„Spieglein, Spieglein an der Wand, / wer ist die schönste im ganzen Land?“ –
Jedes Kind kennt die Zeilen der eitlen Königin, die alles daran setzt, ihre schöne Stieftochter zu töten. Seit der Erstausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm im Jahre 1812, in der das Märchen noch Schneeweißchen/Sneewittchen hieß (im Englischen Raum gilt Schneeweißchen und Rosenroth zudem als zweites Snow-White-Märchen), wurde der Stoff unzählige Male populär bearbeitet. Ob als (Zeichentrick-)Film, z. B. von Siegrid Alnoy oder als Inspiration dienend für Dario Argento (Phenomena, Suspiria), als Literaturadaption, z. B. von Karen Duve oder Angela Carter, als Liederzyklus von Hermann Franke und Franz Abt, als Dailystrip von Disney oder auch als Bilderbogen des 19. Jahrhunderts – das Märchen zählt zum Weltkulturerbe.
Somit verwundert es nicht, dass auch von Schneewittchen immer mal wieder Comicadaptionen publiziert werden. Bereits im 19. Jahrhundert lassen sich erste Einblattdrucke sequenziellen Inhalts ausmachen, wie etwa der Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt Nr. 43 von 1868 oder der Münchener Bilderbogen Nr. 1000 von 1890. Sie illustrieren, teils ohne Text, die Kernszenen des Märchens und nehmen comictypische Elemente vorweg.
Doch auch im 20. und 21. Jahrhundert steht die schwarzhaarige Schönheit immer wieder im Rampenlicht, sei es in Fables oder den deutlich unter ihrer Möglichkeiten bleibenden Grimm Fairy Tales, deren Pin-Up-Cover den übrigen Zeichnungen deutlich überlegen sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient indes Snow White and the Seven Dwarfs von Merrill de Maris (Text), Hank Porter und Bob Grant (Zeichnungen), die zwischen dem 12. Dezember 1937 und dem 24. April 1938 als Sonntagsseite in amerikanischen Tageszeitungen erschienen. Als Teil der Marketingkampagne zum Film herausgegeben, werden Schneewittchens Abenteuer hier deutlich erweitert. So trifft sie im zweiten Strip bereits auf den Prinzen, ehe sie, von der Königin vertrieben, durch den Wald fliehen muss und Zuflucht bei den Zwergen findet. Der Prinz indes wird von der bösen Königin gefangen gehalten und ihm gelingt erst die Flucht, als seine große Liebe bereits vom Apfel aß. Szenen, die vielleicht als Teil des Films gedacht waren, aber der Schere zum Opfer fielen.
Michael F. Scholz verweist in ,Comics‘ in der deutschen Zeitungsforschung vor 1945 auf eine weitere Disneyadaption, publiziert zwischen 1938/39 in Der Kiebitz: Sie genießt heute Seltenheitswert. Weiterhin wurde damals auch eine Schallplatte mit der Filmmusik herausgegeben – der Film selbst erlebte indes vorerst keine Aufführung (UA: 1950), denn nur wenige Monate später brach der Zweite Weltkrieg aus.
Doch handelt es sich bei Schneewittchen keinesfalls um ein Märchen aus der Feder der Brüder Grimm. Vielmehr wurde es ihnen zugetragen und bereits zuvor in verschiedenen Fassungen publiziert, etwa von Johann Karl August Musäus unter dem Namen Richilde. Hier sind die Haare des Mädchens, genannt Blanka, noch nicht schwarz und die Gefahr geht nicht etwa von der Stiefmutter, sondern von der eigenen Mutter aus. Musäus erzählt darüber hinaus eher die Geschichte der Mutter – das Kind spielt nur eine untergeordnete Rolle. Vieles bezieht sich auf das religiös geprägte Leben der Zeit, so erwacht Blanka etwa aus ihrem Todesschlaf, nachdem ihr der Prinz eine Reliquie auf die Brust legt. Zentrale Motive wie der Spiegel, die Zwerge, der Glassarg, der Apfel und die rotglühenden Schuhe sind bereits vorhanden. In einer Dramenfassung des Grimm’schen Namensvetters Albert Ludwig Grimm (sowohl die Brüder Jacob und Ludwig als auch Albert Ludwig verwiesen immer wieder darauf, dass man nicht in einer verwandtschaftlichen Beziehung stand und es entbrannte ein Streit in den Vorwörtern der einzelnen Publikationen, in dem man sich gegenseitig beleidigte, was vor allem auf den Umstand zurückzuführen war, dass zu Beginn einzig die Märchen Albert Ludwig Grimms in Schulen gelesen wurden), findet Schneewittchen auf einem gläsernen Berg Zuflucht.
Die neueste Comicadaption stammt nun vom französischen Szenaristen Lylian (Der Reverend) und der Zeichnerin Nathalie Vessillier. Der Autor orientiert sich in seinem Szenario weitestgehend an den Brüdern Grimm und weicht nur in wenigen Momenten von der heute bekannten Ausgabe letzter Hand ab, um der bekannten Geschichte eine gewisse Modernisierung anheimfallen zu lassen, vielleicht auch, um die Spannung zu erhöhen. Sie wirken sich allesamt negativ auf den Text aus. Vermutlich geschieht der Griff zur eigenen Idee aus Unwissenheit über andere Fassungen, was sich exemplarisch an den Namen der Zwerge verdeutlicht: Lylian zollt den Brüdern Grimm Tribut, indem er zwei der Zwerge nach ihnen benennt. Ein Johann Karl oder Albert Ludwig lassen sich indes nicht ausmachen. Eine genaue Kenntnis der Textfassungen hingegen hätte den Comic deutlich bereichert. Man nehme etwa ein Kuriosum der handschriftlichen Urfassung der Brüder Grimm: Der Königssohn lebt hier lange mit einem toten Schneewittchen zusammen, die mit Hilfe einiger Stricke, einer Marionette gleich, aufgespannt wird und erst erwacht, als die Bediensteten, vom Umgang des Prinzen mit der Leiche dezent genervt, den leblosen Körper zunehmend unachtsam behandeln.
Das Hauptproblem mit Lylians Szenario besteht jedoch in der Adaption der Märchenstruktur. Schneewittchen teilt sich in drei Abschnitte auf: Ausgangssituation (Geburt, Vertreibung), Zwergenheim (ein von Eugen Drewermann geprägter Begriff, er umfasst den Wald, vor allem aber den Aufenthalt bei den Zwergen) sowie das Finale (Heirat und Exekution der Stiefmutter), wobei dem Wald die Aufgabe zukommt, die reale Welt, in der lediglich der Spiegel der Stiefmutter Magie beinhaltet, mit der ganz und gar magischen zu verbinden. Ein zentrales Märchenmotiv, welches in Der Froschkönig beispielsweise durch Heinrich den Frosch, dem amphibischen Wanderer zwischen den Welten, eingenommen wird.
Schneewittchen durchschreitet, während sie den Wald mit all seinen Gefahren und dunklen Schatten durchquert, die Pforte in eine andere Welt. Lylian widmet diesem Moment nur eine einzige Seite, erweitert zudem den Originaltext um eine Fehlinterpretation: Der Übergang zur magischen Welt wird grob fahrlässig zur Selbstbefreiungswanderung umgedeutet. Nebenbei trifft das Mädchen flüchtig den Prinzen, der sie erretten wird. Ein Topos, der heute immer wieder in Filmen auftritt und Erinnerungen an Paulo-Coelho-Selbstfindungskitsch weckt. Die nachfolgende Wanderung verkommt zum mehrere Seiten andauernden, sehr entspannten Spaziergang durch einen deutlich freundlicheren Wald, ehe das Mädchen das Haus der Zwerge erspäht, in dem es sich häuslich einrichtet. Lylian verkennt dabei die zentrale Bedeutung dieses Ortes, denn Schneewittchen lebt nicht das Dolce Vita im Zwergenheim oder hilft den mystischen Wesen dabei, sich selbst aus der Starrheit ihres eingefahrenen Lebens zu befreien. Sie unterwirft sich, so Eugen Drewermann, einem starren Leben als Dienerin, lebt auch hier in Angst vor der Stiefmutter, darf nur bleiben, so sie sich peniblen Regeln anpasst.
Ein ebenfalls negativer Eindruck entsteht durch Lylians Versuch, den Grimm’schen Duktus einzufangen. Neben Originalpassagen fügt er immer wieder eigene Fragmente ein, die sich teilweise äußerst ungelenk in den Text einpassen:
„Nach einigen Tagen erkannte Schneewittchen, dass sie viel länger laufen konnte, als sie gedacht hatte, dass sie sich vor jedem erdenklichen Tier verbergen konnte und dass sie gewitzt war […]. Je weiter sie sich von ihrer Wiege aus Stein und Metall entfernte, desto mehr schien das Mädchen aufzublühen. Und auch wenn dieses Leben einem Streunerleben glich, wurde Schneewittchen nach und nach von einem seltsamen und berauschenden Gefühl der Freiheit ergriffen … als wäre sie für dieses Leben geschaffen worden.“
Hinzu kommen einige Doppelungen von Text und Bild, die dem Grundsatz zu zeigen und nicht zu erzählen, diametral entgegenstehen.
Das Szenario orientiert sich zudem überdeutlich am Film Snow White And The Huntsman, auf den sich zeitweise auch Nathalie Vessillier bezieht. Ein durch Sex manipulierter Jäger, der leider viel zu früh den Tod findet, ruft indes Erinnerungen an die deutlich bessere Michel-Cohn-Verfilmung aus den 1990er Jahren hervor, wird jedoch nicht ausgereizt. Eine tiefenpsychologische Deutung, wie sie Siegrid Alnoy in Spieglein an der Wand (2012) wagt, bleibt leider aus. Hier verschenkte man jede Menge Potential. Voll und ganz auf den intertextuellen Dialog zu Snow White And The Huntsman ausgerichtet (der wiederum großzügig Prinzessin Mononoke zitiert) zeigt sich die Apfelszene, denn das giftige Obst wird von einem vermeintlichen Naturgeist übergeben.
Abseits des schwachen Szenarios glänzen Nathalie Vessilliers mitunter wunderschöne Zeichnungen umso mehr, deren Schönheit durch die etwas lieblos gestalteten und schlecht geletterten Sprechblasen abgemildert wird. Anders als z. B. Kerascoët, die in Schönheit mit reduzierter Optik immer wieder auf Schneewittchen verweisen, arbeitet die Lyoner Künstlerin mit Buntstiftzeichnungen und es gelingt ihr, Bilder von ätherischer Ruhe zu entwerfen. Lediglich eine Amme, ein paar Kindermotive sowie die Naturgeister (inklusive des magischen Spiegels, der die wahre Gestalt der Stiefmutter offenbart und tief im keltischen Ethnokitsch versinkt) überzeugen nicht.
Vessilliers Ideenreichtum gipfelt z. B. in einer Doppelseite. Hier arbeitet sie mit der vollen Breite des Albums und zeigt vier Metapanels, die, untereinanderstehend, vier Jahreszeiten abbilden und kinematografische Wirkung entfalten. Immer wieder verwendet sie interessante Perspektiven und scheut sich auch nicht davor, die rotglühenden Schuhe mit Hilfe eines Multipanels umzusetzen.
Die wahre Stärke der Künstlerin liegt jedoch in einer verborgenen Ebene, die sich nicht jedem Leser sofort erschließen wird, denn sie zitiert weniger bekannte Motive des Tarot de Marseille aus dem kleinen Arkana (dem großen Arkana liegt wiederum eine ähnliche Struktur zugrunde wie den Märchen: Eine unbedarfte Person geht in die Welt hinaus, durchwandert die Nacht und findet zur Welt). Während uns Lylian davon berichtet, dass die Stiefmutter „voller Zuversicht [das Schloss] durchschritt […], [das] sie – wie sie wusste – bald ihr Eigen nennen würde“ und deren Schritte „einen Teil von der Erinnerung an diejenige, die einst hier gelebt hatte [auslöschen]“, findet sich in den Wandteppichen, an denen sie vorüberschreitet, ein Verweis auf die Reyne de Baston, die Königin der Stäbe, die laut Alejandro Jodorowsky für Verlangen, Üppigkeit, Gier, den sexuellen Akt steht. Sie wandelt Verlangen in Kraft und kann z. B. eine Künstlerin versinnbildlichen.
Wenig später, die Königin erteilte jüngst den Befehl zur Exekution der Stieftochter, nimmt sie die Pose der Reyne de Coupe ein, der Königin der Schwerter. Sie verschließt sich sämtlichen Bedürfnissen und Wünschen, ihr Schwert gilt als Sinnbild für den Intellekt (anders als naturgewachsene Stäbe – sie verkörpern Gewalt – sind Schwerter, wie auch der Geist, schleifbar). Den androgynen Zustand anstrebend, ist sie sich selbst der größte Feind. Sie kennt weder Lust noch Emotion. Vessellier gelingt es somit, abseits des Szenarios und mit den Mitteln des Symbolismus, die tiefenpsychologische Ebene des Märchens zu erschließen.
Dass der Verweis auf das Tarot kein Zufall sein kann, unterstreicht das letzte Panel: In einem gestickten Bild verweist Vessillier erneut auf das Tarot. Eine Königin, umgeben von acht Kelchen, zwei Sternen, einem Mond, einer Hand, deren Blut in einen der Kelche tropft und einem Hund, erinnert an Temperence oder Le Bateleur. Kelche stehen, so muss der Leser wissen, für die himmlische Ebene und das Gefühl. Acht Kelche erreichen Vollkommenheit, „man liebt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft […] sich selbst und die Seinen […]: Man ist ganz Liebe.“ (vgl. Alejandro Jodorowsky u. Marianne Costa: Der Weg des Tarot). Die rationale Welt der Lieblosigkeit scheint überwunden (Reyne de Coupe), man wendet sich der Liebe zu, die von der eigenen Mutter ausging (Reyne de Baston). Zudem deutet sich so eine weitere Vollkommenheit an, denn zusammen mit den Zwergen lebten acht Personen im Zwergenheim und führten letztendlich zur Vervollständigung Schneewittchens, die nun, schwanger, neben ihrer Stickerei sitzt.
Alles in allem überzeugt Schneewittchen vor allem durch Vessilliers Zeichnungen. Sie kennt das Märchen ebenso genau wie den Tarot de Marseille und es gelingt ihr, in tiefenpsychologische Deutungen vorzudringen, die Lylian, trotz Hang zur überdeutlichen Erklärung, zu keinem Zeitpunkt erreicht.
Splitter, 2018
Text: Lylian
Zeichnungen: Nathalie Vessillier
Kolorierung: Rozenn Grosjean
Übersetzung: Tanja Krämling
80 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 18,80 Euro
ISBN: 978-3-96219-142-9
Leseprobe
Mehr zum Thema: Drüben auf Instagram begeht Nathalie Vessillier gerade den #tarotinktober2018 und postet den ganzen Monat Zeichnungen des Tarots.
Und auf seinem Blog schrieb unser Autor Julian Auringer einen Beitrag zum Film Snow White & The Huntsman, der sich mit Schneewittchens Platz in der Filmgeschichte befasst.