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Turing

Zum ersten mal hörte ich vom Turing-Test im Film Blade Runner, als Deckard eine Frau befragt, um herauszufinden, ob sie ein Replikant sei. Damals hatte ich keine Ahnung, wie viel Gegenwart bereits in Ridley Scotts Zukunftsvision steckt.

Alle Abbildungen © avant-Verlag

Oder besser – wie viel Vergangenheit, denn wer Science Fiction verstehen will, sollte immer in die Vergangenheit schauen. Atombomben und das Potenzial, ganze Städte mit Luftschlägen auszuradieren, ein U-Boot-Krieg, der Wettlauf um den Enigma-Code, das alles ist real gewordene Science Fiction, und auch Alan Turing hat seinen festen Platz darin, der geniale Logiker, der den Enigma-Code geknackt und somit einen wichtigen Beitrag zum Ausgang des Zweiten Weltkriegs leisten konnte.

In Robert Deutschs Graphic Novel Turing lernen wir vor allem den späten Turing nach dem Krieg kennen, einen verschrobenen Typen, der mit der Gasmaske Fahrrad fährt, weil er damit seinen Heuschnupfen besser in Griff bekommt. Auch sonst ist Turing etwas sonderbar und suspekt, sprich queer, und irritiert seine Mitmenschen mit Gedanken über Roboter mit Künstlicher Intelligenz. Einmal passt er nicht auf, und ein schwules Pornomagazin fällt seinen Besuchern vor die Füße. So richtig verstehen kann diese Dinge im prüden England keiner.

Eine Maschine gilt gemäß Turing dann als intelligent, wenn man sie nicht mehr vom Menschen unterscheiden kann. Daher entwickelt Turing eine Strategie, mit der man eine Maschine mithilfe eines Fragespiels dazu zwingt, ihre Künstliche Intelligenz preiszugeben. Falls das nicht geht, muss die Maschine als intelligent genug eingestuft werden, dass die Unterscheidung obsolet ist. Auf die Idee kam Turing über ein bekanntes Ratespiel, in dem das Geschlecht von befragten Personen eindeutig zugeordnet werden muss.

Robert Deutsch interessiert sich in seiner Graphic Novel ganz und gar für die queeren Aspekte von Turings Geschichte und verzahnt dessen Errungenschaften mit seiner Queerness so subtil wie präzise. Bereits am Anfang erleben wir in einer erzählten Rückblende, wie Turing mit zwei Abzählreimen konfrontiert wird, die in recht simplen Formulierungen die Unterscheidung zwischen Mann und Frau festschreiben. Jungs werden darin so beschrieben:

„What are little boys made of? Frogs and snails and puppy dog tails. That’s what little boys are made of.“

Mädchen dagegen so:

„What are little girls made of? Sugar and spice and all things nice. That’s what little girls are made of.“

So etwas wirkt im traditionellen England natürlich wie in Stein gemeißelt. Das Queere dagegen hält es dagegen weder mit dem Eindeutigen noch dem Festgefahrenen so genau, und gerade bei Turin speisen sich die vermeintlich unnormale Abweichung und der Entdeckerdrang aus der gleichen Quelle, so dass nur folgerichtig ist, dass gerade der Vordenker von KI queer ist. Wer Gendergrenzen überschreitet, überschreitet auch leichter die Mensch-Maschine-Grenze, kann sich eher über das „Normale“ hinwegsetzen, lebt out of the box, denkt out of the box.

Das wird ihm zum Verhängnis, als er seine Zukunftsvisionen öffentlich äußert und für den zivilen Gebrauch weiterentwickeln möchte: „Eines Tages werden Damen ihre Computer zum Spazierengehen in den Park mitnehmen und einander erzählen: ‚Mein kleiner Computer sagte heute morgen etwas so lustiges.'“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist den Schlapphüten klar: dieser Queere ist als Geheimnisträger nicht tragbar. Man setzt ihn unter Druck, zwingt ihm die Entscheidung zwischen chemischer Kastration oder Gefängnis auf, diskreditiert ihn, nimmt ihm die Forschungsmittel weg. Ebenso wie damals 1895 bei Oscar Wilde hat man die Queerness lange geduldet; als aber Turing, wie seinerzeit Wilde, unbequem wird, ist seine persönliche Schwäche der perfekte Hebel, die Person auszuschalten.

Robert Deutschs Grafik ist so queer wie der Gegenstand, von dem das Buch handelt. Schon das Cover mit Alan Turings Gesicht ist konfrontativ: Kann man dem offenen Blick dieses an so vielen Stellen angreifbaren Mannes standhalten? Die scheinbar naive Grafik – an nicht wenigen Stellen erinnert sie an Howard Cruse – gestattet perfekt, eine etablierte Ästhetik und gewohnte Perspektiven zu unterlaufen. Nichts ist irgendwie cool, lässig, geschmeidig, stattdessen baut man sich, gängigen Wahrnehmungsmustern beraubt, die Welt, mit den Augen des Außenseiters gesehen, neu auf. Sie ist schöner, farbenfroher, vorurteilsfreier, aber auch fragiler. Ein Besuch auf Robert Deutschs Website verstärkt diesen Eindruck noch, dass der Künstler eine Perspektive abseits festgefahrener Denkmuster sucht.

Turing ist ein biografischer Comic, wie er sein sollte: kein gerafftes Abarbeiten von Lebensstationen, was nur die Light-Version einer Biografie sein kann, deren Zweck sich ohnehin nie erschließt. Stattdessen eine neue, erweiternde Perspektive auf eine bekannte Geschichte in klugen Bildern. Damit wird nichts Neues erzählt. Stattdessen wird Altes, scheinbar Vertrautes, neu gesehen.

Ein neuer Blick auf das scheinbar Vertraute. Kunst in ihrer besten Form

10von10Turinga
avant-Verlag, 2017
Text und Zeichnungen: Robert Deutsch
192 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 30 Euro
ISBN: 978-3964450876
Leseprobe

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