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Das Nest – Gesamtausgabe 1

Québec, vor hundert Jahren: die junge Witwe Marie führt nach dem Tod ihres Mannes dessen Kramladen in Nôtre Dame am See weiter, dem titelgebenden Nest. Das Dorf besteht aus ein paar Holzhäusern, ein paar rumpeligen Feldwegen und einem Platz aus festgestampfter Erde, soweit das Auge reicht eingerahmt von Wald, Wiesen und Wasser. Es gibt eine Kirche und einen Saloon, und in der großen Scheune kann getanzt werden. Marie besitzt den einzigen Laden, das einzige Telefon und den einzigen Laster im Ort und will eigentlich zurück in die Stadt. Aber sie kann sich weder davon abhalten, den verschrobenen anderen Dorfbewohnern zu helfen, noch davon, sich in den geheimnisvollen und kultivierten Ex-Soldaten Serge zu vergucken.

Währenddessen freundet sich der neue junge Pfarrer mit dem atheistischen Kauz Noel an, ein Hund mit einer Katze, die schwangere Frau eines Flößers wartet seit über einem halben Jahr auf dessen Rückkehr, und die Jahreszeiten haben den beschaulichen Fleck immer im Griff.

Alle Abbildungen: © Carlsen Verlag

Weite und Gemeinschaft, weitgehend einfache und weitgehend gute Menschen, die ein einfaches und gutes Leben führen und ein Ausflug in eine andere Welt, die vor allem eine völlig andere Zeit ist: Kaum ein Comic könnte besser in diese trüben Jahreszeit passen, in dem selbst die Hipster aus der Großstadt flüchten und das global beliebteste Stück Kultur die idyllische Dorfsimulation Animal Crossing ist.

Natürlich ist Marie die prototypische Heldin eines heutigen Historienstoffes, die ihre Naivität verliert und dafür an Lebensklugheit und Autonomie gewinnt. Dass das hier nicht abgegriffen wirkt, liegt sicherlich auch daran, dass die ganz großen Auftritte und Gesten fehlen (und die freundlich karikierten Menschen an beseelte knopfäugige Puppen erinnern). Marie bleibt vor allem Beobachterin, und das Leben bleibt hart (auch wenn ich auf Schweineschlachtung, Hasenjagd und Ziegenhoden als Ausdruck der Erdverbundenheit gut verzichten könnte). Mindestens genauso wichtig wie die Geschichte von Maries Selbstbehauptung ist das Geflecht aus Nebenfiguren und Nebenhandlungen, sind die malerisch kargen Landschaften Kanadas und das Hintergrundgewusel bei einem Fest oder bei einer Ernte, an Weihnachten oder bei Ankunft der Flößer.

Zum Glück ist Das Nest, dieses elegische Wimmelbilderbuch zum Lesen, dieser anheimelnde Traum vom Licht im Kaminfeuer, nicht einfach Balsam für die aufgeschürfte Seele, sondern Kunst (Animal Crossing vermutlich auch, aber anders).Mit seinem langen Erzählbogen, seinen psychologischen Nuancen, seinem historischen Anspruch und seinen verhalten opulenten Bildern hätte es früher als Inbegriff des „Comicromans“ gegolten.

Der Begriff „graphic novel“ wurde durch Will Eisner populärer, der so seinen Band Ein Vertrag mit Gott untertitelte, eigentlich eher eine Sammlung von Kurzgeschichten. Heute meint der Begriff in der Regel entweder ein zeichnerisch umgesetztes „Memoir“, also fiktionalisierte Erinnerungsliteratur, oder den Nachdruck von mehreren Batman-Heften.

In den französischsprachigen Ländern wurde der „Comicroman“ („B.D. Roman“) dagegen zu seiner Glanzzeit in den 1980ern in erster Linie mit umfangreichen historischen Comics identifiziert, die sich ein getrageneres Erzähltempo, zum genauen Hinschauen zwingende Bilder, nuanciertere Figurenzeichnungen und erwachsenere Ecken und Kanten erlaubten als die Konkurrenz (im Unterschied zu ihren englischsprachigen Nachkommen thematisierten sie Sex und Gewalt zwar ständig, stellten sie aber sehr viel verhaltener dar als manche parallelen französischsprachigen Genre-, Serien- oder Satirecomics). Das Modell waren die Reisenden im Wind (eine Emanzipationsgeschichte zur Zeit des Sklavenhandels im 18. Jahrhundert), als spätes Paradebeispiel kann sicher Sambre von Yslaire gelten, und auch die ernsten Comics von Emile Bravo mit Spirou im Krieg, die das Konzept natürlich noch einmal brechen, stehen ein wenig in dieser Tradition.

Ansonsten haftete diesen Comics bald immer etwas ein wenig Altmeisterliches an. Die extrem kunstvolle Graphik schien sich häufig nach vormodernen Stilen zurückzusehnen. Auch das nicht selten melodramatische Pathos und eine manchmal konservative und naive Ehrfurcht vor der Macht der (häufig französischen oder belgischen) Geschichte, sorgten dafür, dass die poppigeren, autorenlastigen und dringender wirkenden „graphic novels“ aus dem englischsprachigen Raum ihnen vor allem international ab Mitte der 1980er das Wasser abgruben. In der Folge wurden die historischen Comics einfach als ein weiteres Genre gesehen und nicht mehr als avantgardistischer „graphischer Roman“.

Selbst die schönste und cleverste Sandman-Seite (Neil Gaiman) provoziert aber nie das Schwelgen in überwältigenden Bildern, das die Comicromane vom europäischen Festland erreichen wollen.

Régis Loisel hat gleich zwei Klassiker gezeichnet, die bei Erscheinen als kühne Grenzgänger galten, aber mittlerweile recht unspektakulär in die Fantasy eingeordnet werden: Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit und die Literaturadaption Peter Pan. Vor rund fünfzehn Jahren hat er mit dem Kollegen Tripp als zweitem Zeichner und Autor die vorliegende Miniserie begonnen, die in größeren, vergriffenen Einzelbänden schon einmal bei Carlsen erschienen ist. Auch wenn die Graphik vom Nest nach einem Überformat zu schreien scheint, ist die kompakte Buchform nicht nur praktischer, sondern wirkt in Haptik und Druck auch besonders edel. Der vorliegende Band versammelt die ersten drei (überlangen) Folgen der ursprünglichen Reihe (plus Begleitmaterial), und in der versammelten Fülle werden die Besonderheiten dieses Comics besonders deutlich.

Während vergleichbare Filme (wie 1900 oder Marcel-Pagnol-Verfilmungen) die Annäherung an die Natur in der Regel über lange und statische Einstellungen erreichen wollen, gehen Loisel und Tripp den gegenteiligen Weg: Die Perspektive ändert sich mit jedem Panel und entspricht nie einer „Normalansicht“. Die Bilder umkreisen eine Kirche oder einen Baum, schauen von schräg unten oder erfassen am Bildrand wie zufällig erst einmal schwer verständliche Nebenhandlungen. Der Comic stellt die Reichhaltigkeit seiner Welt aus, auch wenn die seitenweise aus nichts als Schnee besteht, und präsentiert ständig gegen- und nebeneinander laufende Zyklen des Lebens, bis in die persönlichen Geschichten seiner Hauptfiguren hinein. Die sind immer eingebettet in ein komplexes Geflecht aus Gesellschaft und Natur. Egal, was Marie tut, immer hört noch ein anderer mit, immer ist auch noch eine andere betroffen, überall wuchern Wurzeln und tummeln sich Tiere.

Es liegt ein warmer Schleier über den Bildern, die an lasierte Buntstiftzeichnungen erinnern (Farben: Francois Lapierre), wie eine warm leuchtende Glasscheibe oder die Patina alter Familienfotos. Dazu verzichten sie weitgehend auf Soundwords und Speedlines. In der Summe ergibt das einen eigenartigen und angenehmen Effekt; Das Nest ist ein gleichzeitig abwechslungsreicher und entschleunigter Bilderbogen, ein sanfter, etwas entrückter Rausch.  Souverän balanciert der Band dabei an Kitsch und Sozialkitsch vorbei: Dafür sorgen der liebevolle Biss in den Zeichnungen, die immer ironische Erzählhaltung und die spröde Sinnlichkeit der Bilder.

Möglich ist diese Mischung nur im Comic, nur bei einer selbstgewählten Lese- und Betrachtegeschwindigkeit, bei der modernen Stilisierung und stimmigen Verfremdung in der Darstellung von Mensch und Natur und beim Spiel mit Bildfolgen.

Ich bin mehr als gespannt auf die nächsten Bände. Vielleicht ist Das Nest nicht unbedingt die Zukunft der Comics. Aber hier und heute tut es ganz schön gut.

Alles ist miteinander verwachsen. Das Nest ist eine abwechslungsreiche Idylle mit Ecken und Kanten, Humor und Tragik über das Kanada vor hundert Jahren. Die perfekte Stadtflucht und ein Fest für die Augen.

9von10Das Nest Gesamtausgabe 1: Marie – Serge – Die Männer
Carlsen Comics, 2020
Text und Zeichnungen: Régis Loisel, Jean-Louis Tripp
Übersetzung: Marcel Le Comte, Martin Budde
256 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 36,00 Euro
ISBN: 978-3-551-76095-1
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