenden Eindruck hinterließ. Die Lücke, die mit dem Ende von Vertigo 2019 entstand, ist bis heute schmerzlich spürbar. Karen Berger hat inzwischen mit dem Imprint Berger Books beim Dark Horse-Verlag eine neue Heimat für progressive Comics erhalten, während DC-Comics die erfolgreichsten Vertigo-Titel mit dem seit 2019 eingeführten Black Label neu auflegt – und natürlich heißt eine der Kategorien, die nach wie vor Zugkraft entfalten soll “The Sandman Universe“.

Alle Abbildungen © DC Comics. Panel aus Sandman 6, Sound and Fury. Artwork: Mike Dringenberg.

Christian: Womit wir schon fast bei der Netflix-Adaption des Sandman wären. In Kino und Fernsehserien spürt man schon seit Jahren den Einfluss von Comics, und während einige Comic-Adaptionen recht frei mit den Vorlagen umgehen, bemüht man sich gerade in den letzten Jahren mehr und mehr um akkurate Werktreue, wenn auch mit teils fragwürdigem Ergebnis, denn der Beweis, ob eine 1:1-Nachbildung einer Vorlage der beste künstlerische Umgang ist, steht noch aus. Wenige Comics jedoch wurden wohl so akkurat, in großen Teilen wortgetreu zurückgespiegelt wie The Sandman.

Wir – Florian Schwebel, Elsa Venzmer, Philip Waldner und Christian Muschweck – wollen diskutieren, ob diese Adaption gelungen ist.

Florian: Also, vielleicht könnten wir ja zunächst mal ein paar Fakten zusammen tragen: Bei Netflix wurden vor einem Monat zehn Folgen von The Sandman veröffentlicht, einer Streamingserie von Netflix und Warner Brothers, die die ersten beiden Tradepaperbacks “Preludes and Nocturnes” und “The Doll‘s house” umsetzen. Später kam dann eine Bonusfolge, für die zwei Hefte aus dem nächsten Sammelband, “Dream Country”, verfilmt worden sind. Schon nach zwei Wochen waren laut Netflix etwa 200 Mio. Stunden des Programms weggeguckt worden. Vor einer Woche hat Neil Gaiman, Autor der Vorlage, einer der ausführenden Produzenten und quasi der Mentor der Netflixserie, via Twitter vermeldet, dass die Zukunft der Serie ungewiss sei, sie sei einfach sehr teuer.

Der Verfilmung waren Jahrzehnte gescheiterter Versuche vorangegangen, ob als Film oder als Serie, es wurden haufenweise Drehbücher geschrieben, die sich meistens, wie nun auch die Netflix – Serie, auf den Kampf zwischen der Hauptfigur Dream, dem titelgebenden Sandmann, und einem seinem Reich entflohenen Alptraum, einem Serienkiller, konzentrieren.

Die prominent besetzte Netflix – Serie hat bisher überwiegend postive Kritiken eingefahren und auch für eine verstärkte Nachfrage bei den Comics gesorgt. Allerdings wird sie nirgendwo auch nur annähernd wie früher der Comic als “Gamechanger” und als ein Höhepunkt der Form wahrgenommen.

Ich denke, wir sehen da auch beispielhaft, wie unterschiedlich die Kunstformen funktionieren.

Elsa: Als Ergänzung möchte ich einwerfen, dass Neil Gaiman auf Facebook schrieb, dass selbst, wenn Netflix die Serie absetzen wird, ein anderer (noch nicht genannter) Streaming-Anbieter einspringen würde.

Auf Facebook wurde mir vor ein paar Wochen ein Artikel des GQ-Magazins angezeigt mit dem Titel „The Sandman and the timely return of the emo leading man“, in dem sich die Autorin sowohl mit The Sandman als auch mit anderen DC-Produkten wie The Batman auseinandersetzt. Während ich den Artikel las und Stichworte wie „eyeshadow“ und „My Chemical Romance“ über meine Augen huschten, dachte ich mir: Sie hat völlig Recht!
Als ich die erste Folge von The Sandman auf Netflix ansah, fiel mir als Erstes auf, dass die Serie Emo-lastiger ist als die Comicreihe. Die Comicreihe würde ich dem Gothic-Genre zuordnen, während die Serie in eine poppigere Richtung geht. Man beachte etwa Morpheus‘ Frisur oder seine weniger weiße Hautfarbe, die ihn in der Serie menschlicher und nicht wie eine Entität – einer der Endless – wirken lässt. Dies mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass Marvel-Produkte einen großen Teil der Kino- und Streaming-Landschaft einnehmen und sich Marvel-Helden durch Witz und Heiterkeit auszeichnen. Obwohl DC-Helden schon immer düsterer waren als Marvel-Helden, wurden die Gothic-Elemente der Comicreihe womöglich deswegen heruntergeschraubt, da sie den typischen Otto-Normal-Netflix-Zuschauer verschreckt hätten.

Kein Sandman-Zeichner hat den Goth-Look schöner hinbekommen als Mike Dringenberg. Man beachte die gar nicht so bleiche Hautfarbe bei Death (neukolorierte Version). Aus: The Sound of her Wings (Sandman 8)

Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass eine Serie oder ein Film einen Comic nicht 1:1 nachahmen muss bzw. auch nicht sollte, wie Christian bereits schrieb. Die Stärke von Neil Gaimans Serienadaption Good Omens auf Amazon Prime Video zeichnet sich für mich etwa dadurch aus, dass in der Serie im Vergleich zum Buch einige Aspekte wie Handlungsstränge  geändert wurden. So konnte man als Zuschauer weiterhin Spannung erleben, selbst wenn man das Buch vorher kannte. Veränderungen sind also nicht grundsätzlich schlecht. Dennoch war ich enttäuscht, dass die Sandman-Serie nicht noch mehr Gothic-Elemente aufgriff. Obwohl ich Christian zustimmen würde, dass viele Dialoge aus dem Comic wortgetreu wiedergegeben wurden (was meiner Meinung nach nicht nötig gewesen wäre), fehlen mir hinsichtlich der visuellen Ästhetik wiederum düstere Atmosphären, die den Comic für mich auszeichneten.

Florian: Das hat meiner Ansicht nach mit zwei Aspekten der Verfilmung zu tun, die mir auch ziemlich sauer aufstoßen: zum einen war der Comic auf seine Art sehr seiner Zeit verhaftet, und das wird weder aktualisiert,  noch dargestellt, noch wird es irgendwie ersetzt, zum anderen besitzt die Serie einfach keine eigene Ästhetik. Damals hatten viele, nicht alle, Menschen, die sich mit Mythen und Dark Fantasy beschäftigt haben, einen Goth-Einschlag. Da hat sich die Comicserie schon ein bisschen subkulturell verortet und viele frühe Fans waren Goths.

Elsa: Da gebe ich dir Recht, dass die Serie keine eigene Ästhetik hat. Sie hat mich sehr an die Serie Lucifer erinnert. Zum Beispiel hätte man mit dem Coloring mehr spielen müssen.

Philip: Ich würde euch da völlig recht geben. Auch ich habe die düstere Stimmung der Comics in der Serie vermisst, und ich fand ebenso, dass die Serie nicht (oder zumindest nicht durchgängig) Atmosphäre erzeugen kann. Trotzdem gleicht die Tatsache, dass es jetzt eine Serie zu Sandman gibt, einem Wunder und dafür allein bin ich schon dankbar. Die Comics waren für mich als Teenager so enorm wichtig, dass ich gar nicht mit der Erwartungshaltung herangegangen bin, dass die Serie ein derartiges Offenbarungserlebnis wie damals darstellen würde. Ich glaube, damit täte man der Produktion Unrecht. Im Gegenteil, ich war erleichtert, wie gelungen die Serie in manchen Aspekten dann doch war. Ich finde auch, dass manche Folgen stärker herausstechen als andere, aber darüber können wir ja im Detail noch reden. Jedenfalls war Gaiman selbst involviert, und das merkt man. Auch dass Dave McKean, der die Covers der Comicreihe gezeichnet hat und sich eigentlich schon im Ruhestand befindet, für die Gestaltung der End-Credits beauftragt wurde – da wird viel Liebe zum Detail spürbar.

Florian: Sandman galt zu seiner Zeit als der Inbegriff des Ausnahmecomics. Die abgedrehten Collagencover von Dave McKean stachen in jedem Comicladen auf den ersten Blick heraus (ebenso die der Schwesterserie Hellblazer, deren Cover anfangs auch von McKean waren). Sandman hatte wahnsinnig viel Text, irre Perspektiven, surreale Szenerien. In den ersten sieben Heften gab es nicht eine konventionell aufgeteilte Comicseite. Soweit ich weiß, war es die erste Serie, die komplett in Tradepaperbacks gesammelt wurde, und das sehr zeitnahe an den Heften. Und die Paperbacks hatten Vorworte von Clive Barker und Harlan Ellison (DEM intellektuellen SF-Autor, als Kritiker so was wie ein missmutiger Papst), später von Tori Amos und Stephen King. Sandman war wahnsinnig ambitioniert und hatte immer etwas von einem verbotenen Buch voller Geheimnisse. Sandman war Kult und wurde fast ausschließlich von Student*innen gelesen. Ich mochte die Graphik der frühen Hefte nie, aber die Bildgestaltung war penibel und gleichzeitig wild. Die Netflixserie verzichtet völlig auf dieses Flair, sie versucht auch nicht, eine zeitgemäße Entsprechung dafür zu finden. Alles sieht aus wie klassischer englischer Grusel, die Bildgestaltung ist Larifari, die Erzählweise konventionell.

Im Sandman – Comic ist ALLES betont. Da musst du dauernd Pausen machen und aufmerken: ach, hier kommt wieder etwas Neues, etwas Wichtiges oder etwas Cleveres. Deswegen kann der Comic auch so viel erfinden und so viele subtile Akzente setzen: du musst den hochkonzentriert lesen, alles anderes ergäbe keinen Sinn, also kann der Autor mit deiner Aufmerksamkeit spielen, mit Klischees und mit Anspielungen.  Ein Fan hat  mir gegenüber mal behauptet, The Sandman sei die einzige Comicserie ohne Anschlussfehler oder lose Enden. Die Fernsehserie dagegen erlaubt sich Szenen, in denen wenig passiert, und dann gehen sehr wichtige Details unter: die Einführung von Desire, die Einführung der Erynnen. Es ist ja nicht so, als würde das im Comic am Anfang erklärt, aber wegen dieser Lesehaltung muss es das auch nicht.

Christian: Der Comic ist aus einer anderen, sehr experimentierfreudigen Zeit. Die Frage ist doch, ob es Sinn macht, das zu adaptieren. ich habe mir das vor allem beim Worldbuilding gedacht. Neil Gaiman hat munter das DC-Universe der 1980er in seine Serie eingearbeitet, mit einer Hölle und überhaupt einem metaphysischen Überbau, der bereits fest etabliert war,  beispielsweise die Figuren Kain und Abel in Episode 2, die ja schon in den 1960er Jahren Hosts der Anthologie-Reihen House of Secrets und House of Mystery waren. Es wäre sonst auch befremdlich, dass Gaiman sein Universe einerseits stark an der christlichen Mythologie anlehnt, andererseits aber nach dem Konzept arbeitet, dass alle Mythologien gleich wahr und gleichzeitig erfunden sind. Das ist nicht 100% stringent.

Florian: Ja, das sind jetzt bei Netflix lauter herumbaumelnde Blinddärme.

Christian: Ja, sind sie. Aber durchaus witzig und offensichtlich kommen sie beim Publikum gut an. Wir Sandman-Leser der Anfangsjahre fanden sie ja auch als Figuren vor, zu denen wir keinen Bezug hatten, von daher sehe ich das nicht problematisch. Schwierig wird es aber mit der Fülle an Figuren. Es ist bis zum Ende der Staffel nicht klar, was die Endless eigentlich sein sollen. Wer ist diese*r Desire? Und vor allem Despair?

Desire und Despair. Aus The Doll’s House (Sandman 10). Art: Mike Dringenberg.

Florian: Die Comicserie macht bei aller Verstiegenheit und viel weniger stringenter Erzählweise deutlich: Fantasie und Verlangen, also Dream und Desire, sind  in dieser Geschichte Todfeinde. Verlangen und Verzweiflung, also Desire und Despair, stecken unter einer Decke und wollen die Menschen versklaven, Fantasie und Träume befreien sie. Das finde ich ziemlich schlimm, in vieler Hinsicht, aber es ist ein stimmiges Konzept. Und aus diesem Konzept ergibt sich ganz viel an Geschlossenheit.

Christian: Bei den Comics war Monat für Monat nach 24 Seiten Schluss. Bereits der erste Auftritt von Desire und Despair brachte Futter für Gedanken und Fantasie, das für viele Wochen reichte. Man legte die Hefte weg, nahm sie später wieder in die Hand und hatte zudem noch Monat für Monat eine Leserbriefseite, auf der lebhaft diskutiert wurde. Auch bei den Paperback-Versionen ist es so, dass selbst die wenigen Episoden mit Desire und Despair anders rezipiert werden. Man arbeitet gedanklich mit dem Figurenkonzept. Wenn in der Serie dagegen Despair als dicke Frau mit Hang zur Selbstverletzung eingeführt wird, dann bringt das nur Irritation. Ich finde die Darstellung einerseits nicht zielführend und auch fast unangemessen. Die Fernsehserie macht vieles richtig, aber hier hängt sie zu sehr am Originaltext.

Florian: Ja, sehe ich auch so. Sie findet keinen Ton, wir sehen eine Menge Zeug und sind etwas indifferent. Ich empfinde die Serie aber auch einfach als ein bisschen schludrig gemacht. Sie beginnt bereits mit einem Mann, der mit einem Wagen vorfährt, aussteigt, ein Haus betritt, die Treppe hochgeht – das ist ziemlich genau Hitchcocks Version von einer schlechten Sequenz, weil die eigentliche Szene erst später beginnt. Gaiman hat streckenweise ein einzelnes Panel auf einer Seite in allen Details beschrieben, bevor es gezeichnet wurde, und das ist die besondere Qualität des Comics auch für die größten Skeptiker, das merkst du.

Elsa: Ich gebe Florian da Recht. Die Serie hat am Anfang zu wenig erklärt, worum es eigentlich geht. Ich empfand den Rhythmus der Serie auch als seltsam. Bei Comicheften gibt es zwischen der Veröffentlichung ja immer eine Pause dazwischen. Aber in der Serie haben sich die Handlungsstränge der unterschiedlichen Folgen zu abgehackt angefühlt. So, jetzt ist das Thema erledigt, jetzt gehen wir zum nächsten über, war wohl das Motto. Die Zusammenhänge werden nicht deutlich.

Philip: Ich finde auch, dass sich die Serie zu sklavisch an den Originaltext hängt und zu wenig eigene Akzente setzt. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: Die Serie ist im Gegensatz zur Comicvorlage nicht in ein größeres DC-Universum eingebettet. Vielleicht war das auch ein bewusstes Kalkül der Serienmacher, um sich vom Trend der Marvel/Disney Serien abzugrenzen. Dort vertraut man sehr darauf, dass die Zuseherinnen und Zuseher bei jedem Gastauftritt ihrer Lieblingshelden bzw. jeder Querverbindung zu vertrautem Material aufjubeln, so dass man sich kaum noch darum bemüht, eine plausible Geschichte mit Anfang, Mitte, und Ende zu erzählen. Dagegen ist Sandman, wie ich finde, eine willkommene Abwechslung. Nehmen wir die Folge „24/7“ zum Beispiel, die mir aus der ganzen Serie am besten gefallen hat. Es hätte nur abgelenkt, wenn John Dee (David Thewlis) seine Superschurkenidentität „Doctor Destiny“ auch noch mit sich herumschleppen würde. Zuseherinnen und Zuseher, welche die DC-Comics nicht kennen, hätten sich ständig gefragt, wer ist das?, muss ich den kennen?, was fehlt mir hier, um die Geschichte zu verstehen? etc. Oder umgekehrt: Entkäme John Dee aus dem „Arkham Asylum“, hätten DC-Fans ständig darauf gewartet, dass Batman gleich um die Ecke schaut, anstatt sich darauf zu konzentrieren, was hier eigentlich erzählt wird.

Florian: Ich glaube nicht, dass das als DC-Serie wahrgenommen wird. Ich denke, DC geht hier den gleichen Weg wie zur Zeit von Sandman in den Comics: Vieles für unterschiedliche Zielgruppen anbieten, ein bisschen Kunst hier und da zulassen, eben NICHT alles zu einer Soap zu verbinden, wie es damals auch Marvel im Print gemacht hat. Sie hätten aber natürlich in die Richtung eines Vertigo-Universes gehen können, denn Lucifer ist ja ein Sandman spin-off, und Matt Ryan ist in Legends of Tomorrow ein ziemlich guter John Constantine.

Elsa: Ich finde es auch gut, dass die Netflix-Serie nicht versucht, an ein “DC-Universe” anzudocken. Es wird sich in der Serie auf die Charaktere konzentriert, anstatt auf das Aufbauen von Serialität im Universe.

Philip: Obwohl ich das Setzen von neuen Akzenten begrüße und ebenso den Verzicht auf die Einbettung in ein größeres Universum – die Ersetzung von John Constantine, dem Protagonisten der verwandten Horrorserie Hellblazer,  in Episode 3 durch die weibliche Johanna (Jenna Coleman) hat mich trotzdem gestört. Wahrscheinlich weil ich die Dynamik zwischen Morpheus und John im ersten Sandman-Comicband immer schon spannend fand und ich finde, dass sich dieses Verhältnis nicht so einfach auf Morpheus/Johanna übertragen lässt. Vom misanthropischen Kettenraucher hat Johanna gar nichts.

Christian: Dabei hat doch gerade Neil Gaiman um 1989/90 einige der poetischsten Stories um Costantine geschrieben (Hellblazer 27: Hold me, Sandman 3: Dream a little dream of me, aber auch in seiner Miniserie Books of Magic).

Sandman und Constantine. Artwork: Sam Kieth. Aus: Dream a little Dream of Me (Sandman 3).

Florian: Gaiman wollte Hellblazer 1988 schreiben, aber da saß schon Jamie Delano dran, deswegen schuf Gaiman Sandman. Ich mag Jenna Coleman immer, aber sie war mir hier nicht tragisch genug. Das Comicheft erwischt mich kalt, wenn ich es nur durchblättere.

Christian: Die Figur der Johanna Constantine ist einerseits ein Bruch mit der Vorlage (aus welchen Gründen auch immer), andererseits war das Namedroppinmg in gerade dieser Folge im Constantine-Kontext fast schon aufdringlich: Kit Ryan wird genannt, Chas, Rick the Vic, der Newcastle-Zwischenfall, Astra, das waren zu viele Easter eggs. Die Special Effects waren in dieser Folge zudem etwas gewöhnungsbedürftig und man hatte das Gefühl, die Serie würde noch ihre endgültige Richtung suchen. Das war in den Comics auch so – aber muss man dieses unsichere Tasten wirklich 30 Jahre später noch so übernehmen?

Florian: Ich habe mich schon beim Sandman-Hörspiel auf audible gefragt (Riesenhype, teuerstes Audio aller  Zeiten usw.), warum Meister Gaiman seine alten Trippel- und Torkelschritte (die da AUCH drin sind) in anderen Medien verewigen will. Er hat Sandman in seinen 20ern unter katastrophalen Rahmenbedingungen geschrieben, da gäbe es schon Raum für Verbesserungen.

Elsa: Mir gefiel, dass in der Extrafolge „Dream of a Thousand Cats“ auch mal mit Animation gearbeitet wurde. Allerdings fand ich die Animation (mein persönlicher Geschmack) weniger gelungen. Hier hätte man die Möglichkeit gehabt, den Gothic-Stil mal aufzugreifen, z.B. in Form von Lynchian (Alb-)Traumwelten, aber die Chance hat man nicht wahrgenommen.

Florian: So was von Ja! Da hätten sich generell viele verschiedene Stile austoben können und sollen. Das hätte auch durchaus ein bisschen mehrspuriger erzählt werden können, wenn die Träume der Menschen ineinanderfließen. Das war alles knapp an einer Bierwerbung vorbei, finde ich. Es gibt scharenweise großartige Animator*innen, die nichts zu tun kriegen (außer Bierwerbung), und für die eine Sandman-Serie so gemacht sein müsste wie früher der Comic für Zeichner*innen.

Elsa: Um aber auch mal positive Aspekte der Serie anzusprechen: Ich finde den Cast sehr gelungen. Ich finde es gut, dass die Entitäten wie Lucifer androgyn gecasted wurden. Man könnte der Serie woke vorwerfen, allerdings fand ich die Änderungen sehr positiv. Vor allem die Schauspielerin, die Rose spielt, empfand ich als sehr sympathisch. Aber auch Gwendoline Christie als Lucifer war perfekt besetzt. Auch, dass die Ästhetik poppiger und moderner war, fand ich grundsätzlich gut, da wir ja nicht mehr in den 80er Jahren leben. Ich hätte es aber gut gefunden, wenn Altes und Neues vermischt worden wäre – Gothic und Pop.

Philip: Den diversen Cast fand ich auch super. Vor allem bei Death stelle ich mir vor, dass das Casting schwierig war. Unter den Comicfans ist sie die beliebteste Figur und Gaiman hat oft in Interviews erzählt, dass viele Menschen ihn daraufhin angesprochen haben, wie sehr ihnen die Vorstellung vom Tod als Frau, die einem freundlich und gut gelaunt im Jenseits erwartet, geholfen hat, über den Tod von Angehörigen hinwegzukommen. Dass der Tod jetzt eine Schwarze ist und kein bleiches Goth-Mädchen wie in den Comics macht da gar nichts, vor allem weil Kirby Howell-Baptiste ihre Rolle so toll spielt. Wichtig ist, dass alle von Deaths Charakterzügen gewahrt bleiben, was absolut der Fall ist. Wie man in dem Gespräch mit ihrem Bruder Morpheus, das fast eins zu eins aus dem Comic übernommen wurde, sehr gut sehen kann.

Sehr ikonisches Bild von Dream und Death. Art: Mike Dringenberg. Aus: The Sound of her Wings (Sandman 8)

Florian: ich bin zwiegespalten. Lucienne fand ich großartig, das war aber auch ein völlig neuer Charakter, Rose Walker fand ich auch sehr gut, da wurde sehr nahe an der Vorlage halt ein bisschen anders erzählt. Death hat mich nicht so überzeugt, und ich finde, da hat sich Gaiman einen etwas schlanken Fuß gemacht, mit seiner Stellungnahme: “Für mich war sie immer viel mehr als eine weiße Frau”, das ist so eine Aussage wie “Für mich war Batman immer mehr als spitze Ohren, er war der Kampf für die Unschuldigen”. Natürlich war sie das, das sind völlig verschiedene Ebenen, und gerade Gaiman hatte vorher bei Death immer dafür gesorgt, dass es keine anderen Bilder von ihr gab als dieses (hellhäutige) Gothmädchen. Dream sehen wir auch als afrikanischen Gott und als Katze usw., aber Death war immer so ein Brand. Er kann das ja jetzt korrigieren, aber bei seinem Kontrollbedürfnis (das ich verstehen kann) schiebt er da verwirrten Fans seine Entscheidungen der letzten Jahrzehnte zu. Und ich fand Death zu patzig, nicht verträumt genug, diese Mischung aus höherer Tochter (die ja auch damals viele genervt hat) und uralter Weisheit, das ist eine andere Figur. Und in diesem Fall funktioniert es für mich nicht. Sie kann natürlich eine PoC sein, aber sie wirkt für mich wie aus einer anderen Netflixserie.

Elsa: Stimmt! Death war eher nichtssagend. Vielleicht war die Rolle zu jung besetzt?! (bezogen auf die Weisheit, die sie ausstrahlen soll)

Christian: Death fand ich in ihrem Spiel so überzeugend, dass ich hier keinen Fehler sehe, auch wenn ich die Argumentation mit dem schlanken Fuß nachvollziehen kann. Tatsächlich gefiel mir die Death-Folge in ihrer Zweiteilung mit den Geschichten „The Sound of her Wings“ / „Men of Good Fortune“. Was mich viel eher stört ist die Figur Death an sich, an der nichts plausibel ist. Sie müsste so, wie Santa Claus alle Kinder dieser Welt besucht, alle Sterbenden abholen. Bei ihrem Tempo schafft sie den kleinsten Teil der Menschheit, obwohl Death ein kulturübergreifendes Konzept ist (sie ist ja für alle Völker da und deswegen ja auch colour blind besetzt). Durch die Zeit reisen können die Endless aber auch nicht.

Elsa: Ich schätze, das ist eine Art Genre-Konvention, die man akzeptieren muss. Das ist genauso, wie wenn Superman seine Brille absetzt und keiner erkennt Clark Kent mehr.

Philip: Wirklich logisch ist das tatsächlich nicht, wobei mir die Idee von Death als Santa Claus gefällt. Ich glaube, man kann das nur wirklich lösen, wenn man annimmt, dass Death an mehreren Orten gleichzeitig sein kann?

Christian: Suspension of Disbelief fällt mir im Comic leichter.

Philip: O ja, mir auch!

Florian: Death müsste eigentlich das Gegenteil sowohl von Dream als auch von Desire sein, – weder streng noch nachlässig, weder in sich gefangen, noch lustgetrieben, weder arrogant, noch grausam. Das sind verschiedene Haltungen und die gehören gegeneinander gestellt. Und sie ist scheinbar überall, sie agiert außerhalb der Zeit, das wurde in diesen Nebenserien, glaube ich, ausgeführt.

Chris: Man darf nicht zu viel darüber nachdenken. Was ziemlich problematisch ist bei einer Serie, die besonders intelligent, aufgeklärt, reflektiert und inklusiv sein soll.

Elsa: Sind euch noch positive Dinge aufgefallen? Ich habe das Gefühl, wir zählen vielleicht zu viel Negatives auf.

Desire is a creature of the moment. Aus: Lost Hearts (Sandman 16). Art: Mike Dringenberg.

Florian: Ich fand Desires Palast super. Ich fand Merv Pumkinhead, Matthew, Goldie und dieses nette Monster aus Barbies Traum, Martin Tenbone, gut. Gute Viecher, immer viel wert. Ich mochte die Musik, dieses Nightmare on Elm Street– ähnliche Thema, David Thewlis war großartig, wie immer, und Stephen Fry auch. Ebenso Lucienne (Vivienne Acheampong), Rose (Vanesu Samunyai) und der Corinthian. Ich fand einige der Szenen im Dreaming (vor allem die späten, surrealeren) sehr atmosphärisch, aber etwas kurz, und ich fand die erste Fahrt durch das Dreaming klasse und als Erfüllung eines Fanboy-Traums, auch wenn es wie ein Freizeitpark aussah.

Christian: Ich ging mit einem wirklich guten Gefühl aus der letzten Episode der Serie. Aber von Anfang an: Folge 1 nimmt einen mit, auch den DC-ungeübten Betrachter und entführt in eine zugegeben etwas zu überästhetisierte Welt. Ab Folge 5, wo ich die ersten 20 Minuten am liebsten noch genervt den Fernseher ausgeschaltet hätte, sprang der Funke irgendwann über. Ich fand das erzählerisch fast auf einer Ebene mit Georgios Lanthimos-Filmen wie The Lobster oder The Killiing of the Sacred Deer. Morpheus Erklärung darüber, weshalb John Dee falsch liegt, fand ich beim ersten Sehen unheimlich erhellend, etwas später aber dann auch als aufgesetzte Interpretation etwas zu sehr on the nose. Es wird eigentlich zu viel Interpretation vorgekaut – vermutlich aus Angst, der Zuschauer kommt sonst nicht mit.

Die “Collectors”-Geschichte (Episode 9) ist eine eigentlich schon recht witzige schwarze Komödie, mal abgesehen davon, dass Serienkiller in der Netflix-Serie schon wieder zu cool inszeniert werden, während Gaiman und Buckingham in den Comics doch tatsächlich das Kunststück gelang, eine fundierte Kritik am Serial-Killer-Hype zu üben. Da war nichts cool, ästhetisch – naja die Cereal-Convention mit ihren Panels hatte auch damals grotesken Humor. Außerdem hat die „Doll’s House“-Geschichte ein schönes Wechselspiel aus Episodenhaftigkeit und übergeordnetem Plot. The Dreaming spielt auf einmal eine Rolle und das Worldbuilding wird stimmiger. Die Bilder sind teilweise recht stark, anders als die CGI-Hölle (im doppelten Sinn) aus Episode 3.

Serienkiller gar nicht cool. Aus: Collectors (Sandman 14). Art: Mike Dringenberg.

Elsa: Den Serial Killer-Aspekt, den du ansprichst, finde ich sehr interessant, da auch vor allem auf Netflix diese “Killer True Crime Documentaries” sehr gehypt werden. Man könnte fast spekulieren, dass in der Serie auch Netflix selbst etwas kritisiert wird. Ich empfand es schon auch in der Serie so, dass Serienmörder als Loser dargestellt werden.

Philip: Also für mich war auch Folge 5 der Wendepunkt, wo ich gemerkt habe, dass mir Aspekte der Serie gefallen. Vor allem war man hier relativ nahe dran am Horror der Vorlage. „24/7“ fand ich immer absolut grauenerregend. Die Serienkiller-Convention war mir wiederum zu albern. Großartig aber, wie sie den Corinthian zum Hauptantagonisten gemacht und seine Rolle ausgeweitet haben.

Florian: Ende der 1980er kamen die ersten Sachbücher über Serienmörder heraus und waren zum Teil verwirrend wohlwollend. Eines dieser Bücher “Killing for Company”, über Dennis Nilssen, wird im Comic in einer Sprechblase auf der Convention fast wörtlich zitiert.

Bei der Serie hatte ich nicht diese Angst, die ich im Comic tatsächlich hatte, das war alles etwas alberner, trotz der dicken Satire. „24/7“ fand ich im Comic auch wesentlich eindrücklicher, aber da waren auf einmal größere Umarbeitungen für die Netflix-Adaption, und sie haben gut funktioniert und zur Form gepasst.

Elsa: Da ihr einzelne Folgen angesprochen habt: Ich persönlich fand die Folgen 1 und 6 am besten (so sehen das scheinbar auch die Zuschauer auf IMDB). Komischerweise hat mir Folge 5 gar nicht gefallen. Im Comic empfand ich die Storyline als sehr beängstigend, in der Serie dann nur noch als langatmig und sich ständig wiederholend. Aber Geschmäcker sind bekanntlich verschieden.

Ich weiß nicht, ob ich mich daran falsch erinnere, aber ich dachte im Comic hätte sich die Freundschaft zwischen Dream und Hob Gadling langsam entwickelt. In der Serie wurde die Freundschaft dann in eine Folge gequetscht. Ich fand die Folge zwar sehr gut, fände es aber seltsam, wenn Hob Gadling jetzt nie wieder auftauchen würde. Dass eine Freundschaft über mehrere Jahrzehnte und Jahrhunderte erzählt wird, fand ich schon bei Good Omens sehr spannend und auch hier. Dass sich Gaiman anscheinend darüber Gedanken macht, was (fast) unsterbliche Entitäten auf der Welt machen würden und wie sich Freundschaften gestalten würden.

Philip: Im Comic wird die Freundschaft zwischen Dream und Hob auch nur in einer einzigen Ausgabe entwickelt. In der Serie ist es halt nur die Hälfte einer Folge (die andere “The Sound of her Wings”). Das ist vielleicht etwas zu wenig, das mag sein. Eine Idee, die mir gefallen hat, ist dass Dream wegen seiner Gefangennahme eines der Treffen mit Hob zunächst versäumt. das ist im Comic anders und die Tatsache, dass Hob zunächst glaubt, Dream hätte ihn versetzt fügt eine zusätzliche Ebene dazu, bzw. macht das Ende noch wirkungsvoller.

Elsa: Da hast du völlig Recht!

Florian: Dazu https://www.rogerebert.com/streaming/the-sandman-tv-review

Ich glaube, ich werde nicht weiterschauen, außer, um dann mit Euch drüber zu reden. Aber es sieht ja nicht unbedingt so aus, als ob es weitergehen würde. Die Streamingwelt ist völlig aus den Fugen, und wir erleben da gerade den Kipppunkt.

Im Comic radikal, als Serienepisode immerhin experimentell: 24 Hours, bei Netflix 24/7 (Sandman-Heft 5). Artwork: Mike Dringenberg.

Christian: Ich gebe Elsa Recht mit Folge 5, dass sie sich in ihrer Erzählschleife zu lange um sich selbst dreht. Zunächst hat mich das auch genervt, denn was im Comic radikal war, wirkt im Film eher pflichtschuldig mit eingearbeitet. Trotzdem fand ich sie inszenatorisch nicht uninteressant und mutig. Nach Folge 5 hat mich tatsächlich keine Folge mehr gelangweilt. Hier und Da ein störendes Detail, aber das haben wir oben schon angesprochen. Ich werde die Fernsehserie weiterempfehlen. Neil Gaimans Story scheint mir im Comic eher zu Hause zu sein, aber die Netflix-Serie transportiert viele Ideen gut. Ich sehe sie in der Tradition anderer Fantasy-Serien, die einer näheren Überprüfung ihrer Logik nicht standhalten können, aber dennoch ungemein Spaß machen.

Ich fände es schade, wenn es nicht weiterginge, aber selbst dann wäre ich mit dem Gesehenen zufrieden. Die Sandman-Comics werden sicherlich relevant bleiben, die Netflix-Serie eher Episode. Aber eine sehenswerte.

Elsa: Ich würde die Serie grundsätzlich auch weiterempfehlen. Sie hat mich nicht gelangweilt.

Philip: Ich würde die Serie auch weiterempfehlen, aber mit den Vorbehalten, die wir angesprochen haben.

Christian: Vorbehalte erspare ich mir. Weniger comicaffine Freunde und Bekannte haben durchaus kein Problem mit Dingen, an denen wir uns stören. Die sehen da halt so ein abgedrehtes Comicding und finden das cool.

Philip: Ja, ich glaube es macht einen großen Unterschied, ob man die Vorlage kennt oder nicht.

Florian: Ich habe den Eindruck, die Serie wird einfach als eine Menge an Zeug wahrgenommen. Und in mancher Hinsicht ist das vielleicht sogar als Türöffner und Feuerwerk an Eindrücken und Ideen gar nicht so weit weg von der Comicrezeption damals.

(Beitragsbild © DC Comics. Artwork: Mike Dringenberg)

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