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Keine Macht für Niemand – Ein Ton Steine Scherben Songcomic

Der Ton Steine Scherben Songcomic – wer bei diesem Titel moniert, dass die Bindestriche fehlen, darf diese Erkenntnis bitte für sich behalten. Autoritäre Pedanten sollen auch bitte nicht mehr weiterlesen, denn Rio Reiser und seine Scherben schreiben bei liniertem Papier gerne quer über die Zeilen.

Alle Abbildungen © Ventil-Verlag

Mein Verhältnis zu den Scherben ist seit jeher zwiespältig bis enthusiastisch. Oft mag ich ja das Dreckige an handgemachter Kunst, aber Rio Reisers Stimme kann schon wirklich furchtbar nölig sein und die Aggression in manchen seiner Stücke klingt auch unangenehm nach Jugendtheater. Die Militanz mancher Songs („Die letzte Schlacht“, „Menschenjäger“) macht mich ratlos und die Selbstgewissheit dazu, trotz Aggression und Militanz immer der bessere Mensch zu sein, finde ich anmaßend. Den Satz „Komm rüber Mutter, wir sind auf deiner Seite“ haben in den letzten Jahren wohl so einige Querdenker und andere Menschenfreunde für sich beansprucht. Doch die Scherben bieten ja mehr als nur Slogans: Rio Reisers Klavierspiel zum Beispiel. Vor allem aber ist die psychedelische Gitarre bei Songs wie „Der Traum ist aus“, „Mein Name ist Mensch“, auch bei „Menschenjäger“, so großartig, dass sämtliche Denkblockaden im Kopf in sich zusammenfallen, so dass ich auch den größten Pathos dieser Lieder einfach nur noch feiere.

Im vorliegenden Songcomic aber gibt es keinen R.P.S. Lanrue, der mich mit seiner Gitarre abheben lässt. Ob ein auf die Scherben-Texte reduzierter Comic mich ebenso abholen kann? Zweifel! Ganz grob lassen sich die fünf- bis zehnseitigen Comicbeiträge in die Kategorien „good“, „bad“ und „ugly“ einteilen, wobei die Grauzonen groß sind. Die Comicvisualisierung des „Rauch-Haus-Songs“ zum Beispiel ist gleichzeitig sehr gut und sehr hässlich. Das Künstlerkollektiv 18 Metzger kontrastiert die Hausbesetzer-Romantik des Scherbenlieds mit der Hausbesetzer-Realität, wie sie sie in den 1980ern erlebten. Für soziale Gerechtigkeitsutopien oder den Schulterschluss mit dem Mensch Meier von der Straße bleibt da nicht viel übrig, dafür viel Müll, Ratten, Alk und Kaffee. Ziemlich krass.

„Aus dem Weg, Kapitalisten …“ – Bianca Schaalburgs „Die letzte Schlacht gewinnen wir“.

Bianca Schaalburgs „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ bietet im Gegensatz dazu den Blick von außen auf den schwarzen Block. Vier Freundinnen proben das alternative Leben als Anarchistinnen, Pazifistinnen und Punks, kriegen aber das nackte Entsetzen, als sie aus nächster Nähe eine Straßenschlacht in Kreuzberg erleben. Auch hier wird das persönliche Erleben der Zeichnerin mit dem Scherben-Song kontrastiert, was auch meine eigenen Assoziationen zum Kosmos der Scherben-Ära korrigiert bzw. ergänzt.

Die dritte anekdotische Geschichte ist die schönste des Buchs: Daniela Heller erzählt uns, wie ein DJ in einer ausklingenden Partynacht „Der Traum ist aus“ auflegt. Sonst spielt er immer „The End“, aber heute waren mal die Scherben dran. Sehr schön, wie die durchgefeierten Gäste über das Lied diskutieren, der eine dabei zu verkopft, der andere euphorisch, während andere tanzen und mitsingen. Am Ende geht man mit einer letzten Cola von der Tanke in den Morgen und der Abend war gerade deswegen so geil, weil man den Scherben-Song noch im Ohr hat. Und dann geht die Sonne auf.

„Aber ich werde alles geben …“ – Daniela Hellers „Der Traum ist aus“.

Natürlich ist bei so einem Songbook mit vielen Beiträgen auch die ein oder andere Niete dabei – rein subjektiv natürlich. Kathrin Klingners „Wir müssen hier raus“ z.B. ist mit seinen plakativen Farben durchaus schön anzusehen, steht dem Zugang zum Liedtext aber doch sehr im Weg. Michael Jordans „Komm schlaf bei mir“ sieht so roh aus, als wäre es für ein Fan-Piccolo der frühen 1980er-Jahre gezeichnet und verliert sich in romantischen Assoziationen ohne offensichtlichen Zusammenhang zum Song.

Jan Soekens „Mensch Meier“ ist auch weit davon entfernt, mich zu begeistern. Die eigentlich überfüllte Tram, in der die Fahrgäste den Aufstand proben, sieht bei Soeken eher leer aus, seine lebensgroßen Tierfiguren (Hund, Haifisch, Mutant Ninja Turtle) sehen aus wie aus der Sesamstraße, und ein Gefühl für das das recht lustige Musikstück sucht man auch vergeblich – der Tanz der Fahrgäste ist eher cringe.

Armer BVG-Knecht. Jan Soekens „Mensch Meier“.

Mia Oberländer hat in ihrer Motivwahl zu „Allein machen sie dich ein“ zwar auch in den Motivfundus der Lach- und Sachgeschichten gegriffen, und ihre Raupe hat auf den ersten Blick nicht so viel mit dem lustigen Drei-Akkord-Liedchen zu tun, aber hört man sich das Scherben-Stück dazu an, passt die wildgewordene Raupe ganz gut. Das wuselige Bild erschließt sich sofort und der kindische Spaß passt zum anarchischen Sponti-Humor; was leicht schiefgehen kann, ist hier doch eine runde Sache. Auch Sascha Hommer hat sich bei „Schritt für Schritt ins Paradies“ für eine reduziert-poetische Kinderästhetik entschieden und wird dem Song doch gerecht, denn wer ist dem Paradies näher als Kinder im Sandkasten. Doppelt traurig, dass ihre nächsten Schritte wahrscheinlich erst mal vom Paradies weg führen .

Viele Scherben-Stücke aus der frühen Ära berühren unangenehm mit ihren brutalen Texten. Besonders krass ist der Paul-Panzer-Blues, in meinen Augen aber auch eines der wenigen Stücke, in denen die Brutalität vollends überzeugt. Wie in einem Mini-Theaterstück erzählt uns der frustrierte Paul Panzer, wie er saufen geht, weil ihn seinen Frau nicht ranlässt, und wie er auf dem Rummel an der Schießbude steht und daran denkt, „alle Schweine“ abzuknallen. Am Ende geht Panzer zum Chef aufs Büro und zieht die Krücke blank:

„Und wenn er dann winselt: Verlassen Sie mein Haus. Dann kann er sein Mittagessen lutschen, ich schlag ihm ein paar Zähne raus. Ich schrei, du Drecksau, gehst jetzt arbeiten für meinen Lohn. Marsch ab in die Kolonne. Die andern warten schon. Der Laden gehört jetzt uns allen, nicht mehr dir allein. Dein Wichserjob ist aus. Wir mästen dich nicht mehr, du fettes Schwein.“

Ja, warum lief Herr P. Amok? Waren wohl die Verhältnisse. „Den Song auf der Bühne auszuleben, ist immer eine emotionale Berg- und Talfahrt“, schreibt Nikel Pallat, der das Stück damals performt hat, in seinem persönlichen Vorwort zum Comic-Beitrag von Sheree Domingo und Rahel Suesskind. Die tristen Rummelplatz- und Kneipenszenen sind dabei schön sparsam auf zweitverwertetes Kalenderpapier hingeworfen, was angemessen arm und prekär aussieht. Warum der Chef allerdings gleich einen Kopfschuss kriegt, wo er doch noch in die Kolonne soll, bleibt unklar. Aber die Gewaltfantasie, in die sich der Song hineinsteigert, ist ja ebenso irrational.

„Dann kriegt der’n paar aufs Maul …“ – „Paul Panzers Blues“ von Sheree Domingo und Rahel Suesskind.

Ähnlich gestrickt ist „Feierabend“, noch ein Fabriklied. Soll der Arbeiter sich doch ab und zu mal volllaufen lassen oder ins Kino oder in Puff gehen – is‘ doch schön, so’n Arbeiterleben. Oder soll er doch mal beim Chef vorbeischauen, zwinker, zwinker? Eines jedenfalls ist klar: Wenn Nicolas Mahler diese Proll-Texte illustriert, dann kommt da noch mal was völlig Neues dabei raus. Keiner macht fremde Texte so schön zu was Eigenem wie Nicolas Mahler.

Blaulicht, Sirene, Reifenquietschen, Maschinengewehr – dadadum, dadadadum: „Menschenjäger“ ist auch noch mal eine richtig krasse Nummer: Die gegen Wir – die Bullen, die die Bonzen schützen und Aktivisten am liebsten im Knast begraben wollen. Reinhard Kleist hat für den etwas angejahrten, plakativen Song eine illustrierte Geschichte gestaltet, die dessen Zeitlosigkeit herausstellt. Es geht um Straßenkampf, so weit, so bekannt, aber eben nicht in Berlin und Hamburg, sondern in den Erzeugerländern unserer Textilien, die Bonzen von Amazin (sic!) und Zoolando – oder wie sie alle heißen – hoch oben in ihren Türmen der Macht, während unten die „Menschenjäger“ auf die Arbeiter schießen. Die feisten Damen aber im Westen, die die billige Kleidung kaufen, kriegen nichts davon mit und sind sich des blutigen Wegs, den das rote T-Shirt zurücklegt, auch gar nicht bewusst. „Der Teufel will uns gar nicht haben“ singt Rio Reiser. Bei Kleist aber sieht es eher so aus, als hätte der Teufel dafür gesorgt, dass das Spiel der Menschenjäger und der Schreibtischtäter noch ein paar Tausend Jahre so weiter geht. Während der Songtext den Zusammenhalt und die Entschlossenheit der guten Menschen behauptet – „aber eins kann ich euch garantieren, eure MGs werden nicht ewig regieren“ – zeigen die Bilder, dass sich überhaupt nichts ändert und die Ungeheuerlichkeiten lediglich aus unserem Blickfeld ausgelagert werden, Bild und Text dabei so souverän montiert, dass man sofort Kleists Gespür für musikalische Comics erkennt. Chilling stuff, und eine von Reinhard Kleists aufregendsten Arbeiten überhaupt.

„… eure MGs werden nicht ewig regieren …“ Kleists globales rotes Hemd schwebt ebenso geisterhaft wie der Mittelteil von „Menschenjäger“. Reinhardt Kleist ist mit dem Beitrag wirklich Großes gelungen.

Bleibt nur noch Ulli Lust, die sich „Keine Macht für Niemand“ vorgenommen hat, das Stück mit dem übergriffigen „Komm rüber Mutter, wir sind auf deiner Seite“. Auch Ulli Lust war sich wohl der Peinlichkeit bewusst, denn sie hat die Worte kurzerhand Hühnern und anderen Tieren vom Masthof in den Mund gelegt, so dass daraus eine sehr bizarre und morbide Mischung aus Lach- und Sachgeschichte und Totentanz wird. Makabrer Stoff, ebenso großartig wie ihre leider etwas vergessene Marcel-Beyer-Adaption Flughunde.

Ulli Lust kann auch richtig spooky Comics machen.

Die beteiligten Künstler haben hervorragende Arbeit geleistet, um die zeitlose Relevanz des Ton-Steine-Scherben-Albums zu illustrieren. Vieles, was mir seit Jahren sehr abgegriffen erschien, sehe ich jetzt wieder neu. Begleitende Texte der Künstler und ehemaliger Musiker der TSS runden die Zusammenstellung perfekt ab.

Songcomics auf unerhört hohem Niveau. Ein Hingucker.

9von10Keine Macht für Niemand – Ein Ton Steine Scherben Songcomic
Venti-Verlag, 2022
Text und Zeichnungen: Kathrin Klingner, Nicolas Mahler, Bianca Schaalburg, Sheree Domingo, Rahel Suesskind, Reinhard Kleist, Mia Oberländer, Sascha Hommer, Daniela Heller, Jan Soeken, 18 Metzger, Ulli Lust, Michael Jordan

128 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 25 Euro
ISBN: 978-3955751814
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