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Argentina

Argentina von Andreas ist ein packender Politthriller, die Chronik einer Medizinverschwörung oder eine fantastische Rauscherzählung. Im Zweifel alles zugleich.

Alle Abbildungen © Schreiber und Leser

Die Politikertochter Francisca D’Alayrac (alias „Silver“) ist verschwunden, mutmaßlich entführt worden. Während ihr Vater Yvon neben seiner politischen Entourage auch die Ermittlerin Delphin Coreau einschaltet, taucht sie plötzlich wieder auf. Aus dem Nichts. Oder aus Argentinien, wie sie behauptet. Wurde sie von politischen Kontrahenten ihres Vaters nach Südamerika entführt?

Silvers Mutter Amelie, die seit Silvers Geburt im Koma liegt, wird in einem naheliegenden Sanatroium von dem dubiosen Dr. Treda behandelt, und dessen Einrichtung ist durchsetzt von Geheimnissen und Heimlichkeiten. Besonderes Interesse wecken die verschlossenen oder vermauerten Türen, die dem Sanatorium den Charme eines Horrorcomics verleihen.

Dieser zentrale Handlungsstrang wird von einem schmalen erzählerischen Rahmen umgeben, der so unscheinbar ist, dass man ihn fast wieder vergessen hat, wenn er sich zum Ende hin schließt.

Das Widerspiel von Oberfläche und Tiefe ist ein festes Motiv im Repertoire von Andreas: Wie schon in der umfangreichen Serie Capricorn oder dem enigmatischen Zweiteiler Cyrrus – Mil lauern die Geheimnisse unter einer trügerischen Oberfläche, deren Glattheit über die Rohheit des Darunterliegenden hinwegtäuscht. Auch in Argentina spielt Andreas mit dem Reiz verdrängter Wahrheiten. „Alles muss ich mir selbst zusammenreimen“, klagt Silver einmal, und beinahe scheint die Antwort auch aus dem Munde von Andreas zu stammen: „Meine Rede.“

Die verschiedenen Erzählstränge, auch die zweifelhafte Chronologie, das Zusammenspiel von Gegenwarts- und Rückblickserzählung, Realität und Illusion machen die Lektüre sehr herausfordernd. Die oft abschüssigen Landschaften lassen eine Welt erstehen, in der man keinen festen Halt gewinnt, sondern immer balancieren muss. Und blättern. Andreas hat in einem Interview 1999 darüber gesprochen, wie es ihm beim Lesen von Comics ergeht: „When I read, I wouldnʼt like to understand the book straight off. Iʼd like to be forced to re-read, to see my own limits.“ (The Jack Kirby Collector #28, April 2000, S. 33).

Die Zeichnungen sind ungewöhnlich flächig für den sonst oft so detailversessen arbeitenden deutsch-französischen Künstler, dem Kritiker*innen wie Leser*innen auf beiden Seiten des Rheins höhsten Respekt zollen. In Argentina finden sich keine erzählerischen Experimente wie in Raffington Event, wenige extreme Perspektiven wie in Cromwell Stone, keine aufregenden Seitenarchitekturen wie in Capricorn oder Im Labyrinth der Erinnerungen (Rezension auf Comic.de). Argentina ist für den virtuosen Zeichner Andreas fast schon ein grafisches Understatement.

Die Leere der Zeichnungen korrespondiert mit der Klarheit der Architektur und kontrastiert mit der Fülle des Interieurs, als hätte ein horror vacui die Figuren ergriffen, die in den Häusern sammeln, was außen nicht sichtbar werden darf. Darin eine Allegorie auf die Psyche zu sehen, ist fast naheliegend, und es fragt sich mit Sigmund Freud: Wer ist eigentlich Herr in diesem Haus?

Meist bleiben die Ereignisse in der Schwebe zwischen Unheimlichem und Wunderbaren, das heißt es bleibt offen, ob Elemente der Handlung sich am Ende als realitätskompatibel erweisen oder ob übernatürliche Kräfte ihre Finger im Spiel haben. Der russische Literaturtheoretiker Tzvetan Todorov bezeichnet solche Texte, die auf dieser Nadelspitze balancieren, als „fantastische“ Literatur. Viele der Comics aus der Feder von Andreas (Rork, Capricorn) lassen sich genau dort verorten, in Argentina hat der Autor sich entschieden, die Story am Ende (scheinbar) aufzulösen.

Im Juni 2019 erschien der Band bei Futuropolis – nachdem sein bisheriges Werk überwiegend bei Delcourt oder Lombard erschien. Schreiber & Leser bleibt seinem Projekt treu, das in Deutschland lange nur vereinzelt verfügbare Werk dieses grandiosen Zeichners und anspruchsvollen Erzählers auch hierzulande in Szene zu setzen. Nach dem etwas arg verrätselten Cyrrus – Mil, das selbst Andreas als sehr kryptisch einschätzte, gelingt ihm mit Argentina ein erzählerisches Labyrinth, in dem man sich mit viel Freude verlieren muss.

Wer ist Herr in diesem Haus?

9von10Argentina
Schreiber & Leser, 2020
Text & Zeichnungen: Andreas (Martens)
Kolorierung: Isa Cochet
Übersetzung: Resel Rebiersch
96 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 22,80 Euro
ISBN: 978-3-96582-029-6
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