Zehn Jahre sind seit dem Robocaust, der gezielten Vernichtung aller künstlicher Lebensformen der Galaxie, vergangen. Die vereinzelten Überlebenden werden von Kopfgeldjägern gejagt. So ergeht es auch dem kleinen Roboterjungen TIM-21, der allein in der Station einer abgelegenen Weltraumkolonie erwacht.
Die TIM-Baureihe wurde ursprünglich nur zu dem Zweck entwickelt, menschlichen Kindern als Spielgefährten zu dienen. Wie so viele andere der damaligen Roboterproduktionen, die eine bestimmte Funktion erfüllen sollten. Aber das war, bevor urplötzlich gigantische Maschinenwesen, die sogenannten Harvester, auftauchten und einen erheblichen Teil der Menschheit auslöschten. Jener Tag hat die Ansichten bezüglich künstlicher Intelligenz radikal verändert, Roboter wurden fortan nicht mehr als nützlich, sondern als potentielle Gefahr eingestuft. Der von den Menschen so stolz verfolgte technologische Fortschritt erfuhr eine Zäsur und Angst machte sich breit. Angst vor der Rückkehr der Killermaschinen, Angst vor der eigenen Schöpfung, davor, dass der Roboter den Mensch überflügeln könnte. TIM-21 fällt nun, Jahre nach dem großen Schock, eine Schlüsselrolle zu. Denn offensichtlich befinden sich in seinem Quellcode direkte Bezüge zu jenem der Harvester. Die Frage ist also: Woher stammt dieser Quellcode? Wer hat ihn entwickelt? Allein diese Fragen werden in diesem Comic so aufwühlend gestellt, dass man ihn gar nicht mehr aus der Hand legen möchte, bis man die Antworten bekommt.
Descender ist nicht das erste großartige Werk des kanadischen Autors Jeff Lemire. Gerade seine in einem sehr eigenen Look selbst gezeichneten Comics wie Essex County, Sweet Tooth oder Trillium muss man diesbezüglich hervorheben. In jüngster Zeit hat er aber auch viele DC-Titel für andere Künstler geschrieben (z.B. Green Arrow, Animal Man). Auch bei Descender zeichnet Lemire nicht persönlich, diese Aufgabe übernimmt Dustin Nguyen, der u.a. schon an Titeln wie Detective Comics oder American Vampire arbeitete. Nguyens erstaunliche helle Spacewelt und die auffällige Aquarelloptik sind es auch, die beim Durchblättern des Bands sofort ins Auge stechen. Das dürfte aber nicht der Hauptgrund sein für das Lob und die Begeisterung, welche die Image-Serie von Anfang an ausgelöst hat.
In Lemires Comic steckt von Beginn an eine faszinierende Sci-Fi-Erzählung, die alle nötigen Zutaten vereint, um den Leser anzufixen: Es gibt eine Bedrohung, die das gesamte Universum bedroht und über die man praktisch nichts weiß, es gibt ein eigens erschaffenes System aus Planeten und Alienrassen, coole Kopfgeldjäger und natürlich einen ums Überleben kämpfenden kleinen Jungen. Das sind Komponenten, die man so ähnlich beispielsweise auch in Star Wars oder in Brian K. Vaughans Comic Saga wiederfindet. Desweiteren finden sich Anleihen an Filme wie Spielbergs A.I. Artificial Intelligence und Kubriks 2001: A Space Odyssey. Kein Wunder also, dass eine Verfilmung von Descender sich bereits in Planung befindet. Ob eine filmische Adaption die Qualität der Vorlage halten kann, wird sich zeigen müssen. Immerhin ist Jeff Lemire ein hervorragender Szenarist, der hier auch ein kluge Meditation über die Frage nach dem Wesen des Menschen bzw. der Menschlichkeit abliefert. Das ist in diesem Genre keine Novität, aber Lemire und Nguyen gelingt es, wie anderen nur selten zuvor, dafür einen eigenen spannenden Kosmos zu kreieren. Das Ergebnis ist auf grafischer wie auf narrativer Ebene süchtigmachend. Wer in Descender reinliest, wird sich verlieben; in die Bilder, in die Story oder – die wahrscheinlichste Variante – in beides.
Das vortreffliche Artwork unterstreicht den eigenen Stil des Comics; im Kern ist es allerdings der packende Plot, der zu faszinieren weiß
Splitter-Verlag, 2015
Text: Jeff Lemire
Zeichnungen: Dustin Nguyen
Übersetzung: Bernd Kronsbein
144 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 22,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-166-6
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