Nach Cash – I See a Darkness (2006) und Elvis – Die illustrierte Biographie (2007, mit Titus Ackerman und anderen Künstlern) ist Comicbiograph Reinhard Kleist nun in das musikalische Niemandsland ausgewandert und hat dem künstlerischen Anarcho-Allrounder Nick Cave ein Werk gewidmet.
Der Comic beginnt in Nick Caves australischer Heimatstadt Warracknabeal, ein Kaff etwa so groß wie Sörgenloch (bei Nieder-Olm), Gnutz (bei Aukrug) oder Gülzow-Prüzen (zwischen Bützow und dem Rand der Welt). Gelangweilt vom kleinstädtischen Leben umgeben von Gartenzwergen lernt der rauflustige und selbstbewusste Jugendliche Mick Harvey kennen, zusammen gründen sie 1973 die erste gemeinsame Band: The Boys Next Door. Alles ist ihnen zu spießig. Alles zu kommerziell. Nach einigen Erfolgen und künstlerischen Disputen beschließt die Band 1980 unter neuem Namen, The Birthday Party, nach London zu gehen. Kleist schildert anhand einer sehr schönen Split-Panel-Seite, wie sie vor fast leeren Rängen beginnen und es schließlich schaffen, den Saal zu füllen. Ihr Rezept: spektakuläre und sehr körperliche Performances. 1983 geht Nick Cave nach Berlin und lernt dort Blixa Bargeld kennen, der damals Sänger der Einstürzenden Neubauten war und fortan Gitarrist bei Nick Cave and the Bad Seeds sein sollte. Kleist lässt Nick Cave sagen: „Manche haben Angst vor Veränderung, aber du, du hast mehr Angst davor, dass alles so bleibt, wie es ist, nicht wahr?“ In Berlin nehmen Drogen und die Arbeit an seinem ersten Roman ihn völlig ein. In diesem Teil, dem dritten von fünf Kapiteln, gerät die Handlung genau wie Caves Leben etwas durcheinander: Songs werden illustriert, und wir sehen Nick Cave darin agieren (diese Technik hat Kleist schon in Cash – I See a Darkness) angewendet. Rückblenden erschweren die Lektüre. Nick Cave begibt sich auf Entzug, und darauf beginnt die erfolgreichste Phase in der Karriere des Musikers: Nick Cave and the Bad Seeds. Die Duette mit PJ Harvey und Kylie Minogue machen ihn einem großen Publikum bekannt.
Der Comic ist als Biographie vielleicht etwas unglücklich fehlbezeichnet, denn Caves Leben ist zwar schon der rote Faden durch dieses Buch, aber es scheint mir eher als illustrierte Werkschau zu funktionieren. Der Umfang der Songtexte, deren Handlungen illustriert werden, ist ungleich höher als bei Cash, Kleist legt keinen großen Wert auf Daten und genaue Angaben. Nick Caves Leben bleibt diffus, und dadurch bekommt das Werk einen viel größeren Stellenwert. Gut so.
Graphisch begeistert mich der expressive Strich Kleists mehr als jemals zuvor. Nick Caves Leben wird in wilden Sprüngen erzählt, hagiographischer Mythos und biographische Wirklichkeiten verschwimmen in den Illustrationen der Songtexte. Kleist lässt Nick Cave den Nimbus des wilden Künstlers und versucht sich nicht in psychologischen Erklärungen. Wundervoll, dass zeitgleich ein großformatiges Artbook mit ausgesonderten Zeichnungen aus der Feder Kleists erschienen ist.
Das Artbook sollte mit einer Schere ausgeliefert werden, weil die vielen farbigen Outtakes aus dem Buch auch als eigenständiges Werk funktionieren und verleiten, einzelne Seiten auszuschneiden.
Mordsmäßig gut
Carlsen, 2017
Text & Zeichnungen: Reinhard Kleist
328 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 24,99 Euro
ISBN: 978-3-551-76466-9
Leseprobe
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