Rezensionen
Kommentare 1

Vatermilch

Rufus Himmelstoß – fortan „der coole Hund“ genannt – weiß, wie man die Menschen einwickelt. Tagsüber beglückt er einsame Hausfrauen als Vertreter einer Markisenfirma, abends vermehrt er sein Geld beim Poker und prahlt mit seinen Affären. Um skrupellose Summen wird da gezockt. Mit einem Full House will der coole Hund seinem Spezl mal eben 3000 DM aus der Tasche leiern, der aber hat vier Damen, worauf dem coolen Hund das Gesicht runterfällt. Zahlen? Kann er nicht. Anschnorren muss er seinen Kumpel und um Zahlungsaufschub betteln. Das ist aber gar nicht cool.

„Der coole Hund“, München 1975 … (Alle Abbildungen © Uli Oesterle, Carlsen Comics)

Zuhause wenigstens kann er vorübergehend noch auf dicke Hose machen; und der Sohn Victor findet den Papa, der ihm schon mal – einfach so – eine Big Jim-Puppe mitbringt, viel besser als die nörgelnde Mama. Hilft aber nichts. Das Familienvermögen verzocken, fremdgehen und sich dann auch noch beim Sohnemann einschleimen ist auf Dauer zu viel für die leidgeprüfte Mom. Rufus fliegt raus – und der Big Jim hinterher.

Wäre Vatermilch ein Kapitel der Vertigo-Serie 100 Bullets, dann würde zu diesem Zeitpunkt wohl der geheimnisvolle Agent Graves vorbeikommen und Rufus einen Koffer mit einer Waffe überreichen, deren Spuren man nicht zurückverfolgen kann. Rufus könnte sich dann denjenigen suchen, der Schuld hat an seinem verpfuschten Leben, und versuchen, die Ordnung in seinem Leben widerherzustellen. Aber in Uli Oesterles Serie sind solche Kurzschlüsse nicht vorgesehen. Hier geht es um die Konsequenzen, die ein solches Leben nach sich zieht – bis in die nächste Generation.

Rufus, so viel sei hier schon verraten, kommt nach seinem Rausschmiss nicht mehr auf die Füße. Die wirkliche Tragödie aber ist, dass sein verantwortungsloses Handeln nicht nur zunehmend gefährlich für ihn und seine Umgebung wird, sondern dass es auf seinen Sohn abstrahlt, der auch als Erwachsener Jahre später keine Ahnung hat, was eine gute Vaterfigur ausmacht, und der immer nur den coolen Hund als Projektionsfläche hat.

… und sein Bub, München 2005.

Vatermilch ist als zweigleisige Erzählung angelegt. Im ersten Parallelstrang geht es um das Abstürzen des Rufus, der andere Strang handelt vom Sohnemann Victor, der ganz anders sein möchte und doch so viel von seinem Vater geerbt hat. Uli Oesterles Erzählung orientiert sich an der Biografie des Autors, nimmt sich aber viele Freiheiten, so dass keine wahre, jedoch eine wahrhaftige Erzählung entstanden ist, die sich der allzu peniblen Überprüfung, ob auch jedes Detail so stattgefunden habe, auf kluge Weise entziehen kann.

Die Zeichnungen wirken bisweilen wie Buchillustrationen aus Herrn Rufus Himmelstoß‘ Hochzeit, den frühen 1970er Jahren, bisweilen fühlt man sich aber auch an Eduardo Rissos Kunst (vor allem bei der Stilisierung der Stadtansichten) oder an Tim Sale (dessen Gesichter und Nasen) erinnert. Aber nach Anleihen zu suchen bei einem Künstler mit einer derartigen stilistischen Bandbreite, wie Oesterle sie hat, ist wohl ein sinnloses Unterfangen. Früher glaubten wir ja auch, Mike Mignola oder Ted McKeever in seinen Arbeiten ausmachen zu können, aber inzwischen muss man klar anerkennen, dass der Künstler offenbar alles kann und seinen Stil jederzeit zugunsten seiner erzählerischen Ansprüche variiert.

„Und wie ich um die Ecken komm, seh ich mein Stammlokal. Und wieder hab ich keine andre Wahl“ (EAV 1985)

Auch, wenn man bisweilen amerikanische Vorbilder zu erkennen glaubt, erdet Uli Oesterle diese doch stets mit einem regionalen Bezug, der über ein reines Zeigen von Kulissen und Landschaften hinausgeht. Dazu passt durchaus, dass auch Freddie Mercury, der zu dieser Zeit in München tolle Tage verbracht hat, in einer Szene reinschneit. Das ist mehr als bloßes Namedropping, denn allein dadurch schon, dass selbst Mercury den coolen Hund kennt, bestätigt sich dessen verzerrte Selbsteinschätzung.

Kurz hoch geflogen, lang gefallen, einige mitgenommen. Vatermilch ist ein Buch, das nur Oesterle erzählen kann. Erzählerisch wie stilistisch bewegt sich der Künstler längst auf Weltniveau, einzigartig wird Oesterle aber vor allem dadurch, dass er sein Können mit seiner individuellen Erfahrungswelt und einem ausgeprägten Sinn für regionale Bezüge zusammenbringt.

Verkorkste Lebenslinien, einfühlsam nacherzählt.

9von10Vatermilch
Carlsen, 2020
Text und Zeichnungen: Uli Oesterle
128 Seiten, schwarz-weiß mit Farbakzenten, Hardcover
Preis: 20 Euro
ISBN: 978-3-551-71158-8

Leseprobe

1 Kommentare

  1. Pingback: Vatermilch 2: Unter der Oberfläche |

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken dieses Formulars erklärst du dich mit unserer Datenschutzerklärung einverstanden.