Brillant gestaltet und fahrig erzählt: Sammy Harkham schickt uns in Blood of the Virgin auf eine tragikomische Reise durch Schatten, Abgründe und Zwischenräume.
Hollywood, 1971: Der junge Vater und Filmcutter Seymour (er trägt einen schlimmen Schnauzbart) arbeitet für den windigen Schundfilmkönig Val als Drehbuchautor, Produzent und schließlich Regisseur an dem äußerst kostengünstig konzipierten Kostümhorror „Blood of the Virgin“. Während er dauerüberfordert logistische und zwischenmenschliche Katastrophen zu verhindern versucht, entwickelt er künstlerische Ambitionen und eine Schwäche für die attraktiv verstrahlte Hauptdarstellerin Joy. Werden sich seine Träume von Kunst und Liebe erfüllen? Spoiler: Nichts weniger als das.
Sammy Harkham erzählt in ansprechender Kritzeloptik (der Strich erinnert an Chris Ware oder an Seth, ist aber viel, viel nervöser) und mit offensivem Humanismus von den Momenten zwischen den nur scheinbar entscheidenden Momenten im Leben. Hier geht es nicht um Metatextualität und das Spiel mit Comic und Film (auch wenn Seymour angeblich ein Genrefan ist, ist der titelgebende Horrorfilm vor allem ein weiterer Beweis für die Seltsamkeit der Welt), sondern um sorgfältige Alltagsbeobachtungen und Situationskomik.
Das ist häufig bewegend, manchmal poetisch und meistens ziemlich witzig. Lakonische und punktgenaue Schwarzweißbilder zeigen Los Angeles als karge und stimmungsvolle Geisterstadt, umzingelt von Wüste und Nacht. Gerne serielle Bilder in einem Layout von 5 x 3 Bildern pro Seite (wird es episch, werden es weniger, wird es wuselig oder informationslastig, werden es mehr Bildzeilen) schildern beiläufige menschliche, meist zwischenmenschliche Dramen und Abgründe wie unter dem Brennglas: Da kurvt Seymours Auto prächtige sechs Seiten lang durch dunkle Straßen, um schließlich den frisch geschassten, ganz frisch aus der Klinik entlassenen Hippieregisseur Oswald am Straßenrand liegen zu lassen.
Da endet eine geschmackvoll gestaltete explizite Sexszene zwischen Seymour und Ehefrau Ida mit Bildern von Idas Gesichtsausdruck, die uns schlagartig klarmachen, dass diese Ehe am Auseinanderbrechen ist. Da schleppen sich Seymour und seine Setkollegin Myrna in einem der trostlosesten und anrührendsten One Night Stands der Comicgeschichte gegenseitig kraftlos ins Bett. Und die Passage über Seymour und Joy auf und nach einer Party ihres despotischen Chefs Val ist die Szene über eine beginnende Verliebtheit, die die inhaltlich extrem ähnliche Szene mit der Straßenlaterne in „LaLa Land“ mit ein bisschen mehr Kunstwillen und Subtilität vielleicht hätte sein können. Wir erleben winzige Filmcrews auf wackeligen Filmsets, würdevoll verpeilte Exzentriker*innen in den Seitenstraßen von Los Angeles und miese kleine Intrigen auf Filmfeten oder Familienfeiern. Tausend aufgespießte Eindrücke, und jeder Seitenblick sitzt.
Grafisch strukturieren akribisch nuancierte wolkige Grauflächen die Räumlichkeit und das Licht in den Bildern, wie es ohne Computer früher gestrichelte Schatten getan hätten. Hinter der sehr eleganten und sauberen Gestaltung lauern wiederholt Grenzüberschreitungen: Ida masturbiert, während ihr alleingelassenes Baby schreit. Später im Band erinnert sich Idas Mutter mit stoischer Miene an ihre Zeit als Häftling mit stoischer Miene im Konzentrationslager. Viele, viele Szenen in dieser Ausnahme-Graphic-Novel wirken wirklich verblüffend neuartig, als würden wir etwas bisher Unbekanntes, aber Wichtiges über Menschen erfahren.
Leider fällt das Niveau der Narration, wie so häufig, im Vergleich zu Ästhetik und Einzelmomenten deutlich ab. So gelungen die Mikrodramaturgie der einzelnen Szenen ist, so vergurkt ist die Makrodramaturgie des gesamten Bandes. Wie so viele andere Graphic Novels wurde Blood of the Virgin ursprünglich über verschiedene Nummern verschiedener Publikationen hinweg veröffentlicht, was dem Comic überdeutlich anzumerken ist. Die einzelnen Kapitel knüpfen nicht wirklich aneinander an, manches wird mehrfach erzählt, während andererseits Nebenfiguren und Handlungsstränge von einem Kapitel zum nächsten verschwinden. Mittendrin prangt dann auf einmal ein farbiges Kapitel im Buch, das völlig unverbunden mit dem Rest die Geschichte vom Bauernjungen Joe erzählt, der ein Filmstar wurde, was genau die Art von ungebrochener Hollywoodromantik ist, die der Band ansonsten konterkariert.
Überhaupt, das Filmwesen: So unwichtig es faktisch für die meisten Episoden der Handlung ist, so überladen sind manche, den Erzählfluss stoppende Dialoge mit filmspezifischen Anspielungen, dass selbst Nerds noch einmal nachschlagen müssen und Novizen vollkommen überfordert sein dürften. Für die eigentliche Erzählung sind diese illustrierten Fußnoten absolut überflüssig.
Warum müssen ambitionierte Graphic Novels beinahe immer unter einer schluderigen Dramaturgie leiden? Ist das ein Protest gegen meist mit Genres identifizierte Meisterszenaristen wie Alan Moore, Grant Morrison oder Neil Gaiman (und den ihnen folgenden Schulen)? Gelten Spannungsbögen und Figurenentwicklung in clever verdusselten Kreisen als zu optimistisch, zu wertend, als unauthentisch? Was soll diese ermüdende Geschichtenaskese?
Ein weiteres (und weltanschaulich damit verbundenes) Manko scheinen mir die zahlreichen Anachronismen zu sein: Der Comic schwelgt in 70er-Jahre-Dekor und bildet akribisch zeittypische Alltagsdesigns ab. Aber Seymour und Ida z. B. gehen als junge Eheleute aus angeblich konservativen Milieus so kameradschaftlich angenervt miteinander um und sind so verspult, als hätten sie um die Jahrtausendwende miteinander irgendetwas Geisteswissenschaftliches studiert. Und Idas illusionslos-aktives Liebesleben zu Schulzeiten wäre in der historischen neuseeländischen Provinz um 1960 meines Wissens nach unter Mittelschichtsteenagern so offen einfach nicht möglich gewesen. Gerade bei der Genauigkeit in der Beschreibung menschlicher Verhaltensweisen, von der dieser Comic lebt und die sein Kern ist, stoßen solche Unstimmigkeiten auf.
Blood of the Virgin ist die Geschichte einer Desillusionierung, und die titelgebende geopferte Jungfrau ist natürlich in Wahrheit niemand anderes als unser glückloser Protagonist Seymour, der sich mehr als eine blutige Nase holt und mit uns erkennen muss, dass die Welt schäbiger und träger als in unseren Träumen ist. Das ist nicht unbedingt eine große Erkenntnis, aber diese kunstvolle Beweisführung macht Sammy Harkham so schnell niemand nach.
Ein Verlierer in den Seitenstraßen von Hollywood zur letzten Hochzeit des klassischen Schundfilms. Ein Feuerwerk aus melancholischem Slapstick und atmosphärischen Stadteindrücken zwischen Underground – Comix und ligne claire, voller verblüffender Beobachtungen zu Liebe, Sex und Freundschaft. Der Programmkinohit des Comicjahrs.
Reprodukt, 2023
Zeichnungen und Text: Sammy Harkham
Übersetzung: Lukas Elstermann
Handlettering: Céline Merrien
296 Seiten, Schwarzweiß und Farbe, Hardcover
Preis: 39,00 Euro
ISBN: 978-3-95640-336-1
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