Gebe ich „Angoulême“ und „Vivès“ bei Google ein, erhalte ich viele Informationen über den Eklat von 2022, als Bastien Vivès die traditionelle carte-blanche-Ausstellung entzogen wurde, weil man ihn auf Grund provokativer Bemerkungen für nicht tragbar hielt. Nichts darüber, dass Vivès‘ neuer Comic auf dem Festival in Angoulême spielt. Ich war sehr gespannt, ob Letztes Wochenende im Januar, das in Frankreich im November 2022 erschien, eine Aufarbeitung oder gar Abrechnung enthalten würde, aber offensichtlich versucht der Künstler, dieses unrühmliche Kapitel hinter sich zu lassen und nach vorne zu blicken. Und doch, wenn man will, sieht man zwischen den Zeilen durchaus eine melancholische Reserviertheit gegenüber dem Festival – und, ja, auch der Szene.
Der Comic handelt vom Comiczeichner Denis, der gerade den fünften Band seiner auf neun Bände angelegten Serie „Operation Hitler“ im Gepäck hat. Für ihn ist Angoulême längst zur profanen Berufsmesse geworden, nicht wie für die Fans, die dem Event über Monate hinweg entgegenfiebern und deren größtes Glück es ist, Signaturen abzugreifen und vielleicht einen kurzen Plausch mit den vergötterten Künstlern halten zu dürfen. Das ist alles nicht schlimm, und Denis freut sich auch über die Begegnung mit alten Bekannten, dennoch bleibt die Stimmung eher distanziert, professionell und kühl.
Verhaltene Dynamik kommt erst auf, als Denis zum ersten Mal Vanessa trifft, die sich einen Band für ihren Mann Marc signieren lässt. Vanessa ist unbedarft und sagt unverfängliche Dinge, beispielsweise, wie magisch es sei, dabei zuzusehen, wie ein Bild entsteht. Da ist ihr Mann ein anderes Kaliber: Der weiß genau, wie der Hase läuft, hat mit Moebius schon gemeinsam Dosenbier getrunken und kanzelt seine Frau nur ironisch ab, wenn sie meint, Comics seien „witzig“ und „lustig“ und das Marsupilami „irgendwie ziemlich hässlich“.
Jahrelang hat Marc erfolglos versucht, seine Frau zur Comicleserin zu erziehen, gleichzeitig hat er nicht nur einen, sondern gleich mehrere Pitches für Serien im Kopf, von denen er Denis erzählt. Die drei beschließen, das Wochenende über in Kontakt zu bleiben, aber da Marc immer auf der Pirsch nach Künstlergesprächen und Signaturen ist, hat Denis dessen Frau bald für sich. Eine kurze, zunehmend intensive Affäre bahnt sich an.
Im Großen und Ganzen erzählt uns Vives eine Variation des Films „Before Sunrise“ mit Ethan Hawke und Julie Delpy, eine zärtliche Liebesgeschichte über einen knapp bemessenen Zeitraum ohne echte Perspektive, aber dennoch weltbewegend für die beiden Akteure. Interessant am Angoulême-Setting ist dabei, wie die kulturbeflissene Szene immer etwas steif wirkt, auch was das Rahmenprogramm des Festivals angeht. Der Zugang zu Künstlergesprächen ist kompliziert mit verschiedenfarbigen Bändern organisiert, die Gespräche mit Kollegen und mit Händlern sind stets sachlich-geschäftlich, obwohl es doch über das vermeintlich schönste Hobby der Welt geht, die tatsächlich für die Comicszene stattfindenden Partys und Galas sind spröde und wenn die Künstler tatsächlich lustige Sachen machen, z.B. ein wechselseitiges Bild, so ist das doch immer innerhalb der Blase Comic, die nur um sich selbst kreist. Für Denis ist die unbedarfte Vanessa ein Lichtblick, eben weil sie nicht alles gedanklich durchdringt und auch nicht alles weiß. Dabei ist gerade ihr Blick so essentiell, um wieder zum ursprünglichen Sense of Wonder zurückzukehren, den wir alle Mal beim Thema Comic empfanden.
Vivès führt uns geschickt durch diese zarte Liebesgeschichte, lässt oft seitenlang nur Blicke und Gesten sprechen und macht Denis‘ emotionale Achterbahnfahrt und Verwirrung für den Leser erfahrbar, als wäre es die eigene. Das ist mehr als nur ein weiterer Vivès von der Stange. So mitreißend war er schon lang nicht mehr.
Auf der Suche nach dem verlorenen Sense of Wonder
Schreiber und Leser, 2023
Text und Zeichnungen: Bastien Vivès
Übersetzung: Resel Rebiersch
180 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 22,80 Euro
ISBN: 978-3965821477
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