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Das Susan-Problem und andere Geschichten

Der erfahrene Neil-Gaiman-Leser erkennt die Andeutung im Titel natürlich sofort: Mit Das Susan-Problem nähert Gaiman sich einmal mehr dem großen Fantasy-Autor Clive Staples Lewis und dessen Chroniken von Narnia an.

Alle Abbildungen © Dantes Verlag

Narnia ist ein wiederkehrendes Motiv in Gaimans Œuvre. Bereits in den frühen Sandman-Geschichten manifestierte sich eine Narnia-ähnliche Welt in den Träumen Barbies, die sich gern in ein verzaubertes Land mit einem mächtigen Tierwesen namens Martin Tenbones träumte. Im Erzählzyklus A Game of You (dt. Über die See, zum Himmel) wird diese Traumwelt, die wie Narnia stets von finsteren Mächten bedroht zu sein scheint, sogar zum zentralen Handlungsort. Interessant ist der Bruch zum literarischen Vorbild. Bei Gaiman besitzen die Besucher der Traumwelt, als wir sie kennenlernen, nicht die kindliche Unschuld und sexuelle Unbedarftheit der Narnia-Kinder. Daraus entsteht zu einem nicht geringen Teil die Spannung dieser Gaiman-Anverwandlungen.

Auch Das Susan-Problem, ursprünglich eine Kurzgeschichte aus Fragile Things, handelt von ebendieser Bruchlinie. Gaiman greift das große, tragische Ereignis auf, das am Ende der letzten Narnia-Erzählung steht, ein Zugunglück, bei dem die Pevensie-Kinder getötet werden, was die Kinder aber erst realisieren, als sie längst schon wieder in Narnia sind. Dort werden sie von nun an für immer die Geschichte leben dürfen, „die ewig weitergeht und in der jedes Kapitel besser ist als das vorangegangene“.

Doch nicht alle Pevensie-Kinder sind glücklich übergetreten ins Zauberland. Die älteste Schwester, Susan, ist dem Land Narnia schon lange verlorengegangen und hat nur noch Gedanken für „Nylonstrümpfe, Lippenstifte und Einladungen“. Dazu meint ihre Tante Polly, ebenfalls beim Zugunglück gestorben, aber im Inneren stets ein Kind geblieben: „Sie hat ihre ganze Schulzeit vergeudet, um in das Alter zu kommen, in dem sie jetzt ist, und sie wird den ganzen Rest ihres Lebens vergeuden, um in diesem Alter zu bleiben.“ Danach wechselt Peter Pevensie in Lewis‘ Roman so abrupt es nur geht das Thema: „Sprechen wir doch jetzt von etwas anderem. Seht nur, hier hängt herrliches Obst an den Bäumen. Wir sollten was probieren.“

Und damit war Susan, die im Übrigen nicht beim Unglück dabei war, vergessen. Neil Gaiman, selbst ein großer Bewunderer von C.S. Lewis, hat sich in seiner Kurzgeschichte The Problem of Susan diesen Themas angenommen und eine dichte Geschichte gewoben, die von Kindheitstraumata handelt, aber auch von den vielen Häutungen und Wandlungen, die man in einem langen Leben durchmacht. Nur die Märchenfiguren scheinen konstant zu bleiben – aber auch dessen sollte man sich nicht sicher sein.

„Nylons and Lipstick“. Artwork: P. Craig Russell

Ebenso wie Das Susan-Problem ist auch Löckchen, die zweite Story des vorliegenden Bandes, bei aller Kürze eine erstaunlich weitgefasste Reflexion über Literatur, sowohl darüber, wie sich das Märchen um Goldilocks und die drei Bären im Lauf der Jahrhunderte immer wieder gewandelt hat, als auch darüber, wie man je nach Lebensalter stets Neues in alten, scheinbar vertrauten Texten entdecken kann. In seiner Geschichtensammlung Fragile Things benötigt Neil Gaiman für die Story Locks gerade mal drei Seiten, die Zeilen dabei lyrisch zu Versen verdichtet. Der Künstler P. Craig Russell benötigt immerhin vier Comicseiten für seine akkurate Adaption, die Gaimans Text nicht kürzt, aber auch nicht nur illustriert, eher visuell anreichert. Aber egal wie sensibel und ästhetisch Russells Arbeit auch ist, dem Textverständnis stellen sich seine Bilder bisweilen in den Weg.

Einfach und intuitiv erschließt sich Locks in Gaimans ursprünglichem Spiel aus wechselndenen Schrifttypen, wörtlicher Rede in Anführungszeichen und präzise platzierten Absätzen. Russells Bilder dagegen machen die Beziehung zwischen Text und Bild bisweilen unscharf, so dass teils nicht klar unterscheiden kann, ob hier mit den Augen des Kindes, des Erzählers oder einer dritten, übergeordneten Erzählinstanz gesehen wird. Das ist kein Einzelfall bei P. Craig Russells Gaiman-Adaptionen: Auch seine Comicversion von Dream Hunters nimmt der ursprünglichen Prosaversion bei aller Behutsamkeit in der Textreduktion einiges von der ursprünglichen Klarheit. Eine ‚Neil-Gaiman-Story, gesehen mit den Augen von P. Craig Russell‘ ist etwas anderes als eine ‚Neil-Gaiman-Story‘. Das verleiht Russells Adaptionen Fallhöhe und Spannung.

Löckchen ist eine wortgtreue Adaption von Gaimans Versgedicht Locks (, das sich auch im englischen Original nicht reimt).

Auch die anderen beiden Geschichten des Bandes sind aus Fragile Things, doch von anderen Künstlern gestaltet. Die mit 28 Seiten längste Geschichte, Oktober im Sessel, ist von Scott Hampton adaptiert, das textlich unverändert gebliebene Prosagedicht Der Tag an dem die fliegenden Untertassen kamen von Paul Chadwick lediglich in ganzseitigen Splashpanels recht ansprechend illustriert. Oktober im Sessel ist dabei die konventionellste Geschichte, nicht ohne Grund hat Neil Gaiman sie Ray Bradbury gewidmet, der ja auch ein sehr klassischer Erzähler war. Ganz ohne surrealen Twist kommt Gaiman in dieser Geistergeschichte aber auch nicht aus, und auch, wenn sich nicht ganz erschließt, wieso sich die Monate des Jahres an einem Feuer zusammensetzen und sich gegenseitig Geschichten erzählen, so hat die Idee doch einen eigentümlichen Reiz.

Einen schönen Kontrast zu P. Craig Russells klarer Linie bietet Scott Hamptons Adaption von October in the Chair, mit 28 Seiten die längste Geschichte.

Jens R. Nielsen und Josch Dantes haben wieder viel Liebe in diese Veröffentlichung einfließen lassen, was sich auch in dem umfangreichen Glossar wiederspiegelt, das von Nielsen kenntnisreich und mit viel Freude am Entdecken von Zusammenhängen verfasst worden ist. Auch Nielsens Übersetzung liest sich gefällig, und seine Anmerkungen dazu gefallen mir ebenso. Einige Word-Clippings jedoch – es sind zum Glück nur eine knappe Hand voll – hätte er sich getrost sparen können. Wieso nur muss die junge Wissenschaftlerin in der Susan-Story sagen, was sie vor „mei’m inneren Auge“ sieht. „Vor meinem inneren Auge“ hört sich, schnell gesprochen, exakt so an, wie es der Text mit komplizierten Sonderzeichen meint, extra darstellen zu müssen. Regionalität oder Slang spüre ich, wenn ich das lese, jedenfalls nicht, nur einen Stolperer im Textfluss, in der sich der Übersetzer ohne Not sichtbar macht.

Neil Gaiman hat mich zum C.-S.-Lewis-Fan gemacht.

8von10Das Susan-Problem und andere Geschichten
Dantes Verlag, 2021
Text: P. Craig Russell u. Paul Chadwick, nach Neil Gaiman
Zeichnungen: P. Craig Russel, Scott Hampton, Paul Chadwick
Übersetzung: Jens R. Nielsen
84 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 17,00 Euro
ISBN: 978-3946952657
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