Ein alter Mann bewacht wie jedes Jahr den Winter über eine einsame Fischerhütte. Um ihn in der Zeit bei Laune zu halten, stellen ihm die Fischer üblicherweise eine Prostituierte zur Seite. Doch dieses Jahr muss er sich mit einem jungen Mann begnügen, der in die Schuldenfalle geraten ist. Ein Homo, versichern ihm die Fischer, das wird also schon! Anfangs alles andere als begeistert, entwickelt der Alte zusehends Gefühle für seinen Kompagnon …
Es wäre natürlich nicht Gengoroh Tagame, wenn sich die Entwicklung der namenlos bleibenden Figuren hier nicht vorrangig durch explizite Sexszenen vollziehen würde. Zu Anfang lässt der Alte seinen Bediensteten ihn noch durch eine gelochte Maske oral befriedigen, um sich der Illusion einer Frau hinzugeben. Später darf der junge Mann seinem Meister beim Sex auch ins Gesicht sehen. Das Tagame-typische Verhältnis aus Dominanz und Unterwerfung bleibt dabei natürlich die ganze Zeit erhalten, aber da Tagame deutlich macht, dass beide offensichtlich drauf abfahren, ist das wohl immerhin das größte Eingeständnis an Einvernehmlichkeit, was man von Tagame erwarten kann. Das ungewohnt erhebende Ende lässt „Fisherman’s Lodge“ dann tatsächlich als Liebesgeschichte erscheinen.
Zeichnerisch hat Tagame auf sein üblicherweise sehr hohes Niveau sogar nochmal eins draufgesetzt. Neben seinen typischen, klaren Federzeichnungen nutzt er für die Rückblende, welche die tragische Vergangenheit des jungen Mannes darstellt, einen groberen Brush Pen, was eine wunderschöne, dynamische und hochemotionale Bildwirkung erzielt. Die lyrische Naturkulisse um die eingeschneite Fischerhütte gibt dem Werk zusätzlich eine fast poetische Dimension. Fisherman’s Lodge wirkt stellenweise wie die Pornoversion von Jiro Taniguchis Abenteuergeschichten. In ihrer Zeichentechnik und ihrem bevorzugten Männerbild liegen die beiden tatsächlich gar nicht so weit auseinander, und durch die Tagame-Brille gesehen wird auch bei Taniguchi-Werken wie Die Stadt und das Mädchen eine durchaus homoerotische Komponente erkennbar.
Für mich ist Fisherman’s Lodge so die bisher beste und zugänglichste der bei Bruno Gmünder veröffentlichten Tagame-Geschichten. Doch leider ziehen die beiden nachfolgenden Kurzgeschichten den Band dann doch wieder ein bisschen runter. In „Confessions“ entführt ein jüngerer Yakuza einen älteren Polizisten und vergewaltigt ihn. Mehr passiert nicht. Dass es sich hierbei um eine Vergewaltigung handelt, wird sogar in der Geschichte explizit so benannt. Tagame macht sich also gar nicht erst die Mühe, zu verschleiern, worum es ihm hier geht. Sein Kniff ist hierbei eher, dass es sich um sogenannten „Reverse Rape“ handelt, also dass ein Bottom einen Top vergewaltigt (und ja, natürlich genießt das „Opfer“ es). Das macht es aber auch nicht besser. Vergewaltigungen sind und bleiben nichts, was ich persönlich als sexy verstanden sehen möchte, und an dem Punkt werde ich mit Tagame sicherlich nie übereinkommen.
Weiterhin enthalten ist „End Line“, eine sehr kurze, völlig dramaturgie- und ambitionsfreie Geschichte, in der ein Football-Coach seinem Schützling eine Spanking-Kur verpasst, also irgendwie nur was für Leute, die gerne Männerärsche versohlt sehen. Hätte ich auch gut drauf verzichten können, aber es gibt sicherlich genug Tagame-Fans, die das anmacht.
Letztendlich zeigt sich hier, wie schwer es ist, mit Pornografie comickritisch umzugehen. Wen die Zeichnungen und die Inhalte antörnen, wird mit den jeweiligen Werken viel Spaß haben. Ansonsten sind die erzählerischen und zeichnerischen Rahmungen sicherlich nichts, was für sich einen Kauf rechtfertigen würde. Tagame ist ein exzellenter Handwerker, aber wenn man nicht zur Zielgruppe seiner erotischen Fantasien zählt, wird man mit diesen Bänden über kulturelles Interesse hinaus nicht allzu viel anfangen können. Bleibt zu hoffen, dass Bruno Gmünder seine Gay-Manga-Reihe noch um zahlreiche weitere Künstler erweitert und so nach und nach ein etwas diverseres Bild des schwulen japanischen Comics präsentiert. Dass eine solche Reihe ungemein wichtig ist, steht außer Frage.
Bruno Gmünder, 2014
Text und Zeichnungen: Gengoroh Tagame
Englische Übersetzung: Anne Ishii
160 Seiten, schwarz-weiß, Softcover mit Klappbroschur
Preis: 19,99 Euro
ISBN: 978-3867877954
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