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Was vom Leben übrigbleibt

Schon erstaunlich, diese Graphic Novels. Immer wieder. Titus Ackermanns Erinnerungscomic Was vom Leben übrig bleibt hat 151 Comicseiten, was nicht viel ist, gemessen an dem großen Thema, das er behandelt. Aber es reicht. Und man fühlt sich nach der Lektüre bereichert.

Seit mehr als 25 Jahren arbeitet Titus Ackerman gemeinsam mit Jonas Greulich und Thomas Gronle (Legron) an seinem Langzeit-Projekt „Moga Mobo – Comics für alle“. Das sind kleine Pamphlete, die gratis in Comicläden und auf Comicfestivals ausliegen, stets durch Werbung querfinanziert, stets mit einem Comic-Mix, der eine breite Charge an Independent-Künstlern präsentiert. Für manche dieser Heftchen hat man internationale Kontakte mit Künstlern aus aller Welt hergestellt und ist gereist, so entstanden interessante Kooperationen mit Künstlern aus Japan, Kuba oder der Ukraine, oft blieb man thematisch aber auch vor der eigenen Haustür, dann entstanden Themenhefte wie „Das ewige Fleisch“, „100 Meisterwerke der Literatur“ oder „The Martial Art of Heftchen“. Schon immer hat Titus Ackermann auch selbst kleine Stories mit privaten Beobachtungen beigesteuert, an eine lange Graphic Novel hat er sich aber erst jetzt gewagt. Es geht um die Erinnerung an den 1989 verstorbenen Großvater. Der war Nazi und Wehrmachtsoffizier im Krieg.

Endlich wieder jemand sein!

Titus Ackermann ist bewusst, dass Erinnerung einerseits subjektiv und fluide ist, dass sie aber darüber hinaus auch noch unterschiedlich bewertet und gerahmt werden kann. Erinnerung ist schwer zu fassen. Immer steht in Was vom Leben übrig bleibt die unartikulierte Frage im Raum, wie man denn selbst gewesen wäre, hätte man an Opas Stelle gelebt. Schon die Enkel Titus und Jens tun sich schwer mit einer Einordnung ihres Opas, den sie mochten, mit dem sie aber irritierende Dinge erlebt haben. Warum war er so versessen auf alles, was mit Krieg zu tun hatte? Und wozu hatte er eine geladenen Pistole in einer Schublade? Warum Mein Kampf und anderen Nazikram im Bücherregal? Warum die Judenfeindlichkeit? Dabei war es vor allem ihr Vater Gerhard, der unter den plötzlichen Gewaltausbrüchen seines Vaters zu leiden hatte und der, als er sein Abitur versemmelte, Todesängste ausstehen musste – erst um sein Leben, dann um das Leben seines Lehrers. Einen Versager als Sohn zu haben war dem Großvater unerträglich.

Und doch kann Gerhard Liebe für den Opa empfinden, wo sich den Enkeln nur Fragezeichen auftun. Welche Rechtfertigungen kann es dafür geben, obwohl Opa ein überzeugter Nazi war? Gerade bei dieser Fragestellung findet Titus Ackermann spannende Ansätze, ohne in Allgemeinplätze abzugleiten und entführt uns für wenige, aber eindringliche Seiten mal in die Zeit um 1922, als das Ruhrgebiet von den Franzosen besetzt wurde, dann in die Zeit, die der Großvater in amerikanischer Kriegsgefangenschaft verbrachte, wo er einige Privilegien genießen durfte. Ackermann erzählt non-linear, was ihm erlaubt, dass er sich um Plotstruktur wenig kümmern muss, solange es nur in den Erzählrahmen passt – Opas Familienmitglieder räumen das Haus und tauschen Erinnerungen aus. In diesem Rahmen ist Platz für alles Wesentliche.

Aber die Anderen: Jagdszenen im Ruhrgebiet.

Bei Titus Ackermann ist die Vergangenheit nicht abgeschlossen und eingekapselt, sie ragt in die Gegenwart hinein. Es ist wie in dem fulminanten Zeitreise-Roman Der Anschlag von Stephen King, in dem der Held aus dem Jahr 2013 ins Jahr 1958 reist und wieder zurück. Wieder in seinem gewohnten 2013 angekommen, heißt es dort:

„Trotzdem erschien mir die Vergangenheit in diesem Augenblick sehr nahe – aber das lag womöglich an dem goldenen Schimmer des vergehenden Sommerlichts, das mir wieder einmal übernatürlich vorkam. Es war, als wäre 1958 immer noch da, nur bedeckt von einer dünnen Schicht inzwischen vergangener Jahre.“

Der Himmel über 2025 ist der gleiche wie der Himmel von 1989, 1945 oder 1922. Nur die Welt hat etwas mehr Patina angelegt – und das, was wir Geschichte nennen, kann inzwischen reflektiert werden, wenigstens das. Erst die Zukunft gestattet Klarheit über das, was wir in der Gegenwart geschehen lassen.

Stand your ground! Aber „Was vom Leben übrig bleibt“ entschuldigt nichts. Es hilft uns nur beim Verstehen.

Die Frage, wo ich, der Leser, an Stelle des Opas gewesen wäre, bleibt ungeklärt. Vermutlich an der Stelle des Opas. Es ist eine Gnade, auf der anderen Seite der Welle geboren zu sein. Übrig bleibt nur die bange Frage, in welchen Unschärfen wir uns heute bewegen und wie das Verdikt der Zukunft über uns einmal ausfallen wird.

Titus Ackermann erzählt in großen Panels und flicht oft Alltagsszenen ein, die uns in seinem Comic heimisch werden lassen, das hat zunächst einmal eine große Leichtigkeit. Wann immer er aber den Fokus auf sein Thema richtet, ist er hochkonzentriert und eindringlich, eben weil er es gut versteht, den Alltag mit der verdrängten Vergangenheit in Einklang zu bringen. Es ist, wie so oft, das vermeintlich Mühelose, das mir die größte Bewunderung abringt.

Während es, wie von allen Moga-Mobo-Comics, eine Gratis-Standardversion gibt, wartet die Kaufversion mit aufwendig gestalteten Schutzumschlägen auf, auf denen je ein zentrales Handlungsdetail als aussagekräftige Illustration gewürdigt wird. Das ist teilweise geschickt gelöst. So lange der Umschlag fest um das Heft gewickelt ist, sieht man nur eine Kriegsszene mit Flugzeug und Schiff, betrachtet man das ganze Bild, dann sieht man, dass es sich um eines von vielen Erinnerungsfotos handelt, die offensichtlich in ein Feuer geworfen werden. Aber auch auf den inneren Umschlagseiten der Hefte finden sich gut gewählte Begleitillustrationen, die der Geschichte eine zusätzliche Ebene der Authentizität verleihen.

Nummer Drei: Links mit, rechts ohne Schutzumschlag

Eindringliche Meditation über ein Familienmitglied wie jedes andere

10von10Was vom Leben übrig bleibt 1–4
Moga Mobo, 2024 und 2025
Text und Zeichnungen: Titus Ackermann
160 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 10 Euro pro Heft
ISBN: 978-3982611723
Leseprobe

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