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Acting Class

„Alle sind willkommen, bei dieser einzigartigen Gelegenheit“ steht auf einem Flyer, der für die „Acting Class“ wirbt, einen Schauspielkurs. Die Menschen, die an diesem Kurs teilnehmen, haben nicht das Ziel, Schauspieler zu werden, sie suchen eher eine kreative Betätigung oder eine Abwechslung zu ihrem Alltag.

© Nick Drnaso/Aufbau Verlage

Dieser Alltag ist bei allen zehn Teilnehmer*innen nicht besonders freudvoll oder glücklich: Da wären zum Beispiel Rosie und Dennis, deren Ehe nicht mehr gut funktioniert, der Einzelgänger Lou, dessen mitgebrachte Kekse keiner seiner Arbeitskollegen essen will, oder Beth, eine junge Frau mit psychischen Problemen, die von ihrer Oma Gloria begleitet wird. Sie alle sind auf der Suche, sie sind auf eine gewisse Art einsam und gesellschaftliche Außenseiter.

Autor und Zeichner Nick Drnaso stellt uns dieses Ensemble nach und nach vor, indem er uns kleine Szenen aus ihrem Alltag zeigt, aber auch im Gespräch untereinander während der Unterrichtsstunden. Diese Einheiten werden geleitet von einem Schauspiellehrer mit dem auffällig unauffälligen Namen John Smith – eine dubiose Figur, bei der bis zum Schluss nicht ganz klar ist, was genau er mit seinen Schülerinnen und Schülern eigentlich vorhat. Er lässt sie meistens frei improvisieren, dabei bleibt offen, ob sich die Teilnehmer eher selbst spielen oder in völlig andere Rollen schlüpfen.

Abb. aus US-Ausgabe: © Nick Drnaso/Drawn & Quarterly

Ein mehrfach wiederholtes Motiv in Acting Class sind geschauspielerte Szenen, die zunächst klar im Übungsraum angesiedelt sind – aber plötzlich ändert sich der Hintergrund der Panels, manchmal auch das Aussehen der Figuren. Ist das jetzt noch die gespielte Szene, ist es die Realität, ist es etwas Traumartiges dazwischen? Gehören die Mono- und Dialoge zu den Protagonist*innen oder sind es „erfundene“ Texte, die im Rahmen des Impro-Theaters gesagt werden? Diese Grenzen lässt Drnaso ganz bewusst verschwimmen: In einem Comic gäbe es ja tausend grafische Möglichkeiten, verschiedene Realitätsebenen eindeutig zu trennen, aber das macht er gerade nicht. Es gibt keine Änderung in Zeichenstil, Farbgebung oder Panelaufbau und so bleibt es den Leser*innen überlassen, die Grenzen zwischen Spiel und Realität auszumachen. Diese „Arbeit“ ist wohl das, was die Lektüre von Acting Class am deutlichsten prägt. Einfach ist das nicht, zumal auch die Charaktere im Comic zunehmend Schwierigkeiten haben, Fiktion und Realität zu unterscheiden.

Die Acting Class dient den Teilnehmern als eine Form der Therapie, sie soll ihnen helfen, zu sich selbst zu finden. Doch für die meisten ist diese Selbstfindung nicht in der realen Welt möglich, in einer imaginierten aber schon. Nach und nach driften sie ab, ihr Schauspiel-Ich überlagert die eigentliche Person. Wohin das am Ende führt, erzählt Drnaso in einer überraschenden Schlusssequenz, die viele Fragen offen lässt. Ein klassisches Ende, das alle Handlungsfäden ordentlich abschließt, bekommen die Leser*innen nicht – das mag für manche unbefriedigend sein, sorgt aber dafür, dass man noch länger über die Geschichte und ihre Protagonist*innen nachdenkt.

Wie gut einem Acting Class gefallen wird, dürfte auch davon abhängen, wieviel man mit Nick Drnasos Zeichenstil anfangen kann. Diesen könnte man als eine Art freudlos-triste Variante der „Ligne Claire“ bezeichnen. Die Gesichter aller Figuren sind sich sehr ähnlich, sie tragen Playmobil-artige Frisuren, zeigen kaum Emotionen in ihren Gesichtsausdrücken (in einer Szene geht es sogar genau darum). Sie wirken maskenhaft, ein bisschen wie Wachsfiguren. All das erschwert den Zugang zu dieser Geschichte, liegt aber nicht an einem zeichnerischen Unvermögen Drnasos, sondern ist sicher genau so gewollt. Die Stimmung, die der Künstler in seinen Bildern von Anfang an erzeugt, ist unbehaglich und unterkühlt. Lane Yates bezeichnet diesen Stil in einem Essay für das Comics Journal als „non-imagination“, als bewusstes Gegenteil von phantasievoll. Je schwerer diese „non-imagination“ des trist-grauen Alltags über den Figuren liegt, umso unmöglicher wird für sie ein phantasievoller Ausbruch in ein anderes Leben.

Acting Class ist das Nachfolgewerk von Drnasos großem Erfolg Sabrina, das euphorische Kritiken, auch jenseits der Comic-Bubble, bekam und auf zahlreichen Bestenlisten stand. In Sabrina ging es um Fake News, um die Frage, was wahr und was nicht – der Comic fing die gesellschaftliche Stimmung der Trump-Ära beängstigend perfekt ein. Die Frage nach Wahrheit und Lüge stellt sich auch im neuen Buch, allerdings mehr auf das Individuum bezogen. Acting Class ist kein Porträt einer Gesellschaft, sondern besteht aus vielen kleinen Porträts einzelner Personen. Im Vergleich zu Sabrina bleibt es fragmentarischer, ist eher ein Puzzle mit (bewussten) Lücken als ein vollständiges Gemälde. Das ergibt zweifellos eine interessante, herausfordernde Lektüre, das Niveau ihres Vorgängers aber erreicht Nick Drnaso mit dieser Graphic Novel nicht.

Vielschichtiges Personenporträt, das nicht ganz das Niveau seines Vorgängers erreicht

Acting Class
Aufbau Verlage/Blumenbar, 2022
Text und Zeichnungen: Nick Drnaso
Übersetzung: Karen Köhler und Daniel Beskos
268 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 28,- Euro
ISBN: 978-3-351-05102-0
US-Leseprobe

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