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Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit

Die Fantasy-Serie Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit war seinerzeit, d.h. in den 1980er Jahren, ein Riesenerfolg für Serge Le Tendre und Régis Loisel, die dadurch urplötzlich internationale Aufmerksamkeit erlangten. Im Mittelpunkt der vierteiligen Serie steht die Quest einer kleinen Gruppe um den alten Ritter Bragon und seine Tochter Pelissa. 2021 ist eine Gesamtausgabe bei Carlsen erschienen.

Die Gesamtausgabe umfasst die ersten vier Alben, die zwischen 1982 und 1987 auf Französisch bei Dargaud erschienen sind.

Band 1: Schatten über Akbar

Alle Abbildungen © Carlsen Verlag

Pelissa, die Tochter der Zauberin Mara, sucht den alten Krieger Bragon auf, der einst ein Verhältnis mit Mara hatte und, wer weiß, wer weiß, womöglich sogar Pelissas Vater ist. Das Reich Akbar ist in Gefahr, weil der einst in ein Schneckenhaus verbannte Gott Ramor sich bald aus seinem Gefängnis zu befreien droht und dann ganz Akbar ins Unglück stürzen wird. Um ihn aufzuhalten, braucht Mara das Schneckenhaus und den ‚Vogel der Zeit‘, um den sehr umfangreichen Zauberspruch noch rechtzeitig abschließen zu können. Also machen Bragon und Pelissa sich auf den Weg: Die Quest beginnt.

Beim Volk der Grauen Zikadier stoßen sie auf Bragons ehemaligen Schüler Bulrog, der inzwischen nicht mehr gut auf seinen Meister zu sprechen ist und dem Zauberprinzen Shan-Tung dient. In dessen Besitz befindet sich das Schneckenhaus, und freiwillig wird er es nicht hergeben. Es wird ungemütlich, nicht zuletzt, weil die Zikadier mit den körperlichen Reizen der halbnackten Pelissa vollends überfordert sind. Und als es zum Kampf kommt, kommt Bragon und Pelissa ein mutiger Unbekannter zu Hilfe – dank seines Eingreifens wird die Mission zu einem Erfolg. Die rasante Handlung ist anfangs etwas sprunghaft, und die Beiden bzw. Drei abenteuern sich ein wenig von Kampf zu Kampf, aber kurzweilig ist das Trio dennoch, zumal der Unbekannte der starken Pelissa völlig, d.h. bis zur Lächerlichkeit, ergeben ist.

Band 2: Der Tempel des Vergessens

Bragon, Pelissa und der Unbekannte reisen zurück zu Mara, um mit dem Schneckenhaus das Objekt ihrer ersten Quest abzuliefern. Bragon begegnet dabei seinem alten Rivalen Bodias, der kaum gegensätzlicher sein könnte: ein feingliedriger, aber berechenbarer Schmeichler, den der alte Recke nun erst einmal nicht loswerden wird. Nur er kann die heiligen Runen im Tempel des Vergessens entziffern, um den Aufenthaltsort des Vogels der Zeit zu enthüllen. Und dieser Tempel ist erstens weit entfernt, und zweitens wartet dort natürlich eine Falle auf die Suchenden. Nun kommt der kleine Begleiter, den Pelissa auf ihrer Schulter mit sich führt, zum Einsatz, aber er wird nicht alle retten können … Da die Gruppe nun einen Verlust hinnehmen muss, kommt neben der Spannung und vor allem der Komik nun auch etwas Melancholie auf. Aber die Abenteuer stehen rasch wieder im Vordergrund.

Band 3: Grauwolfs letzter Kampf

Das Trio reist weiter und trifft auf die Ruinen einer verlassenen und verwitterten Stadt: „In grauer Vorzeit hatte ein Volk von Baumeistern eine wundersame Stadt errichtet … umschlossen von einer hohen Mauer aus Stein.“ Bragon trifft auf den alten Recken Grauwolf. Sie kennen sich, so Bragon, „vom Hörensagen“, aber das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Als sie die Grenzen der Stadt übertreten, beginnt eine unerbittliche Jagd durch den Urwald und die steinernen Überreste einer alten Kultur. Warum Grauwolf Bragon mit so wenig Gastfreundschaft begegnet, erfahren wir erst, als es zum Showdown kommt, und da zeigt sich die Stärke der Serie, in der es zwar um aufregende Abenteuer geht, die aber vor allem aber die Entwicklung der Figuren in den Vordergrund stellt. Loisel selbst schreibt dazu, in der amerikanischen Fantasy „stehen den Gefühlen die Muskeln im Weg. Deshalb ziehe ich die Bezeichnung ‚merveille‘ vor, denn unsere Geschichte ist einem Märchen sehr viel näher als der heroic fantasy.“ Mit viel Ironie lassen Le Tendre und Loisel ihren Helden Bragon an späterer Stelle zusammenfassen, was bisher geschehen ist: „Ach, nur das Übliche! Kämpfe und Verfolgung, Erschöpfung, Hunger und kalte Füße, Streitereien und Aussöhnung …! Nicht zu vergessen ein leichter Hauch Erotik … oder auch zwei …! Kleine Dramen und großes Elend also … Aber man gewöhnt sich dran, wirst schon sehen!“ Das werden wir.

Band 4: Das Ei der Finsternis

Im letzten Band gehört Bulrog, der einstige Widersacher, zum festen Kern des Heldenteams, das nun den Himmelsfinger besteigt, einen gigantischen Felsen, der in die Höhe ragt und dem Mythos zufolge den Vogel der Zeit beherbergt. Der Hüter des Nests empfängt sie und gibt ihnen zugleich mit seiner Begrüßung ein Rätsel auf, das wir erst auf den allerletzten Seiten lüften werden – und man darf sagen: Dieser Twist erscheint gut vorbereitet, überrascht aber dennoch. Manches, was die Helden (und mit ihnen wir Leser*innen) als letztgültige Wahrheit angenommen hatten, erweist sich als Lug und Trug, und der Showdown bietet neben spektakulären Kämpfen vor allem anrührende Szenen. Anstelle wilder Haudrauf-Fantasy mit viel „Hex, hex“ wandelt die Serie sich zu einer einfühlsamen Geschichte mit interessanten Charakteren.

Als besondere Zugabe ist derAusgabe die Erstpublikation der Handlung in der Fantasy-Zeitschrift Imagine beigegeben. 1975 erschienen dort einige wenige Seiten in Schwarzweiß, die nun dankenswerterweise auch auf Deutsch zur Verfügung stehen.

Die Neuausgabe

Die vier Alben, basierend auf 12 Seiten in der kurzlebigen Zeitschrift „Imagine“, erschienen zwischen Januar 1983 und August 1987 bei Dargaud, geschrieben von Serge Le Tendre und gezeichnet von Régis Loisel (Peter Pan, Der Schweinehund). Die Kolorierung stammte ursprünglich von Yves Lencot (Bd. 1), Laurence Quilici (Bd. 2) und Régis Loisel selbst (Bd. 2-4). Ab 1998 folgte ein zweiter Zyklus, ein bislang sechs Alben umfassendes Prequel, dessen letzter Band im Januar 2020 veröffentlicht wurde. Seit dem sechsten Album („Le grimoire des dieux“, 2007) werden die Farben von dem kanadischen Künstler Francis Lapierre übernommen, der mit Loisel auch Das Nest (2006–14, gerade bei Carlsen neu erschienen) und Der große Tote (2007–19, gerade bei Egmont neu erschienen) kolorierte. Um die nun frisch erschienene Gesamtausgabe homogener erscheinen zu lassen, sind die beiden ersten Alben in einer neuen Kolorierung von Lapierre wiedergegeben. Diese ist eigens für die französische Gesamtausgabe (Dargaud 2011) entstanden, die wiederum die Vorlage der Carlsen-Ausgabe ist.

Ist die Kolorierung Teil des künstlerischen Prozesses oder austauschbares Beiwerk wie beim Roman die Schrifttype, beim Film das DVD-Cover, bei der Platte das Booklet? Dass der Kolorierung wie auch dem Lettering traditionell weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird, hat auch mediengeschichtliche Gründe, wie Mark Chiarellos und Todd Klein in The DC Comics Guido to Coloring and Lettering ausführen: Da die Kolorierung in der Frühzeit der Comics nicht als künstlerische Tätigkeit aufgefasst würde, sondern als pragmatisches Handwerk, um die Figuren voneinander unterscheiden zu können, wurden die Koloristen entsprechend schlecht bezahlt: „Throughout the history of comic books, coloring was never considered very important. It was always a rushed, last-minute part of the creative process, and very rarely thought of as creative.“ (S. 11)

Lapierre hat in seinen anderen Kollaborationen mit Loisel gezeigt, dass er dessen Zeichnungen wirksam in Szene setzen kann. Er arbeitet viel stärker mit ausgeprägten Kontrasten als etwa Yves Lencot, bei dem die Handlung in den eintönigen Farben manchmal unterzugehen droht.

Die alte Ausgabe (links), koloriert von Yves Lencot (Comicart), und die neue Ausgabe (rechts), koloriert von Francis Lapierre, im Vergleich (Carlsen)

Darüber hinaus ist auch die Übersetzung aktualisiert worden: Wurden die Alben in den 1980ern zuerst von Peter Müller (Bd. 1 & 2), dann von Rossi Schreiber (aka „Resel Rebiersch“, Bd. 3 & 4) aus dem Französischen ins Deutsche übertragen, hat nun Ulrich Pröfrock diese Übersetzungen ‚grundlegend überarbeitet‘ (wie das Impressum vermerkt). Rasch merkt man aber, dass die Übersetzung schlichtweg rundherum neu ist. Darüber hinaus greift die aktuelle Ausgabe wieder auf das originale Seitenlayout zurück. Das zweite Album der deutschen Ausgabe (1986) begann, abweichend vom französischen Original, nicht auf der rechten Seite, so dass das Arrangement der Doppelseiten sich deutlich unterschied.

Die Änderungen der neuen Gesamtausgabe, Kolorierung wie Übersetzung, erweisen dem Fantasy-Klassiker einen guten Dienst. Natürlich geht bei einer solchen Modernisierung ein wenig nostalgisches Flair verloren, allerdings fällt dieser Verlust nicht so stark aus, als dass er den Gewinn aufwiegen würde. Die Gesamtausgabe ist also mehr als nur ein neuer Aufguss eines nicht mehr erhältlichen Klassikers, sondern ein echter Gewinn.

Mehr als nur Hex-hex

9von10Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit – Erster Zyklus: Die Suche
Carlsen Verlag, 2021
Text und Zeichnungen: Serge Le Tendre, Régis Loisel
Übersetzung: Peter Müller, Resel Rebiersch, Ulrich Prüfrock
240 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 40,00 Euro
ISBN: 978-3-551-73896-7
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