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Weegee – Serial Photographer

Zu viele Vokale machen misstrauisch. WEEGEE ist doch kein Wort! Wer neugierig ist, wer oder was sich dahinter verbirgt, muss den Comic von Max de Radiguès und Wauter Mannaert lesen. Und wer Weegee schon kennt, wird trotzdem auf seine Kosten kommen.

Alle Abbildungen © Reprodukt Verlag

Weegee wurde 1899 als Ascher Fellig geboren, reiste 1910 als Arthur Fellig mit seinen Eltern in die USA ein und gab sich als Tatortfotograf den Spitznamen „Weegee“. Unter diesem Namen wurde er zunächst eine Berühmtheit der Zeitungsleser seiner Wahlheimat und später ein respektierter Chronist des nächtlichen Großstadtlebens für viele Freund*innen der Fotografie. 2016 haben Max de Radiguès und Wauter Mannaert dem eigenwilligen Fotografen ein Comic-Denkmal gesetzt, das 2022 ins Deutsche übersetzt wurde.

Als Weegee sich erstmals als Fotograf versuchte, dann nicht aus dem Interesse heraus, New Yorker Gallerien zu erobern oder fast ein Jahrhundert später in einem nordrhein-westfälischen Museum präsentiert zu werden. Fast niemand plant so etwas. Weegees Fotografien gehen inzwischen um die Welt, Ausstellungen dokumentieren sein Werk, Biografien erkunden sein Leben. Aber wer kein besonderes Interesse für Fotografie aufbringt, wird den Namen vielleicht noch nie gehört haben.

Radiguès und Mannaert schildern sein Leben als professioneller Pressefotograf seit den frühen 1940er Jahren, als er in den Nächten die Stadt New York durchstreift, um Fotos von Szenen zu schießen, vor denen sonst alle die Augen verschließen wollen.

Die erste Szene ist zeigt ein berühmtes Foto aus den frühen 1940er Jahren. Wir sehen einen Toten auf dem Gehsteig vor einem Kino liegen. Weegee eilt zum Schauplatz, vorbei an den Schaulustigen, um ein gutes Foto zu machen. Im Hintergrund sehen wir die Ankündigung der Filmkomödie Joy of Living von 1938 mit Irene Dunne und Douglas Fairbanks in den Hauptrollen. Der Kontrast zwischen dem Leichnam und der Reklame erzeugt entweder Komik oder Bitterkeit, auf jeden Fall ist er grotesk. Weege hat solche Widersprüche in Text und Bild sehr gern eingefangen. 1937 fotografierte er Feuerwehrleute vor einem brennenden Hochhaus, an dem die Reklame „Simply add boiling water“ prangte – dieses Bild ist nicht im Comic zu finden.

Weegee versuchte oft, Gegensätze einzufangen, die sich nicht selten durch das Gegeneinander von Werbetexten und Tatorten entstanden.

Oft hat Weegee in seinen Fotopublikationen die Bilder zu Gruppen arrangiert, so dass sie aufeinander zu reagieren scheinen. Die Diskrepanz zwischen Arm und Reich ist dabei ein roter Faden durch seine Schwarzweißfotos, in denen er mit grellem Blitzlicht die dunklen Seiten der Gesellschaft ausleuchtet: Ob die Huren, Bettler und Schnapsleichen (bzw. die vielen Toten) diese „dunkle Seite“ repräsentieren oder doch eher die Mächtigen, Schönen und Reichen, das bleibt dem Auge des Betrachters überlassen. Die Mächtigen sind ein Zielpunkt seines Spottes, zugleich aber auch seine Sehnsucht, wie Radiguès und Mannaert immer wieder betonen.

Dabei schildern sie keinen strahlenden Helden, ganz im Gegenteil. Die expressiven Zeichnungen von Mannaert lassen einen halbdunklen Nachtschwärmer entstehen, der sich nur sporadisch in einen eleganten Lebemann zu verwandeln scheint. Den Comic über einen Schwarzweiß-Fotografen in Farbe zu zeichnen, war natürlich keine Option, und der cartoonige Stil fängt den kauzigen Charakter sehr treffend ein.

Die Charakterisierung durch das Szenario von Radiguès tut ihr Übriges, um die Ambivalenz zu erzeugen, die auch Weegees Bilder so sehr prägt. Der berühmte Fotograf ist eben zugleich eine zwielichtige Nachtgestalt, die sich nicht zu schade ist, auch einmal nachzuhelfen, damit ein gutes Foto entsteht. In einem Interview mit Charles Forsman (der Zeichner von The End of the fxxxing World, hier rezensiert für Comicgate) für The Comics Journal fasste Radiguès seine Faszination für den facettenreichen Fotografen in eine prägnante Formel: „Weegee appears like a loveable genius and a hustler asshole.“ Ein ruhmsüchtiger Geschichtenerzähler, ein alkoholverliebtes Großmaul – und zugleich ein charmanter Underdog.

Die Details ihrer Comic-Biographie haben Radiguès und Mannaert mit derselben künstlerischen Freiheit gestaltet, wie Weegee seine Fotos möglichst mühsam arrangierte, um sie authentisch aussehen zu lassen. Manches geben die Biographien nicht her, und so ergänzen sie, wo es sinnvoll ist. Weegee selbst hat mit viel … man könnte sagen: mit viel Gestaltungswillen ein Foto inszeniert, das die beiden High-Society-Damen Mrs. George Washington Kavanaugh und Lady Decies zeigt, während von der rechten Seite eine betrunkene Obdachlose auf sie zugeht. Das Foto mit dem Titel „The Critic“ war arrangiert, die „Obdachlose“ wurde von Weegee für ihren Einsatz bezahlt. Man kann Weegee für einen Meister der Fake News halten oder für einen Fotografen, der die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit nicht so ernst nahm.

In seinem Buch Naked City ist ein Foto von Stanley Sandler abgebildet, der bei einem Autounfall starb (nicht durch ein „Verbrechen aus Leidenschaft“, wie der Comic nahelegt)

Weegees Fotos vor allem der 1930er und 1940er Jahre sind inzwischen in zahllosen Museen und Galerien rund um den Globus präsentiert worden, 2013 wurde Weegee eine Ausstellung im comicaffinen Schloss Oberhausen gewidmet, wohingegen seine späteren Fotos und Filme eher wenig Interesse gefunden haben. Wer sich an den Fotos im Anhang des Comics (anders als in der amerikanischen Ausgabe dieses Comics, wo diese fehlen) noch nicht sattgesehen hat, kann in Weegees Fotobuch Naked City (1945), das von Radiguès und Mannaert im Comic auch erwähnt wird, weiterblättern. Darin finden sich einige der abgedruckten Fotografien wieder, und auch manche der im Comic geschilderten Szenen tauchen wieder auf.

Der vorliegende Comic erschien bereits 2016 bei Éditions Sarbacane, nachdem Radiguès schon seit 2012 an einem Skript arbeitete, mit seiner eigenen zeichnerischen Umsetzung aber ebenso unzufrieden war mit verschiedenen Kooperationen mit Zeichnern, die allesamt nicht zum Ziel führten. Erst die Zusammenarbeit mit dem belgischen Zeichner Mannaert, der Weegee bereits kannte, brachte das Projekt rasch voran. Während Radigues 2009 im Rahmen eines 24h-Comic-Projekts in Vermont auf Weegee aufmerksam wurde, lernte Mannaert ihn in Brüssel kennen. Den beiden verdanken wir es, dass wir weder in die USA noch nach Belgien reisen müssen, um diesen Exzentriker kennenzulernen.

Warum Fellig sich eigentlich „Weegee“ nannte, erläutert die Biographie Flash – The Making of Weegee the Famous von Christopher Bonanos (2018) wesentlich facettenreicher als der deutsche Wikipediaeintrag oder der  Comic. Überhaupt muss man Fotografie-Expert*innen eher Bonanos gut recherchiertes Buch ans Herz legen als die Comic-Biographie, die sich auf eine sehr kurze Lebensphase von wenigen Jahren beschränkt und Weegee-Fans insofern nichts Neues bieten wird. Der Comic enthält keine Metaebenen, keine Reflexionen über künstlerische Selbstinszenierung, versucht keinen Abgleich verschiedener Wahrheitsentwürfe. Es gelingt ihm aber, ein widersprüchliches Leben derart einzufangen, dass man sich nach der Lektüre zwangsläufig auf die Suche nach Weegee-Fotobänden machen wird.

Biographie nicht nur für Fotografiehistoriker

7von10Weegee – Serial Photographer
Reprodukt, 2022
Text und Zeichnungen: Max de Radiguès & Wauter Mannaert
Übersetzung: Marion Herbert
144 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-95640-325-5
Leseprobe

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