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Der Unterwasserschweisser

Jeff Lemires Unterwasserschweisser ist eine Geschichte ohne glänzende Helden und übermenschliche Taten: Stattdessen gibt es einen alkoholkranken Vater, einen alkoholkranken Sohn, dessen schwangere Ehefrau und verdammt viel Wasser.

alle Bilder © Hinstorff Verlag

Im Mittelpunkt der Handlung steht der Unterwasserschweißer und Father-to-be Jack, dessen Brotberuf darin besteht, die Unterwasser-Verstrebungen einer Ölbohrinsel vor der kanadischen Küste zu verschweißen. Seinem Drang, aufs Meer zu fahren und dem nächsten Tauchgang entgegenzufiebern, wohnt etwas Zwanghaftes inne, denn damit sehnt er sich zugleich fort von seiner schwangeren Frau. Schnell wird klar, dass hinter dieser Sehnsucht mehr steckt als nur eine präfamiliär-egoistische Realitätsflucht: Als er selbst ein kleiner Junge war, ist sein Vater bei einem Tauchgang ertrunken, und dieses Verlusttrauma schleppt Jack nun mit sich herum. Als er selbst im Begriff ist, Vater zu werden, spülen die Umstände alle Erinnerungen wieder hervor: Alte Erlebnisse mit seinem Vater tauchen wieder auf, auch Enttäuschungen, Verletzungen seines unzuverlässigen Vaters, der sein gutes Herz dem Alkohol geopfert hat. Und schließlich erinnert Jack sich an jene Taschenuhr, die einst zum Symbol ihrer Familienliebe wurde, als der Vater ihm dieses maritime Fundstück nach einem gemeinsamen Tauchgang, einer der schönen Stunden im traurigen Alltag, schenkt. So kommt es, dass diese Uhr ihn geradezu verfolgt – und der Leser wird bald verstehen, warum, denn der junge Jack hat diese Uhr einst, nachdem sein Vater ihn einmal wieder enttäuscht hatte, voller Wut ins Meer geworfen. Und an dieser Stelle wird es tragisch. – Dies ist nämlich der Grund für den Tod des Vaters, aber dies soll jede/r selbst nachlesen.

Der kanadische Autor Jeff Lemire (Essex County 2007/08; Sweet Tooth 2009-12; Descender seit 2015) beherrscht alle Register: Superhelden (DC/Marvel), Genrecomics (Image/Vertigo) und völlig unabhängige Stories (Top Shelf). Auch dort, wo er nur als Szenarist auftritt und das Artwork anderen überlässt (Descender), begeistert Lemire: Er ist ein verdammt guter Storyteller, und auch mit dem Unterwasserschweißer ist ihm eine sehr berührende Geschichte mit glaubhaft agierenden Figuren gelungen. Insbesondere begeistert mich die grafische Umsetzung von Jacks Flashbacks, die der Leser anfangs gar nicht als solche verstehen kann (ebenso wenig wie Jack dies bewusst ist), durch die wiederholte Darstellung von Uhren und sich kreisförmig ausbreitender Wellen.

Das kreisförmige Wellenmotiv auf S. 11 (2), 12, 49, 65 (5), 66, 142 (3)

Hier nehmen wir immer wieder die Wahrnehmungsperspektive von Jack ein und sehen überall wiederkehrende Zeichen. Die sind aber nicht Ausdruck von etwas Übernatürlichem, sondern nur ein Effekt seines Gedächtnisses.

In Hinstorffs maritimer Comic-Reihe hat Lemires Unterwasserschweißer, der schon 2012 bei Top Shelf erschien, einen etwas überraschenden Platz gefunden, neben Kristina Gehrmanns Im Eisland-Trilogie und Till Leneckes Auf Kaperfahrt mit Störtebeker. Dort passt Lemire natürlich nicht hinein, zumal das Meer hier eher eine Rolle als väterlicher Erinnerungsort spielt, aber insofern der Verlag die Ausgabe liebevoll gestaltet hat, muss dies nicht stören. Schade lediglich, dass die kantigen und hastigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen erheblich kleiner als im Original abgedruckt sind.

Familiendrama mit Alkohol: Lemire

Der Unterwasserschweisser8von10
Hinstorff, 2017
Text & Zeichnungen: Jeff Lemire
Übersetzung: Henry Gidom
223 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 18,99 Euro
ISBN: 9783356020854
Leseprobe

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