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Fortmachen

In seinem Comic-Debüt erzählt Nils Knoblich von der Auswanderung seiner Eltern aus der DDR kurz vor dem Mauerfall. In siebzehn Anekdoten, die auf Interviews mit seiner Familie basieren, rekonstruiert er das Alltagsleben in der DDR und erweckt die Vergangenheit deutsch-deutscher Geschichte wieder zum Leben.  

Alle Bilder © Edition Moderne

Die Rahmenhandlung spielt in unserer Gegenwart und dient nur zur Verortung der Binnengeschichte als Rückblickerzählung. Nils erinnert sich nur vage an seine Erlebnisse vor dem Fall der Mauer und fragt seine Eltern um Details. Während die väterliche Erinnerung wie ausgelöscht und vom starken Bedürfnis, den heimischen Rasen zu mähen, verdrängt scheint, berichtet Anke, die Mutter des Erzählers Nils, in einzelnen Anekdoten aus der Zeit vor dem Mauerfall. Von behördlicher Willkür, als sie ihren Mann, Matthias, in der Kaserne besuchen möchte. Von persönlichem Druck, als die Familie öffentlich macht, dass sie die DDR zu verlassen beschlossen hat. Von tiefer Enttäuschung, als Anke bemerkt, dass die im Konsum angebotenen Erdbeeren nur für besondere Kunden zur Verfügung stehen. Sie verlassen den überwachungsfreudigen Bürokratiedschungel DDR schließlich auf regulärem Ausreiseweg. Der „Goldene Westen“ ist zwar eher grau als golden (Gießen), aber die Familie ist zufrieden. Es hat eine gewisse tragische Dimension, dass wenige Wochen darauf die Mauer fällt und alle Ausreisestrapazen als umsonst erscheinen. In einem Epilog springt der Comic noch einmal in die Erzählgegenwart und zeigt, wie der Vater Matthias bei Google bereitwillig und aus reiner Bequemlichkeit den Datenschutz beiseite schiebt, obwohl er zuvor über die Überwachungsstrategien der Stasi belehrt wurde. Manches liegt also nicht nur im System begründet, sondern im Menschen. Bequemlichkeit zum Beispiel.

Alle Bilder © Edition Moderne

Knoblich hat einen cartoonigen Stil gewählt wie diverse DDR-Wende-Comics, von Mawil (Kinderland, 2014) etwa oder Simon Schwartz (drüben!, 2009). Grundsätzlich schätze ich an Comics grafische Detaildichte, aber manchmal überzeugt mich auch ein sehr cartooniger Stil, etwa als punktueller Effekt in Deadly Class von Rick Remender und Wes Craig (seit 2014), in dem die Erinnerungssequenzen vom Normalstil des Comics abweichen und damit die Subjektivität des Geschehens hervorheben. Mich begeistert es in Jimmy Corrigan von Chris Ware, wo die tragische Handlung im Kontrast zur Darstellungsweise steht. Mich bringt es bei Kinderland schlichtweg dauernd zum Lachen. Bei Knoblich überzeugt es mich nicht ganz, weil die DDR-Welt nicht so plastisch wird wie bei Mawil, auch nicht tragisch oder allzu komisch.  

Man muss zugestehen: Dass Knoblich seine eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten versucht, verleiht dem Comic eine persönlichere Note, als sie Mawils Kinderland oder Treibsand (2014) von Max Mönch, Alexander Lahl und Kitty Kahane haben. Die Idee, Familiengeschichte und DDR-Wendezeit-Narration zu verbinden, hatte Simon Schwartz schon 2009 in drüben!, und dessen Figuren berühren mich mehr als diejenigen in Fortmachen. Der Story fehlt etwas, das dem Anekdotischen mehr Substanz verleiht. Die Situationen sind allzu typisch (Erdbeeren im Konsum, Stasi-Akten), die Dramen sind überschaubar (verkohlte Würstchen auf dem Grill), und in die Eltern, die sich vom Staat nicht unterkriegen lassen, kann ich mich nicht richtig hineinversetzen. Die Haltung der tapferen Eltern, dem System so stoisch und gelassen zu widerstehen, ist bewundernswert für die Familie – die Story gerät etwas gleichförmig durch sie. Der Comic ist als Aufarbeitung einer Familienhistorie gelungen, hat aber im Bereich des Wendecomics sehr starke Konkurrenz.

Tapfere Familiengeschichte

Fortmachen6von10
Edition Moderne, 2017
Text & Zeichnungen: Nils Knoblich
184 Seiten, farbig, Softcover
Preis: 24,80 Euro
ISBN: 978-3037311646
Leseprobe und Interviewvideo

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