Es war ja nicht unbedingt damit zu rechnen, aber American Jesus hat tatsächlich seinen Abschluss gefunden. Ach ja, bei Netflix ist das Ganze jetzt auch. Gerrit und Christian haben sich fest vorgenommen, auch den dritten Band der Serie zu kommentieren: „Revelation“ (dt. „Die Offenbarung“).
Christian: Lieber Gerrit, du meintest kürzlich, wir sollten unser Projekt zu Ende bringen und American Jesus auch in der letzten Runde begleitend kommentieren. Ich finde, bei diesem Titel haben wir sogar eine besondere Verantwortung. Ich meinerseits frage mich jedenfalls, was mich geritten hat, bisher so wohlwollend mit dieser bodenlosen Verschwörungsstory umzugehen. Was denkst du? Sind wir hier einem Scharlatan aufgesessen? Oder übertreibe ich?
Gerrit: Richtig, wir müssen das zu Ende bringen. Das haben Mark Millar und Peter Gross sich 2019 sicher auch gedacht, als sie ihr Chosen-Projekt, dessen drei erste Hefte zwischen Februar und August 2004 bei Dark Horse erschien, plötzlich fortsetzten. Ab Dezember 2019 erschien die dreiteilige Fortsetzung unter dem neuen Titel American Jesus: The New Messiah bei Image Comics. Und nun, zwischen Oktober 2022 und Januar 2023 veröffentlichten die beiden tatsächlich den Abschluss der Serie, American Jesus: Revelation. Sie haben es also zu Ende gebracht, und sicherlich hat es sie motiviert, dass im August 2023 die Netflix-Serien-Adaption The Chosen One erschien.
Müssen wir die Handlung noch einmal rekapitulieren? Im ersten Band folgen wir Jodie Christianson, der sich zunächst für eine Reinkarnation von Jesus Christus hält, schließlich aber aufgeklärt wird, dass er in Wirklichkeit der Antichrist ist. In Band 2 folgen wir Catalina, die von christlichen Fundamentalisten in dem Glauben aufgezogen wird, eine moderne Variante von Jesus Christus zu sein – weiblich, dunkelhäutig, Zigaretten rauchend. Im dritten Band, wie die vorigen aus drei Heften bestehend, kommt es nun zum erwarteten Showdown, zum Armageddon, den Catalina und Jodie unter sich austragen.
Christian: Im Englischen gibt es ja die schöne Redewendung „it goes against my religion“, was in meinem Fall bei American Jesus äußerst anwendbar ist, um mein Unbehagen mit dieser Serie zu erklären. In Trilogie 1 finde ich die naive Fixiertheit auf Wunder schon sehr nervtötend. Jodie verwandelt Wasser in Wein, Jodie erweckt die Toten zum Leben, Jodie ist auf einmal unheimlich klug und weiß alles. Das ist wish fulfillment von der naiven Art und unterstellt, dass die meisten Christen nur auf so eine Art von Gottesbeweis warten und Wissenschaft für Humbug halten. Interessant wird die Geschichte allerdings dadurch, dass mit der Figur des Geistlichen Thomas gerade der Berufs-Christ nicht bereit ist, sich auf diese simple Sicht auf Religion einzulassen. Das rettet den ersten Teil, weil es die naive Sicht von Religion auf den Kopf stellt. Dass sich der vermeintliche Jesus in Wirklichkeit als Teufel entpuppt, ist eigentlich unnötig, aber auch nicht verkehrt.
Auch die zweite Trilogie nagt von Anfang an an meinen Grundüberzeugungen, aber diesmal gibt es keinen Father Thomas, der mir als Identifikationsfigur zur Seite gestellt wird. Es geht ein weiteres Mal um den wiedergeborenen Christus. Diesmal wissen aber die Christen, dass die Häscher des Satans das Kind töten wollen und verbergen es in ihrer Festung in Waco, also dort, wo sich christliche Fundamentalisten tatsächlich 1993 ein endzeitliches Feuergefecht mit der Polizei geliefert haben. Und dann kennt Millar kein Erbarmen mehr: Die Beschützer des wahren Christus sind QAnon-Typen, die sich dagegen wehren, von der Regierung gechippt zu werden, der wahre Christus, also Catalina, ist von einer Jungfrau geboren und von einem Engel gezeugt worden – muss ich mehr aufzählen? Und natürlich ist jedes Wort der Bibel wahr, also im Sinne von Tatsachenbericht.
Ich empfand immer noch ein – zugegeben perverses – Vergnügen an Teil 2, weil es den fundamentalistischen Glauben der Waco- und QAnon-Christen mit abstrusesten Verschwörungstheorien kurzschließt. Aber die Story beginnt hier schon an allen Ecken und Enden zu bröckeln und die Horror- und Fantasy-Elemente passen nicht. Ebenso wenig erhellend sind Millars wiederholte Bekenntnisse zu seiner eigenen Religiosität, denn American Jesus macht wirklich nur als antireligiöser Underground Sinn. Was will er denn erreichen mit der Gleichsetzung von QAnon und Fundamentalismus, wenn es nicht Kritik sein soll?
In Trilogie 3 wird es dann obszön: Die satanische Regierung der USA inszeniert den Zusammenbruch der Zwillingstürme am 11. September, in den Kellern des Weißen Hauses finden schwarze Messen statt und werden Kinder geopfert. Spätestens ab hier kann ich American Jesus nur noch akzeptieren als Geschichte eines christlich-fundamentalistischen Verschwörungsschwurblers in einem fortschreitenden Stadium von Rinderwahnsinn. Dass Millar trotzdem mit heiligem Ernst zuletzt von der Versöhnung von Gott und Luzifer erzählt, ist gleichermaßen irrelevant, ärgerlich, dumm und prätentiös. Die Reihe ist voll an die Wand gefahren. Das war aber abzusehen.
Gerrit: Ich merke schon – Millar und Gross haben bei dir einen Nerv getroffen. Wo soll ich anfangen? Eine Story plausibel zu einem Ende zu führen, ist schwieriger, als ein interessantes Setting aufzubauen, und die beiden haben wirklich große Geschütze aufgefahren. Zunächst einmal war es schade, die Serie nach der ersten Trilogie versanden zu lassen, weil dessen Ende einfach gar nicht als Ende der Gesamtstory taugt. Dass die Serie nun doch fortgeführt wurde, ist aber sicher nicht nur dem Stolz der beiden Künstler zu verdanken, sondern vor allem dem Interesse an einer lukrativen Verfilmung. Die Grundidee, Christus in einer modernen Welt, entspricht derjenigen von Sean Murphys Punk Rock Jesus oder Second Coming von Mark Russell und Richard Pace. Der Twist am Ende des ersten Band funktioniert gut, und ich muss zugeben, dass mich der Wunderglaube nicht so sehr stört. Wer fliegende Kostümträger akzeptiert, muss damit klarkommen. Das ist halt ein Plotelement, damit Jodie als Christus glaubhaft wird, aber einen satirischen Seitenhieb auf christliche Naivität kann ich darin nicht lesen.
Der zweite Band plätschert so vor sich hin, wobei ich die Idee, die Catalina-Jünger als Branch Davidians zu inszenieren, erst einmal interessant finde. An diesem Punkt wird aber schon klar, auf welches Problem der Comic zusteuert: Diese Vermengung einer auf den Endkampf zwischen Gut und Böse hinauslaufenden Fantasygeschichte mit der amerikanischen Realgeschichte ist heikel. Die Waco-Sekte fällt einer satanischen Verschwörung zum Opfer, Nine-Eleven war ein Inside-Job, und die Covid-Pandemie wird genutzt, um die Menschen von den Vorzügen einer Chip-Implantation zu überzeugen. Das ist auf der Ebene der Comic-Handlung alles real, und ich muss zugeben, dass solche Verschwörungsnarrative bei mir nicht mehr so gut funktionieren. Bis in die 1990er war der Glaube an Regierungsverschwörungen noch ein progressives Projekt: Die Oliver-Stone-Verfilmung des JFK-Attentats oder die X-Files haben damals auch außerhalb der USA großen Anklang gefunden. Heute sind Verschwörungsnarrative in meiner Wahrnehmung eher ein reaktionäres Phänomen.
Aber: In American Jesus ist das zwar real, bleibt aber doch fiktional – Millar und Gross haben ja keinen politischen Essay geschrieben. Es ist also zu fragen, ob diese Verschwörungselemente eine Funktion für den Plot haben. Mir scheint es bei diesen Elementen darum zu gehen, die große Versöhnung am Ende vorzubereiten und deshalb das Böse zuvor so zu gestalten, dass uns der Schaum vor den Mund tritt: die Waco-Waffen-Spinner, die Impfgegner-Spinner, die Nine-Eleven-Spinner. Millar und Gross lassen ja kaum ein aktuelles polarisierendes gesellschaftliches Thema aus: Gender, Smartphones, Russland. Themen, zu denen jeder von uns eine Meinung hat. Und als wir uns mit allem sicher sind und mit der Popcornschüssel auf den großen Endkampf zufiebern, kommt schon wieder ein Twist, der uns zum Nachdenken zwingt und die Rollen von Gut und Böse ins Wanken bringt.
Christian: Ich sehe, man muss sich hier nicht unbedingt empören – auch gut. Nun, die finale Wendung fand ich uninteressant, weil ich der Grundkonstellation nichts abgewinnen konnte. Interessant finde ich aber, dass du schreibst, das Böse wäre so gestaltet, dass uns der Schaum vor den Mund tritt, nur um dann konsequent die Verfehlungen der „Guten“ aufzuzählen: Waco-Waffen-Spinner, Impfgegner usw. sind ja in American Jesus auf der Seite der „Guten“ einsortiert, während diejenigen, die tatsächlich die Bevölkerung chippen und ja vor allem auch die Engineers von 9-11 sind, die „Bösen“ sind. Aber sehen wir mal hinweg über den ganzen offensichtlichen Unfug, so destilliert sich doch zumindest eine essentielle Weisheit daraus: Die Aufspaltung in die beiden Pole „Gut“ und „Böse“ hat auf beiden Seiten die schlimmsten Züge hervorgebracht. In einer derart gespaltenen, aus den Fugen geratenen Welt kann es auch unter den Wohlgesinnten keinen Frieden geben, weil das Pendel immer ausschlägt. Es muss aber zur Ruhe kommen, was nur geht, wenn eine Seite aufhört, den Konflikt immer neu aufzuschaukeln. Man muss gedanklich ganz schöne Verrenkungen unternehmen, aber so ergibt das Ende Sinn. Grant Morrison hat seine Vertigo-Serie Invisibles aus den 90ern ja genau in diesem Sinne tatsächlich aufgelöst, sodass Mark Millars American Jesus lediglich eine Variation davon ist – und wenn der Film Matrix bereits ein Rip-off von Invisibles gewesen sein soll, wie nicht wenige unterstellen, so ist das bei American Jesus noch viel stärker der Fall. Aber Invisibles kennt heute eh kaum noch jemand.
Ob mich die Pointe überrascht hat? Nicht unbedingt. Aber ich fand zumindest die Rolle der Mutter, die ihren kleinen teuflischen Sohn so manipuliert, dass er am Ende die richtige Entscheidung trifft, ziemlich gut angelegt. Auch finde ich – selbst im dritten, problematischen Teil – das Timing und die Platzierung einzelner Auftritte sehr gelungen. So können sich Mark Millar und Peter Gross selbst auf der sehr reduzierten Länge von drei Heften seitenlange Dialogpassagen erlauben, z.B. noch einmal eine gelungene Szene mit Father Thomas, sowie neue Figuren wie Jodies Ehefrau einführen, ohne dass der Fortgang der Story dadurch gebremst wird oder das Ende überhastet wirkt. Da muss man wirklich zugestehen, dass Millar sein Handwerk versteht. Außerdem ist Peter Gross‘ naiv-plakatives Artwork durchgehend zum Niederknien schön und gefällt mir hier viel besser als in früheren Serien. Vielleicht lässt der Flirt mit dem Bösen seine Grafik erst in voller Schönheit erstrahlen.
Gerrit: Naja, pure Begeisterung hat dieser Abschluss bei mir aber auch nicht hervorgerufen: Die Verschwörungsgeschichte ist arg dick aufgetragen, die Rolle von Kelly, Jodies Ehefrau, die wir nicht erwähnt haben, weil sie völlig irrelevant ist, erschließt sich mir überhaupt nicht, und der zweifelnde Father Thomas, eine tolle Figur im ersten Band, hat nur einen kurzen und für mich wenig erhellenden Auftritt: Jodie scheint beichten zu wollen, aber es kommt nicht dazu, weil die Schergen des Bösen plötzlich die Kirche stürmen. Cut. Nächste Szene. Immerhin: Das Ende (leider kann man nicht viel erzählen, ohne die Pointe vorwegzunehmen) reißt für mich einiges wieder raus, denn am Ende sind „Gut und Böse“ keine Frage von Theologie, Mythologie, Politik oder Geschlecht, sondern die Konsequenz frühkindlicher Erfahrungen. Damit kann ich etwas anfangen. Mal etwas anderes: Hast du eigentlich die Netflix-Verfilmung schon gesehen?
Christian: Da muss ich leider passen. Da ich bei der Reihe Peter Gross‘ Beitrag überzeugender fand als Millars, hatte ich bisher auch kein großes Interesse. Aber erzähl, ich bin neugierig:
Gerrit: Die sechsteilige Netflix-Serie läuft unter dem Titel The Chosen One (Der Auserwählte), d.h. unter dem Titel der ersten Veröffentlichung. Nicht besonders verwunderlich, denn die Geschichte umfasst nur die Story der ersten Trilogie, also der Comics von 2004. Von einer Fortsetzung habe ich nichts erfahren können, vielleicht sind die Umstände am Set (darunter ein für mehrere Beteiligte tödlicher Verkehrsunfall) einfach kein gutes Omen. Die Serie packt die Serie ganz anders an, ergänzt zahllose Figuren (vor allem eine jugendliche Freundesclique) und lässt Jodie allmählich den Verführungen seines jungen Ruhms erliegen. Anfangs gähnend langweilig, wird die Serie eigentlich ganz sympathisch, je weiter sie sich von dem Comic entfernt. Mir gefällt das oft besser als Serien, die versuchen, den Stoff möglichst verlustfrei ins andere Medium zu retten, dabei aber keinen eigenen Anreiz entwickeln. Manches ist wiederum allzu albern geraten wie die unbeholfen-unheimlichen Szenen in einer Höhle, die eigentlich kaum Sinn ergeben. Wenn die Serie mit dieser Staffel wirklich abgeschlossen ist, wäre das ein völlig vergeudetes Projekt, denn die Handlung macht so noch gar keinen Sinn. Das ist ein gutes Argument für die Comics, denn immerhin macht die Serie nach diesem Abschluss einen recht geschlossenen Eindruck.
Christian: Es gibt wenig, was mich mehr deprimiert, als die Verschwendung von Ressourcen, und Filme und Serien, die nur nacherzählen, was ohnehin schon im Comic vorliegt, ärgern mich da auch. Ich bezweifle auch, dass man bei Netflix wagt, den Pfad der Verschwörungserzählung auf die gleiche Weise zu beschreiten, wie Millar das im Comic macht. Da kann der Comic doch noch um einiges ungenierter bzw. schamloser sein.
Es ist schwindelerregend, wie Millar und Gross im Laufe ihres kleinen Neunteilers die Perspektiven wechseln. Erst entpuppt sich der wundertätige erste Jesus als Satan. Das ist noch eine vergleichsweise harmlose Handlungsvolte gegenüber der zweiten Story, worin der echte Christus in Form von Catalina die Verschwörungsparanoiker als Verbündete an ihrer Seite hat. Die sind aber nun in der realen Welt viel eher mit dem „Bösen“ konnotiert, nur dass sie sich selbst aber für „gut“ halten. Betrachtet man American Jesus zu lange, dreht sich der Gegensatz Gut-Böse regelmäßig um, ohne dass sich an der Gesamtkonstellation etwas ändert, erst eine Auflösung der Gegensätze kann dem Spuk ein Ende setzen.
Also gut: damit ist American Jesus im Finale deutlich raffinierter als der handlungsmäßig doch sehr ähnliche Film Omen 3 – The Final Conflict, der am Ende den Sieg Gottes über den Teufel feiert. Mark Millar hat sich mit American Jesus als raffinierter Prankster erwiesen, der mit massiven Geschmacklosigkeiten die Grenzen auslotet, fast, als wollte er Frederic Werthams besorgtes Seduction of the Innocent aus den 1950ern 70 Jahre später neu bestätigen. Aber wer 2023 Millar liest, ist ja vermutlich längst nicht mehr innocent.
Gerrit: Amen. Und nun nehme ich mir Grant Morrisons Invisibles vor – danke für diesen Tipp!
Christians und Gerrits gemeinsames Fazit: Am Ende erweist sich American Jesus als gelungene Satire auf fundamentalistisch-christliche Endzeitliteratur.
Image, 2023
Text: Mark Millar
Zeichnungen: Peter Gross
72 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 9,99 USD
ISBN: 978-1534324992
Leseprobe
Panini, 2023
Text: Mark Millar
Zeichnungen: Peter Gross
Übersetzung: Bernd Kronsbein
100 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 15,00 EUR
ISBN: 978-1534324992
Leseprobe
1 Kommentare