„Das ist komisch“, so das Fazit eines dreieinhalbjährigen Testlesers zu Dämmerung. Und später „Können wir nochmal die Geschichte mit Lincoln lesen?“. Das Protokoll eines spontanen Lektüre-Experiments mit Jeremy Perrodeaus Dämmerung und meinem Sohn.
Als ich noch dachte, dieser Vormittag würde ganz allein mir und diesem Comic gehören, hörte ich noch nicht die Schritte meines Sohnes, der ins Wohnzimmer rannte, an meinen Beinen hochkletterte und mit einem Dackelblick fragte: „Ist das dein Buch?“ Und gleich danach, viel folgenreicher: „Kannst du das vorlesen?“ Nein, natürlich nicht, dachte ich, und sagte: „Ja, klar.“ Da habe ich mit etwas eingebrockt. So hat er Asterix entdeckt. Und Tim und Struppi, und nun Dämmerung. Es bahnt sich eine komplizierte Lektürebiografie an, denn bereits die frankobelgischen Klassiker sind (1) nicht besonders gut zum Vorlesen geeignet und (2) ist Tim in Amerika definitiv nichts für Dreijährige. Nun also Dämmerung. Na schön.
Dämmerung beginnt mit einem achtseitigen stummen Prolog. Eine Terraforming-Kugel schwebt über senfgelbe Landschaften und transformiert die Oberfläche mehr und mehr. Wie in einer apokryphen Schöpfungsgeschichte werden Gebirge, Flussläufe, Pflanzen, dann auch Tiere nach dem Vorbild der Erde geschaffen. Die Kugel verwandelt sich in einen Quader und zerfällt dann in zahllose Miniaturwürfel. Nun beginnt die eigentliche Geschichte. Das Kind ist fasziniert. „Nochmal.“
Szenenwechsel. Farbwechsel. Ein einsamer Mann mit altmodischem Hut und futuristischem Fluggefährt durchquert rot-in-rote Wälder, bis er, der Parkwächter Lincoln, seltsame Objekte vorfindet: „Unbekannte Kontamination.“ Über Funk hält er Kontakt zu einer Raumstation, Grand Central, die er über seine Beobachtungen informiert. Ihre Aufgabe: „Die Erforschung der biologischen Evolution des von der Station begleiteten Planeten.“ Und dabei ist etwas schiefgegangen. Vegetation wie auch die Steine des Planeten sind von parasitär anmutenden Objekten durchzogen („Scherben, Papa“), und diese führen Lincoln zu einem rätselhaften Ort. Der Kontakt bricht ab. Eine vierköpfige Rettungsmission wird ausgesendet, zwei Androiden, zwei Humanoiden. Lincoln werden sie finden, aber nicht mehr lebendig. „Papa, zeig nochmal das Skelett.“ Oh Mann.
Perrodeau ist ein wunderschönes Science-Fiction-Epos gelungen, mit einer schlicht erscheinenden Grafik, die einen unglaublichen Sog entfaltet. Wir wandern durch diese fremde Welt (bzw. die fremden Welten und Zeiten) mit der gleichen Ratlosigkeit wie die Figuren; und deren Wanderungen, die Perrodeau schon in seinem Debüt Isles – La Grande Odyssée (2013) zu einem Leitmotiv gemacht hatte, erscheinen den Figuren ebenso lang wie den Leser*innen, die Panel für Panel mitwandern müssen.
Dass Dämmerung ein spezieller Comic ist, hat mich wenig überrascht: 2018 erschien eine Neuauflage von Isles in dem Straßburger Comicverlag 2024, in dem etwa auch Xibalba oder der 3D-Comic Jim Curious zuerst erschienen sind. Bei Perrodeaus Isles handelt es sich um einen stummen Comic über eine Expedition auf eine seltsame Insel. Grafisch wie erzählerisch ist die Handschrift Perrodeaus wiederzuerkennen, ebenso in den anderen Kurzcomics, die er auf seiner Webseite vorstellt, wie etwa Noveau Monde (2015).
Der Fremdheitseffekt ist bei Isles durch die fehlende Sprache tatsächlich noch stärker ausgeprägt, aber auch Dämmerung (frz. Crépuscules) verschlägt einem die Sprache: Die rätselhafte Handlung fesselt ungemein, sowohl 3-Jährige als auch … Ältere. Mein Sohn fragt seit Tagen nach diesem Buch, nach Lincoln, nach dem Skelett. Und ich frage mich das auch.“Papa, nochmal.“ Genau.
„Papa, nochmal!“
Edition Moderne, 2020
Text und Zeichnungen: Jérémy Perrodeau
Übersetzung: Christoph Schuler
125 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 32,00 Euro
ISBN: 978-3037311974
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