Der Berliner Verlag Bruno Gmünder übersetzt seit dem letzten Jahr eine Reihe von schwulen Manga ins Englische und bringt sie so auf den westlichen Markt. Wir haben uns einige Titel aus dieser Reihe angesehen und veröffentlichen unsere Besprechungen in loser Folge in den kommenden Tagen. Zum Auftakt diskutieren drei Rezensenten mit unterschiedlichem Background eine Kurzgeschichtensammlung von Takeshi Matsu.
Till:
Der Verlag Bruno Gmünder gehört nach eigenem Bekunden zu den international führenden Verlagen für männlich-homoerotische Literatur und bietet neben Magazinen, Reiseführern und Fotobänden auch Comics mit Geschichten „für die schwule Community weltweit“. In der noch recht neuen „Gay Manga“-Reihe des Verlags erschien auch ein Band von Takeshi Matsu, der als „Japans beliebtester gay romance Mangakünstler“ angepriesen wird. ‚Warum nicht mal ein bisschen Horizonterweiterung betreiben?‘ dachte sich also dieser Rezensent und stürzte sich auf More And More Of You (and other stories). In dem Band enthalten sind Geschichten, die Takeshi Matsu als Dōjinshi selbst veröffentlichte und die hiermit das erste Mal überhaupt gesammelt und gebunden herausgegeben werden.
Der erste Eindruck, wenn man das Buch in die Hand nimmt, ist schon ungewohnt: das Format ist mit 170 x 238 mm dem deutschen Comicheft näher als dem hierzulande gewohnten Manga-Taschenbuch. ‚Vielleicht, um die Bilder besser wirken zu lassen?‘ dachte sich der Rezensent. Der Klappentext erzählt von „fun and playful sex“ und „emotional depth without baggage“. Wenn man das Buch aufschlägt, springen einem erstmal vollfarbige Abbildungen von halb nackten, sehr stark idealisierten Männern in aufreizenden Posen entgegen. Und damit wird der Leser dann auch schon zart darauf hingewiesen, was ihn im Laufe des Buches erwartet. Denn es dauert gerade mal bis Seite 7, bis das erste Mal ein erigierter Penis zu sehen ist. Auf Seite 8 spritzt das erste Mal Ejakulat auf eine nackte Männerbrust. Und genau das kriegt man im Laufe des Bandes sehr häufig zu sehen.
So liegt das Hauptaugenmerk von Takeshi Matsu offensichtlich darauf, das männliche Geschlechtsteil so detailliert wie möglich, aber auch bisweilen so groß wie möglich ins Bild zu setzen. In der Regel hängen (bzw. stehen) die gewaltigen Penisse an sehr durchtrainierten Männern, so dass man den Eindruck bekommen könnte, dass die schwule Community (in Japan) durchweg aus Männern besteht, die viel Zeit in Fitnessstudios verbringen. Diese Idealisierung lässt das Ergebnis etwas uninspiriert wirken, zumal es Matsu mit der Anatomie abseits der körperlichen Mitte der Männer nicht mehr so genau nimmt. Auf das Allernötigste reduziert sind die Hintergründe und Settings. Hin und wieder wird ein kleines Panel mit Häusern oder einem Zimmer eingestreut, um zumindest den Eindruck zu vermitteln, als ob sich die Figuren im Raum bewegen. Meist ist das aber gar nicht so richtig nötig, da sich die Figuren in relativ kurzer Zeit auf-, über- und ineinander bewegen. Wer braucht da schon Raum?
Nun stellt sich die Frage: wenn es sich hierbei um „gay romance“ handelt, dann muss da doch auch irgendwo Geschichte zu finden sein? Sicher, aber die ist dünn wie man es bei Pornografie vermutet. In wirklich keiner der Kurzgeschichten gibt es wirkliche Charakterentwicklung. Jede Story springt von Situation zu Situation mit dem Ziel, die Protagonisten möglichst schnell nackt und voll erigiert zu zeigen. Zwar klingt bei der Titelgeschichte noch ein bisschen Drama an, wenn sich die beiden Hauptpersonen erst nicht bekommen können und sich dann noch ein anderer zwischen sie zu drängen scheint, aber am Ende reicht es, dass die beiden Liebenden einen vierseitigen Dialog abhalten … während einer der beiden schon von Anfang an nur mit einem Taschentuch vor dem Geschlecht „bekleidet“ ist. Dass das nachher dann noch dazu benötigt wird, um das Ejakulat von der nackten Brust abzuwischen, ist selbsterklärend. Lediglich die vorletzte Kurzgeschichte „Recipe for Love“ ist ganz lustig, wenn sich die beiden Männer über die Zubereitung von japanischem und chinesischem Essen streiten. Aber auch hier liegt der Fokus natürlich auf dem Sex nach dem Streit.
Prinzipiell hat es natürlich seinen Reiz, wenn Comiczeichner sich einzig dem Akt zwischen zwei Menschen verschreiben. So gibt es nicht zuletzt auch hierzulande genug Beispiele dafür, dass Sexcomics auch unterhaltsam sind. Was aber beim vorliegenden Band ermüdet, ist die Tatsache, dass die Geschichten gänzlich unkomisch sind und beim Sex auf comichafte Überzeichnung komplett verzichtet wird. Als Beispiel sei hier Small Favors genannt, bei dem die Autorin Colleen Coover den Verkehr ihrer Protagonistinnen mit Witz und Esprit in Szene setzt. Darauf verzichtet Matsu vollkommen, und reduziert seine Geschichten auf reine Penisschau, was höchstens als Masturbationsvorlage herzuhalten vermag. Das Einzige, was dieser Rezensent bei der Lektüre gelernt hat: Während es bei heterosexuellen Partnerschaften als höchst unsexy gilt, zum Adamskostüm schwarze Socken zu tragen, scheint das unter Schwulen durchaus sexuellen Reiz zu haben. Gemessen daran, dass man Schwulen gemeinhin mehr Auge für Stil zuspricht, kam das eher unerwartet.
Carsten:
Für mich zielt Tills Kritik etwas ins Leere, denn natürlich taugen Matsus Geschichten mehr als schwule Wichsvorlage denn als Horizonterweiterung für bekennende Heterosexuelle (auch wenn eine Horizonterweiterung angesichts von müden Klischees à la „Schwule haben mehr Stil“ vielleicht angebracht wäre). Das hier ist Pornografie; dass Figurenentwicklung keine Priorität hat und Intimitäten samt Geschlechtsmerkmalen auf Überlebensgröße aufgepumpt werden, versteht sich da eigentlich von selbst. Bei all den Dauererektionen, die einem in More and More of You blühen, gibt es meiner Meinung nach dennoch einiges mehr zu entdecken.
Zum einen ist auffällig, dass die expliziten Sexszenen meist in einen entschieden romantischen Kontext gebettet sind. Wenn der Held der Titelgeschichte etwa masturbiert, ist das mehr als bloße Triebabfuhr, durch innere Monologe wird das Ganze zum Ausdruck einer Sehnsucht nach Zweisamkeit sowie einer festen Partnerschaft übersteigert. Die Story endet schließlich auch nicht mit einem Samenerguss, sondern zeigt mit einem Augenzwinkern, wie der romantische Traum Wirklichkeit geworden ist: Die beiden Protagonisten sind nun fest zusammen und haben auf der letzten Seite einen kleinen, ziemlich alltäglichen Beziehungsstreit.
Die idealisierten Körper, die Matsu zeichnet, sollen selbstverständlich nicht den durchschnittlichen schwulen Japaner repräsentieren, sondern bedienen eine gewisse Fantasie. Ich würde sogar behaupten, Matsu bedient diese Fantasie bis zur Überaffirmation und nutzt sie sowohl zum Lustgewinn als auch zur Satire. Besonders in der völlig überdrehten Geschichte „Go West“ ist die Satire eigentlich nicht mehr zu übersehen: Matsu erzählt von einer Gruppe von cruisenden Männern mit übernatürlichen Kräften, die in Tokios Schwulenszene für Unruhe sorgt. Das Bett wird hier zum Schauplatz eines mystischen Kampfs zwischen Gut und Böse, Potenz und Ausdauer sind Superkräfte und wer nach der Ejakulation zuerst erschöpft zusammensinkt, ist der Verlierer. Als Parodie auf einen Männlichkeitskult in der schwulen Subkultur finde ich das im Grunde ganz treffend und würde hier durchaus jene comichafte Überzeichnung ausmachen, die Till vermisst.
Michel:
Wir haben es hier eben mit einer sehr spezifischen Subkultur zu tun, die ein sehr spezifisches Publikum bedient und zudem bisher – trotz Manga-Boom – im westlichen Verlagswesen nicht existent war. Pornografische Dōjinshi sind mit westlichen Erotikcomics nicht vergleichbar, sondern eben meist reine Pornografie. Wenn man die dargestellten Inhalte nicht erotisch findet, wird es, wie bei aller Pornografie, schwierig, darüber hinaus etwas damit anfangen zu können.
Ich habe von Matsu bisher nur seinen kurzen Beitrag in MASSIVE gelesen, aber vielleicht etwas Kontext zu ihm: Matsu stammt eigentlich aus dem Bereich Shōnen Manga, hatte aber von den redaktionellen Vorgaben irgendwann die Schnauze voll und begann sich stärker im Bereich Gay Manga zu engagieren. MASSIVE nennt hierbei ein Magazin namens Kinnuku-Otoko („Muskel-Männer“), dass sich sowohl an Frauen als auch Männer richtete und somit ein Bindeglied zwischen Boyslove- und der Gay-Manga-Szene darstellt. Dieser Punkt ist absolut zentral in der Betrachtung von Gay Manga, nämlich, dass diese sich ästhetisch stark gegen BL positionieren, welche ja von Frauen für Frauen gezeichnet werden und daher meist sehr wenig mit schwulen Lebensrealitäten zu tun haben. Deswegen gibt’s bei Gay Manga eben auch statt der androgynen Jünglinge in den BL-Manga eher die bulligen, muskulösen, haarigen Typen, wie man sie von Jiraiya oder Gengoroh Tagame kennt. Matsu ist quasi irgendwo dazwischen und hat sicherlich auch viele weibliche Fans.
Also ich weiß nicht, wie die Dōjinshi-Beiträge in More and More of You sind, aber die Kurzgeschichte in MASSIVE fand ich eigentlich sehr charmant und zeichnerisch hochwertig. Ich weiß auch nicht, ob ich sparsame Hintergründe als Qualitätsmanko in einem Pornocomic ansetzen würde. Und weil Till sich über das Format gewundert hat: Doujinshi erscheinen meist in hochwertiger Aufmachung und in größerem Format, oft japanisches B5, wie die Magazine, also doppelt so groß wie die gesammelten Taschenbücher in B6. Auf Manga-Conventions kann man sich das hin und wieder in echt anschauen. Die deutschen Dōjinshi-ZeichnerInnen übernehmen da auch oft diese Formate.
Bruno Gmünder, 2014
Text/Zeichnungen: Takeshi Matsu
Übersetzung ins Englische: Anne Ishii
160 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 19,99 Euro
ISBN: 978-3-86787-793-0
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