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The Future is …

Ist das die Zukunft des Comics? Diese stylishe Wundertüte futuristischer Kurzcomics, ein Band in Neonapricot und Himmelblau, mit Prägedruck, Fadenheftung und Lesebändchen?

Cover von „The future is“

Comics und Zukunft – die beiden Begriffe gehörten schon zusammen, als Little Nemo vor rund 120 Jahren ablaufende Jahre an Silvester als Greise mit langem Bart verabschiedete und das neue Jahr als verdutztes Baby begrüßte.Helferleins, Fantaschrauber und Raum/Zeit – Sprünge gehörten immer zu den Trümpfen der neunten Kunst in Kinderschuhen. Seit den 1980ern verschwand die Zukunft nach und nach dann größtenteils aus dem Medium, das zukünftige und alternative Welten so beiläufig, anschaulich und unaufwändig entwerfen kann wie kein anderes und das wie kein anderes historisch unbelastet ist (Diktaturen und Gottesstaaten waren immer gegen Comics, selbst wenn sie, wie Nazideutschland, trickfilmbegeistert waren).

In dieser Zeit des akuten Zukunftsentzugs platzt The future is … mit seinen vierzehn Sechsseitern (auf dem Cover prangt das Label „graphic novel“, das damit endgültig zum reinen Distinktionsmerkmal wird), die nach „der Welt in 100 Jahren“ fragen. Dass explizit nur Beiträge von Frauen enthalten sind, erscheint zumindest mir zwar als so problematisch und altbacken wie der im Titel mitschwingende 1970er-Slogan „The future is female“, dafür reicht die Auswahl von arrivierten Zeichnerinnen bis hin zu Newcomern. Und vor allem präsentiert der Band eine atemberaubende ästhetische Vielfalt. Die stilistische Bandbreite reicht dabei von Pastell- bis zu Primärfarben, wir kommen von der Kunsthochschule zu knalligen Kritzeleien, lesen uns durch beinahe abstrakte Impressionen und durch klassische Funnies. Dabei gibt es nicht einen Ausfall, keinen graphisch oder konzeptionell schwachen Beitrag, und die meisten sind noch viel, viel besser als das (Herausgeberin: Lilian Pithan). Da blättert sich eine ganze Welt an Möglichkeiten für die Kunstform Comic auf, und einiges wirkt tatsächlich neu.

Was fehlt, ist Zukunft – als Gefühl, als Versprechen, als Perspektive.

Dreizehn der vierzehn versammelten Geschichten schildern Dystopien, kleine und große, witzig oder melancholisch. Selbst der untypisch beschwingte abschließende Beitrag, der alternative Paarmodelle feiert, endet bei der Klimakatastrophe. Eine Handvoll Beiträge schildert wenigstens postapokalyptische Welten mit anheimelnden Zügen. Die aus diesem Muster herausfallende Geschichte über die friedliche Kommunikation mit Aliens erscheint als Stilbruch, wenn die Themenpalette sich ansonsten auf ökologische und atomare Endzeiten und Ideen von der totalen Ausbeutung und Selbstausbeutung beschränkt. Für dieses Balancieren am Rand einer trüben Eintönigkeit sind die fulminant alle Register ziehenden Zeichnerinnen sicher weniger verantwortlich zu machen als die Zeitläufe. Aber umso provokanter erscheint im Kontrast die aufgeräumte, hier und da beinahe komische Schulbuchbetulichkeit der zum Glück spärlichen Begleittexte („Unsere Gedanken und Gefühle haben uns schon immer umgetrieben. Sie beeinflussen alle unsere Beziehungen – zu uns selbst und zu anderen.“ Ach, das wird also nicht alles von Schuhlöffeln gesteuert?). Und so elegant und ansprechend die Aufmachung ist, erinnert sie zumindest in meinen Augen zu stark an einen kühlen Kunstkatalog, um die sehr guten Comics zu einem stimmigen, über die Teile hinausreichenden Leseerlebnis zu machen.

Zwangsläufig erinnert dabei diese Anthologie an Themenhefte von Fanzines und an die wunderbaren Little Lit-Bücher von Francoise Mouly und Art Spiegelman, aber denen fehlen eben folgende Comics:

„Die beste aller Welten“ von Bea Davies (aus dieser Geschichte stammt das prägnante Titelbild, aus ihrer Ästhetik leitet sich die Gestaltung des Bandes ab) erzählt in elegischen, wachskreideartigen Bildern mit indigen afrikanischem Einschlag davon, wie neue Menschen in einer neuen Welt nach dem Atomkrieg versuchen, einen neuen Tribalismus zu entwickeln.

„Gute Reise“ von Mia Oberländer zeigt in einem bratzigen, reduzierten Computerstil, wie sich gehetzte persönliche Assistenten in der Zukunft zu Tode teleportieren.

„Die verdiente Ruh“ von Maren Amini ist ein witzig ausgemalter kleiner Funny über Zukunftsängste in schlaflosen Nächten.

„Melinda“ von Aisha Franz stellt uns eine Apparatur vor, die kreative Essenz aus Künstlerinnenhirnen presst und in Werke umsetzt, was eine kreative Flaute nur noch bedrohlicher macht (der Stil ist Fil in streng).

In „Wiederkehr“ von Sheree Domingo (betörend leuchtende Buntstiftoptik, Schreibschrift, Ichwillkeincomicsein-Figuren) läuten die muschelsammelnden Geister Verstorbener in einem Dorf die Wiederbelebung eines bis auf Quallen abgestorbenen Meeres ein.

„Alles ist möglich“ von Katja Fouquet zeigt in greller Wave-Ästhetik ein zugespitztes Berlin der totalen Ungleichheit und des totalen Marktes, in dem Unglückliche ihre letzten Augenfalten verkaufen.

„Futur II“, Melanie Garanin (Ausschnitt)

In „Futur II“ von Melanie Garanin erzählt uns eine Schwimmerin in luftigen Bildern zwischen Bilderbuch und Comic von ihren früheren Fantasien über Unterwasserwelten, während hinter ihr am Horizont die Welt untergeht (aber vielleicht geht auf dem Meeresgrund ja doch alles weiter).

„Die Zukunft ist jetzt“ von Elizabeth Pich enthüllt in seriell anmutenden quadratischen 4×3-Bildern pro Seite und einer Cartoonoptik nahe an farbigen Piktogrammen einen Skandal um erneuerbare Energien (Welpen auf Laufrädern).

„Mensch spielen“, Maki Shimizu (Ausschnitt)

In „Mensch spielen“ von Maki Shimizu plagen sich posthumane anthropomorphe Farbkleckse in einem Dschungel aus Zeichen unter anderem mit übertragbaren und kostenpflichtigen Gefühlen und Gedankenkontrolle herum.

„Die Gorgonzolx“ von Marijpol sind Sporennebel, die zur Kontaktaufnahme mit Menschen emojiartige Masken benutzen und dabei den einzigen Beitrag ohne Weltuntergang bevölkern (optisch ist das ein in Blau getauchter Semifunny mit trippigem Layout).

„Die Letzten“, Kathrin Klingner (Ausschnitt)

„Die Letzten“ von Kathrin Klingner erzählt in einem an japanische Tuschezeichnungen erinnernden unruhigen Funnystil und mit hypnotischen Farben von Patchworkfamilien mutierter Tiere in einer postapokalyptischen Welt.

Malwine Stauss spielt in „Geteilte Herzen“ angesichts einer Königskinderliebe den Gedanken einer Gesellschaft durch, die nach einer ökologischen Katastrophe in eine privilegierte, repressive, zukunftsorientierte Zone mit guter Luft und eine schmutzige, freie Welt der Ausgestoßenen geteilt ist und bedient sich dabei eines scheinbar naiven wolkigen Kunsthochschulstils, der sich vor allem an alte osteuropäische Kinderbücher anzulehnen scheint.

Peer Jongelings „Meta Pills“ (reduzierte, hochoriginelle Cartoontiere, temporeiche Perspektivenwechsel) machen scheinbar schmerzlos dünn, aber beseitigen trotzdem nicht die Wahrnehmung eines dicken Ichs im Spiegel, mit dem nur eine resignierte Versöhnung möglich ist.

Und Whitney Burschs „Ich liebe uns“ entwirft in assoziativen Bildern weich und bunt übermalter kratziger Zeichnungen von Menschen, Tieren und Orten und wenigen programmatischen Sätzen ein utopisches Liebesideal und endet in einer Welt ohne Wetter.

Meine eigenen momentanen Favoriten sind hier mit jeweils einem Ausschnitt abgebildet, aber das Schöne an speziell dieser Sammlung ist tatsächlich die durchgängige Qualität aller Teile, auch wenn sie sich unterm Strich nicht zu einem größeren Ganzen fügen.

Hoffen wir, dass dieser Band graphisch und optisch, von der Aufmachung her bis zur formalen Vielfalt, tatsächlich zukunftsweisend ist. Und hoffen wir, dass inhaltlich in der Zukunft dann doch noch ein bisschen mehr drin ist.

Starke dystopische Anthologie mit tollen Zeichnungen, abwechslungsreichen Entwürfen und einigen interessanten Ideen, die leider nicht richtig satt macht.

8von10The Future is …
Carlsen Comics, 2024
Herausgegeben von Lilian Pithan

Mit Beiträgen von Maren Amini, Whitney Bursch, Bea Davies, Sheree Domingo, Katia Fouquet, Aisha Franz, Melanie Garanin, Peer Jongeling, Kathrin Klingner, Mia Oberländer, Elizabeth Pich, Marijpol, Maki Shimizu und Malwine Strauss

80 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-551-76018-0

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