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The Last Dynasty

Das geht ja gut los. Gao Ying ist einen Tag zu früh für seine Einschreibung an der Uni in der Stadt angekommen und muss sich jetzt eine Nacht um die Ohren hauen, weil auch das Studentenwohnheim noch nicht belegt werden kann. Er wird an ein Hotel in Sichtweite verwiesen. Und da beginnt sein Unglück.

Es geht hoch hinauf …

Wie das Hotel, so kommt auch dieser Manhua in Form eines Hochhauses daher und ist im Format 10 x 30 extrem in die Höhe gezogen. Der Künstler Mo Fei erzeugt damit einen flotten Lesefluss von oben nach unten, bringt Tempo in die Erzählung und gestattet originelle großformatige Ansichten. Breitwandpanoramen sucht man vergeblich, alles weist nach oben oder unten.

Zunächst geht es recht lustig zur Sache, mit einem schrulligen Vermieter und einigen leidlich unheimlichen Begebenheiten. So hängt in Gao Yings Zimmer ein Bild, das Gao Ying so bedrückend findet, dass er möchte, dass es abgehängt wird. Geht nicht, meint der Vermieter, ist ein Erbstück. Aber Gao Ying insistiert, also hängt der Vermieter es eben doch ab.

Nächste Barriere: auf der Rückseite des Bilds steht,

„Warnung an alle, die dieses Bild heimlich abhängen wollen: ES MUSS AUF JEDEN FALL HÄNGEN BLEIBEN.“

Und so drängt sich allmählich das Haus wie ein weiterer Charakter in die Geschichte und fordert, dass man sich dazu positioniert. Hinter dem Bild befindet sich ein Schacht, durch den man der Nebenbewohnerin beim Baden zusehen kann, das dumme nur: Die Badende wohnt in Stockwerk 5, wir befinden uns aber in Stockwerk 4, was ist da los? Aha, ein Spiegeltrick. Trotzdem, The Last Dynasty ist kein Rick-Master-Comic und das mit den banalen Erklärungen wird nicht ewig so weiter gehen.

In der folgenden Nacht wird Gao Ying sich in der Stadt verlaufen und vergeblich das Haus suchen, bis er auf einmal merkt, oha, er ist ja schon da. Dann passiert etwas Unheimliches: Ein Schlafwandler stapft durch die Nacht und als Gao Ying ihn verfolgt, tauchen unheimliche Figuren auf, die ihn bedrängen. Dann wird alles absurder, eine Flutwelle kommt – und dann war es doch nur ein Traum.

Klingt banal, ist von Mo Fei aber raffiniert ausgedacht: immer wieder führt uns die Geschichte in Bereiche, die sich beim Lesen erst mal nicht einordnen lassen. Je weiter wir uns hineinarbeiten, desto größer und komplexer werden die Schleifen vorübergehender Ratlosigkeit, die die Erzählung zieht. Aber gerade die Leseerfahrung der ersten 80 Seiten versichert uns: Es ist völlig in Ordnung ist, nicht sofort alles zu verstehen. Dranbleiben lohnt.

… und tief runter. Alle Bilder © Chinabooks

Am Tag der Einschreibung will Gao Yin das Hotel verlassen, aber das Studentenwohnheim ist inzwischen ausgebucht – und schon hat ihn das Hotel wieder in seinen Krallen. Wird es ihn noch mal gehen lassen? Ab hier wird es komplexer. Geistererscheinungen manifestieren sich mit zunehmender Dringlichkeit und sind bald nicht mehr mit vermeintlichen Spiegeltricks wegzurationalisieren. Ein Verbrechen aus der Vergangenheit wird angedeutet und es ist von weiteren 18 Stockwerken die Rede, die das Hotel aber nicht in die Höhe, sondern in die Tiefe geht. Sehr unheimlich.

Mo Fei beherrscht das Spiel mit der Wahrnehmung perfekt. Lange gaukelt er uns vor, dass das Unheimliche lediglich eine Wahrnehmungsstörung sei und sich durch Augenreiben in Wohlgefallen auflöst. Aber eigentlich muss man sich im wachen Zustand die Augen reiben, um zu erkennen, dass das Allermeiste hinter der dünnen Schicht des Vertrauten verborgen ist. In plain sight.

Mo Fei wechselt in seiner Erzählung virtuos zwischen Comedy und Horror und reizt das vertikale Format aus, um auch visuell zu beeindrucken. Beim Lesen habe ich mich dabei an diverse Kai-Meyer-Adaptionen erinnert gefühlt, die ja auch häufig dem Unheimlichen in Gebäudekomplexen nachspüren, so in Das Fleisch der Vielen und Phantasmen, eigentlich aber auch schon in Frostfeuer. Mo Fei schlägt in seiner Erzählhaltung zwar eine größere Leichtigkeit als Meyer an, erzeugt dabei aber zunehmend eine große Fallhöhe.

Die ist mindestens so immens wie das extreme Verhältnis zwischen Höhe und Breite dieses Bands (der mit Fadenbindung sorgfältig produziert ist, was auch das extreme Format strapazierfähig macht und für gute Lesbarkeit sorgt). Das sehr durchdachte Konzept packt mich und lässt auf eine baldige Fortsetzung hoffen.

Durchdachte Mystery-Story, bei der sogar das Buchformat zum Stilmittel wird. Dranbleiben lohnt.

9von10The Last Dynasty – Band 1
Chinabooks, 2024
Text und Zeichnungen: Mo Fei
Übersetzung: Johannes Fiederling
276 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 19,90 Euro
ISBN: 978-3038870265

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