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Der König der Vagabunden

Gregor Gog ist ein König ohne Königreich, ohne Vasallen, ohne Landbesitz. Beatrice Davies und Patrick Spät zeichnen das Bild eines würdevollen Anarchisten, eines Vagabunden-Königs ohne Hermelin, aber mit Stolz.

Alle Abbildungen © Avant Verlag

Gregor Gog ist ein klingender Name, aber keiner, den man in den Geschichtsbüchern findet. Seine Biografie (1891–1945), deren wesentliche Stationen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich liegen, ist eine Erzählung vom Leben auf der Straße. Gog ist Vagabund, Landstreicher aus Überzeugung.

Die Haupthandlung setzt 1910 ein, als der 19-jährige Gog in Schwerin an der Warthe (damals preußische Provinz, heutiges Polen) der Familie, der Kirche und der Heimat den Rücken kehrt, um zur See zu fahren. An Bord lernt er Karl Raichle und Theodor Plievier kennen, die ihn für Ideen des politischen Anarchismus begeistern: „Das Land gehört allen und damit niemandem. – Die alte Welt geht in Flammen auf. Wir werden eine neue Welt der Freiheit errichten. – Es lebe die Anarchie!“ Die sieben Jahre vergehen wie im Flug (auf vier Doppelseiten), und am Ende dieses untypischen Bildungswegs wird Gog aus der Marine entlassen – unehrenhaft. Wenn diese Gesellschaft so unfähig ist, muss man wohl eine neue gründen …

In der Nähe von Stuttgart errichtet Gog zuammen mit Karl und Theodor die „Kommune am grünen Weg“, in der auch Johannes R. Becher (der spätere DDR-Kulturminister) und der Dichter Erich Mühsam ein- und ausgehen. Die 1920er sind ein gesellschaftliches Experimentierfeld, in der sich abseits der ökonomischen Eliten alternative Lebensweisen ausgebildet haben. Der rastlose Gog zieht weiter und gründet 1927 die „Bruderschaft der Vagabunden“ und die erste Straßenzeitung Europas, den Kunden: „Die Bruderschaft der Vagabunden ist da, die zu sammeln, die bisher allein den Weg gegangen sind. Erst wenn diese hohle, böse, tödliche Welt kaputt ist, erst wenn die Herberge für alle hier auf Erden verwirklicht ist: Dann erst ist unsere Mission erfüllt! Wohlan! Was wir bauen, ist: eine neue Welt!“

Zu Pfingsten 1928 veranstaltete Gog in Stuttgart den „Ersten Internationalen Vagabundenkongress“ und versuchte, mit Veranstaltungen wie Kunstausstellungen Aufmerksamkeit für diejenigen zu schaffen, die sonst nur Missachtung oder Ignoranz erfahren. Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft endet die Geschichte von Gregor Gogs anarchistischem Engagement, in seinem Tagebuch schreibt er: „Die Landstraße verlor sich im Dschungel faschistischer Barbarei.“ Er flieht in die Schweiz, kann dort aber nicht bleiben, kehrt Europa den Rücken und geht nach Russland. Als er zurückkehrt, ist der überzeugte Anarchist zu einem ebenso überzeugten Kommunisten geworden. Haben Davies und Spät die kirchenkritischen Töne Gogs noch durch ein Jugenderlebnis motiviert, bleibt diese zentrale Wandlung eine Leerstelle in der Geschichte. Überhaupt: Nach dem Kongress geht alles sehr rasch, ein wenig scheint es, als wäre das Erzählziel erreicht, und was folgt, ist eher ein Nachspiel.

Davies und Spät haben historisch nicht in die Zeit, sehr wohl aber in den Zusammenhang passende Anachronismen eingepflegt, so etwa in einer kurzen Szene, als ein Polizist die Landstreicher aufhält und in ein Gespräch verwickelt, in dessen Verlauf er ihnen seine Wirtschaftslogik ausbreitet (s. Abb.). Die Szene entspricht, wenn auch nicht im Wortlaut, aber doch deutlich Heinrich Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“, die er für eine Radiosendung des Norddeutschen Rundfunks zum Tag der Arbeit 1963 schrieb. 2014 wurde bei Hanser eine Bildergeschichte mit Illustrationen von Émile Bravo veröffentlicht, die Bölls Original grafisch-narrativ adaptierte. Und wenn Davies und Spät an anderer Stelle Gog als Caspar David Friedrichs kanonisch gewordenen „Wanderer über dem Nebelmeer“ (1818) inszenieren, ist dies wiederum reichlich ironisch gemeint: Gog ist sicherlich alles andere als ein Nationalheiligtum.

2019 zählten die beiden Künstler*innen zu den Finalist*innen um den Comicpreis der Berthold-Leibinger-Stiftung, den letztlich Anke Kuhl gewann. Jury-Mitglied Florian Höllerer lobte: „Der virtuose Übermut, der das Skript von Patrick Spät kennzeichnet, findet in den schwarz-weißen Tuschezeichnungen von Bea Davies eine lebendige Entsprechung.“ Dies ist Bea Davies, die zuvor bereits Comics für die inzwischen eingestellte Berliner Obdachlosenzeitung Straßenfeger gezeichnet hat, erster umfangreicher Print-Comic.

2020 ist übrigens erneut ein Vagabundenkongress in Berlin geplant, organisiert von dem Obdachlosenverein „Unter Druck“. Das ist doch ein beachtliches Erbe.

König ohne Reich

7von10Der König der Vagabunden – Gregor Gog und seine Bruderschaft
Avant Verlag, 2019
Text: Patrick Spät
Zeichnungen: Bea Davies
160 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3964450159
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