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Unvermögen

Ein androider Bär und ein junges Mädchen taumeln durch ein 23. Jahrhundert, das niemand sich wünscht. Unvermögen von Andreas Kiener hingegen ist ein Comic, wie man ihn sich nur wünschen kann.

Im 23. Jahrhundert liegt, fast möchte man sagen: natürlich, alles im Argen. Technologischer Fortschritt hat die Überwachungsmechanismen zukünftiger Gesellschaften perfektioniert, aber nicht in eine Zukunft geführt, die besonders lebenswert aussieht. Die junge Ali ist gemeinsam mit ihrem bärenhaften Androiden Rob (diese künstlichen Wesen heißen in dieser Welt Shiemen) auf der Suche nach ihrer Mutter.

Auf dieser Queste lernen wir die von den Folgen des Klimawandels geplagte Welt besser kennen: Gleichermaßen schäbig zwischen den Ruinen des 21. Jahrunderts improvisiert und dennoch technologisch ambitioniert, so kommt diese Welt ein wenig raum- und zeitlos daher, wie eine Montage aus sehr wilden Versatzstücken. Was wäre das auch für eine Reise ins 23. Jahrhundert, wenn wir uns wie zu Hause fühlen würden?

Diese globalkapitalisierte Welt, in der alle möglichen Sprachen und Symbole durcheinandergehen, ist wie eine Sammlung irritierender Wimmelbilder: rätselhafte Werbetafeln, grundlose Menschenansammlungen, ganz beiläufig platzierte Minipanzer.

Die Gesellschaft ist räumlich strukturiert: Es gibt ein Innen und Außen, und auch von unten nach oben ist eine soziale Differenzierung zu beobachten, aber so ganz erschließen sich die Regularien dieser Welt nicht. Es bleiben viele Fragen offen. Und auch Ali und ihr Shiemen finden nicht alle Antworten: Alis Mutter werden sie nicht aufspüren, dafür aber jemand anderen.

Am oberen Ende dieser Gesellschaft arbeitet Dr. de Wilcrane, CEO von Shiemen Inc., an der Verbesserung androiden Lebens. Ob seine Motive ehrbar sind, bleibt offen, aber sein Verhalten und die Furcht seiner Angestellten vor ihm lassen Zweifel daran aufkommen, dass er Gutes im Schilde führt. In Unvermögen geht es um Kapital (also Vermögen) ebenso wie um Macht bzw. Ohnmacht.

So gibt die Heldin Ali die Hälfte ihres unermesslichen Vermögens ohne ein Wimpernzucken an einen Fremden weiter. Zugleich aber schwankt Dr. de Wilcrane zwischen seiner Allmacht und grenzenlosen Autorität einerseits und seiner Getriebenheit andererseits. Möchte er Ali nicht helfen oder vermag er es nicht? Das ist ein Wortspiel mit historischen Wurzeln, immerhin geht unser „mögen“ auf das mittelhochdeutsche „mugen“ zurück, und das bedeutet „können“, wie wir es aus der Wendung „Magst du mir das bitte geben?“ kennen. „Macht“ ist etymologisch damit verwandt. In Unvermögen geht es also um „Ohnmacht“.

Der Titel ist so vieldeutig wie die Handlung anspielungsreich: Als Leser*in kann man sich auf das Unvermögen der Protagonistin konzentrieren, aus eigener Kraft ihre Mutter wiederzufinden. Oder auf das Unvermögen des Shiemen, die Unwahrheit zu sagen. Am interessantesten wird es, wenn der Shimen mit Wilcrane darüber diskutiert, ob dieser nicht helfen könne oder nicht wolle: „Zwischen ’nicht wollen‘ und ’nicht können‘ besteht nicht der große Unterschied, den sie sich so wünschen. Beide Begriffe stehen letztlich für ’nicht tun‘.“ Natürlich provoziert er Wilcrane damit dazu, Ali gegen seinen Willen zu helfen.

Nebenbei wird, ohne den Zeigefinger allzuhoch zu erheben, auch die Weltgemeinschaft nicht von der Schuld freigesprochen, den Planeten allzu unsanft zu misshandeln. Das Unvermögen der Menschheit, dem menschgemachten Klimawandel mit Entschlossenheit zu begegnen, lässt Kiener nicht unerwähnt.

Das SciFi-Setting, halb Wüste, halb Industriearchitektur, mutet visuell mal ein wenig wie Moebius an, manche der Monumentalarchitekturen sind so verspielt wie die futuristischen Retroruinen von Schuiten und Peeters. Und die reduzierten Figuren, vor allem in den Totalen, erinnern entfernt, auch der Perspektive, an die irritierenden Welten von Jeremy Perrodeau, die z.T. auch bei der Edition Moderne verfügbar sind (dt. Dämmerung).

Andreas Kiener überrascht manchmal mit ästhetischen Lösungen für ganz herkömmliche Sequenzen. Als er den Shiemen in Bewegung darstellen möchte, fokussiert er nicht etwa auf die Bewegung seiner Beine oder das Vorüberziehen der Umgebung, sondern verzichtet in einer sechsteiligen Panelfolge darauf, Bewegung allzu offensichtlich zu inszenieren, indem er beinahe identische Bilder wiederholt. Lediglich, und das ist subtil, der veränderte Schattenwurf deutet an, dass hier überhaupt Bewegung stattfindet. Das erlaubt keine komplexen Interpretationen, aber zeigt, dass der Zeichner sich sehr genau überlegt hat, wie man mit ungewöhnlichen Mitteln gestalten kann.

Der Schweizer Comiczeichner Kiener hat mit Unvermögen seinen zweiten längeren Comic vorgelegt. Zuvor war mit Odysseus bei Edition Moderne (2018) der Erstling des Luzerner Künstlers (*1986) erschienen, finanziert via Crowdfunding.

Man könnte die Vieldeutigkeit von Unvermögen als eine Ansammlung loser Erzählfäden beschreiben, aber ebenso gut als ein verlockendes Angebot, diesen Comic mehrfach mit neuen Augen zu lesen. Mit Letzterem wird man dem ambitionierten Projekt vielleicht gerecht.

Bärenstark

9von10Unvermögen
Edition Moderne, 2021
Text und Zeichnungen: Andreas Kiener
160 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 23,00 Euro
ISBN: 978-3-03731-220-9
Leseprobe

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