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Blake und Mortimer Spezial 1 – Der letzte Pharao

Im Brüsseler Justizpalast werden Wandhieroglyphen entdeckt. Ihre Untersuchung in Anwesenheit von Professor Mortimer entfesselt eine mysteriöse Strahlungsenergie, die u.a. alle Elektrizität im Umkreis ausschaltet. Brüssel wird evakuiert und eingezäunt. Jahre später bittet der gealterte Geheimdienstoffizier Blake seinen früheren Partner Mortimer darum, Brüssel und die mysteriöse Strahlung zu erforschen, bevor das internationale Militär die Stadt aus Sicherheitsgründen in die Luft jagt (auch wenn das vermutlich fürchterliche Kettenreaktionen auslösen wird). Daraufhin erkundet Mortimer mit großen Augen eine veränderte Stadt, überwuchert und überflutet, in der riesige Seeschlangen schwimmen und eigenartige Pflanzen wachsen, und in der Zurückgelassene, Aussteiger und Flüchtlinge neue Technologien ohne Elektrizität und neue Möglichkeiten des luziden Träumens ausprobieren. Vielleicht steckt in Mortimers wiederkehrenden Alpträumen von Pyramiden und Katzengöttinnen ja die Lösung, wie Brüssel gerettet werden kann (und vielleicht sogar die Welt)?

Abbildungen: © Schuiten/Carlsen/Dargaud

Es fällt schwer, auf diesen versponnenen Prachtband nicht mit schon peinlicher Ehrfurcht zu reagieren: alleine das übergroße Format, die Bindung und der verwendete Karton sind Hand- und Augenschmeichler. Und damit sind wir noch längst nicht bei den Zeichnungen, die François Schuiten auf dem vorläufigen Höhepunkt seines Comickönnens zeigen – und vor allem die „Geheimnisvollen Städte“ waren ja alles andere als Kleckerkram.

Schuiten hat in den letzten Jahren immer häufiger Stadtlandschaften für Tagungen, Thinktanks und Innovationswettbewerbe gezeichnet, futuristische Straßenbahnen entworfen und mögliche neue Nebeneinander von Natur und Technik skizziert. Schuitens Ausstellungen, Installationen und Interviews sind, trotz einer gewissen ausladenden Alterseitelkeit des Meisters, ein wirksames Mittel gegen apokalyptische Beklemmungen beim Nachdenken über die globale Zukunft (auch in grobkörnigen Dokumentationen, von denen einige herumgeistern). Die kühle Ironie in der Gestaltung und der Spaß an absurden Einfällen fängt das utopische Pathos seiner Baumwipfel- oder Unterwasserstädte elegant auf.

Eigenartig plausible, fein schraffierte Bilder unmöglicher Traum- und Alptraumorte zwischen Jugendstil und Steampunk stehen auch im Zentrum seines Blake und Mortimer-Experiments. Die unglaublichen Seiten, die dabei kaum einmal die klassische Seitenaufteilung älterer Comics verlassen, wirken wie kolorierte Kupferstiche in 3D (Farben: Laurent Durieux). Mit ein paar so präzisen wie nervösen Strichen erschafft Schuiten Weiten, skizzierte Treppen führen in unterirdische Kontinente. Das sind Bilder zum Eintauchen, Durchschweben und Verlorengehen. Wer jemals staunend als Kind vor Valérian oder Little Nemo saß, wird hier in die Zeit der Wunder zurückgeschickt. Es ist sicher kein Zufall, dass ein alter Anarchist aussieht wie der verstorbene Zeichner Moebius.

Der letzte Pharao ist tatsächlich ein psychedelischer Comic, in der Tradition von Moebius oder Druillet, mehr eine Erfahrung als eine Geschichte. Im Vergleich zu deren Exzessen besticht er aber durch eine beinahe beiläufige Präsentation seiner zum Teil spektakulären Einfälle, sowie durch eine verhältnismäßig klare Story mit erkennbaren Figuren und einer funktionierenden Dramaturgie. Vermutlich dank der Co-Szenaristen Jaco van Dormael und Thomas Gunzig bedient dieser Comic nicht zuletzt die Geschichtenlust, lässt sich wegschmökern, und vielleicht sogar verschlingen (wenn auch echte erzählerische Überraschungen leider ausbleiben). Dennoch ist dieser Band nicht unbedingt etwas für die Freunde von Abenteuercomics (und ebenfalls nur bedingt etwas für die Freunde der meist messerscharfen Phantasien in den „Geheimnisvollen Städten“), und für Nostalgiker schon gar nicht.

Denn Blake und Mortimer, die konservativen Recken aus dem Kalten Krieg, werden hier zu progressiven Vordenkern. Es ist kein Wunder, dass Titelheld Blake hier, by Joves!, nun wirklich gar nichts mehr zu tun kriegt, auch wenn selbst er so gegen das Militär wettert, wie er es unter E. P. Jacobs nie gedurft hätte. Mortimer wirkte nie zuvor ähnlich überfordert, und ein so lyrisches Abenteuer erlebten beide ganz sicher noch nicht. Trotzdem bleibt der Umgang mit dem Fundament der Serie betont respektvoll und wird (gerade im Unterschied zu vergleichbaren Projekten) nie revisionistisch. Das Gefühl von Neugierde, Spannung und Faszination, das Die Abenteuer von Blake und Mortimer kennzeichnet, wird genau so bedient wie deren Vorliebe für Science-Fiction-Angstphantasien (und wie zum versöhnlichen Kontrast sind gegen Ende ein paar Originalpanels von Jacobs eingebaut).

So verbindet Der letzte Pharao die 1940er mit den 1970ern und einer hoffentlich strahlenden Zukunft, setzt der Geschichte und den Möglichkeiten des Mediums ebenso ein Denkmal wie einer ökologischen Utopie. Ist das propagandistischer Kitsch, ein verstiegenes Durcheinander oder ein echtes Meisterwerk? Muss das einander ausschließen?

Blake und Mortimer als kunstvoller Trip mit ökologischer Botschaft- dieses ambitionierte Experiment gefällt sicher nicht allen, aber hat das Zeug zum Klassiker.

9von10Blake und Mortimer Spezial 1 – Der letzte Pharao
Carlsen Comics, 2019
Text: François Schuiten, Jaco van Dormael, Thomas Gunzig
Zeichnungen: François Schuiten
Übersetzung: Harald Sachse
92 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 19,99 Euro
ISBN: 978-3-551-74085-4

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