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American Jesus 2

Unsere Autoren Gerrit Lungershausen und Christian Muschweck haben mal wieder zugeschlagen. Diesmal haben sie sich den zweiten Band von American Jesus (Mark Millar und Peter Gross) ganz genau angesehen.

Alle Abbildungen: © Panini Verlag

Gerrit: Wo waren wir stehen geblieben … ? Mark Millar und Peter Gross ließen im ersten Band von American Jesus den 12-Jährigen Jodie Christianson glauben, er sei die Reinkarnation Jesu Christi. Am Ende des ersten Bandes ahnen wir, dass irgendetwas in dieser Welt nicht ganz in Ordnung ist. Und in unserer Lektüre auch nicht, denn am Ende stellt der Messias zu unserer Überraschung sich als fleischgewordener Antichrist heraus.

Die Fortsetzung wagt sich zunächst in eine neue Richtung: Millar erzählt die Geschichte von Catalina, deren Eltern sie in einer abgeschotteten religiösen Gemeinschaft in dem Glauben erziehen, sie sei die Erlöserin. Diesmal also wirklich. Eine internationale Regierungsverschwörung (Freimaurer und ihr wisst schon wer) sucht sie mit geheimdienstlichem Eifer seit ihrer Geburt. Unbefleckte Empfängnis natürlich.

Irgendwann hat die junge Erwachsene keine Lust mehr auf den fundamentalistischen Firlefanz und den Verzicht auf Zigaretten, Jungs und Rockmusik. Sie flieht von der Ranch und vor dem ideologischen Verschwörungskorsett ihrer Eltern und lockt durch ihre Unvorsicht die satanischen Verfolger auf ihre Spur.

Der zweite Band widmet sich also, fast vollständig in den 1990ern spielend und nur in Rückblenden in den 1970ern schwelgend, einer Parallelgeschichte zu derjenigen von Jodie Christianson. Nachdem der erste Band, der im Original 2004 bei Dark Horse erschien, uns beide gleichermaßen begeistert hatte, haben wir uns den zweiten Band angesehen, der bei Image Comics in drei Teilen zwischen Dezember 2019 und Februar 2020 aufgelegt wurde – und nun bei Panini auch auf Deutsch vorliegt.

Christian: Irgendwie hatte ich es kommen sehen, dass die Jodie Christianson-Geschichte erst mal auserzählt ist. Diesmal geht’s also nicht um den falschen Propheten, diesmal ist es wirklich der wiedergeborene Jesus. Inzwischen habe ich aber auch keinen Zweifel mehr, dass Mark Millar immer noch so frivol und nihilistisch ist wie eh und je.

Aber was für eine Performance Millar hier abliefert: Der Mann ist wirklich sein eigenes Gesamtkunstwerk. Es geht ja nicht nur um den Kampf von Gott gegen den Teufel, das ist ja gleichzeitig der Kampf der Systeme. Millar hat keine Sekunde lang Skrupel, den 11. September 2001 zu dem Ereignis umzudeuten, das Armageddon einleitet. Es ist wirklich abenteuerlich, wie er das Unbehagen an der Zivilisation mit seinem Geschwurbel vom letzten Gefecht zusammenführt und reale Ereignisse wie die Gründung der europäischen Union, den Siegeszug des Internets und den Terrorismus weiterspinnt und dabei im selben Zug prophezeit, dass 2028 alle Menschen gechippt sein werden und damit de facto die Nummer des Biests tragen. Hat er American Jesus 2 wirklich geschrieben, bevor mit Covid-19 schon wieder die nächste Posaune tönte? Und die verrückten Sektierer von Waco sind die einzigen, die Gott auf ihrer Seite haben. Mannomann.

Gerrit: Ich bin mir nicht sicher, ob ich es gelungen finde, Nine-Eleven religiöser aufzuladen als es eh schon ist. Vielleicht bin ich als säkular erzogener Kontinentaleuropäer nicht der richtige, um Verständnis dafür zu entwickeln … Wie auch immer: Den Verschwörungsnarrativen der 1990er konnte ich einiges abgewinnen: Als die „Lone Gunmen“ in den X-Files die globale Verschwörung um den Cigarette-Smoking-Man aufzudecken versuchten, standen die sympathischen Wirrköpfe noch auf der Seite des Guten. Inzwischen sind die drei Irren aber ein perverses Role Model für vermeintliche Querdenker, Q-Anons und Pizzagate-Wirrköpfe. Die Realität hat die Fiktion inzwischen rechts überholt. Früher hatte ich solche alternativen regierungsskeptischen Erzählungen als eher linke Gegennarrative wahrgenommen, inzwischen sind sie aber in den Mainstream gewandert: Die Akte-X-Verfilmungen der Nuller Jahre haben das alte Publikum der 1990er nicht mehr erreicht, und das ist, glaube ich, symptomatisch. Ich kann solchen Erzählungen (so ging es mir auch mit Fred Duvals Wonderball, aber das ist nur ein Beispiel unter vielen) nicht mehr so viel abgewinnen wie zum Ende des letzten Jahrtausends.

Dass Millar so lange mit der Fortsetzung gewartet hat, ist sicher kein Zufall. Netflix hat Millarworld 2017 übernommen und damit auch die Rechte an American Jesus. Die Serie ist bereits, wenn auch ohne konkretes Datum, angekündigt. Was für ein Zufall, dass Millar sich nun an den zweiten und dritten Teil macht und den Comic, den er in einem alten Interview als unprofitabel bezeichnete, in eine heilige Cash Cow verwandelt. Und nun wird gemolken.

Christian: Geschäftstüchtig war Millar schon immer. Aber mir soll’s recht sein. Immerhin mochte ich seinen American Jesus, oder Chosen, wie das 2004 noch hieß. Was sagst du eigentlich zu dem abrupten Kurswechsel in der Story. Gelingt der Übergang nahtlos oder spürt man die 15 Jahre?

Gerrit: Naja. Eher nicht. Visuell knüpft Gross nahtlos an den ersten Band an, auch wenn ich die vielen Zeichen vermisse, die man in seiner durch und durch christlichen Bildsprache gefunden hat. Meine Suche verlief diesmal weitestgehend erfolglos – oder ist es kein Zufall, dass es in dem Band über den Antichristen von Zeichen nur so wimmelt und der Band über die Erlöserin nur Leere bietet?

Und was Millars Szenario angeht … Der Band ignoriert sehr erfolgreich die Handlung und das Personal des ersten Bandes. Erstaunlich finde ich, das dies kaum stört. Für eine Fortsetzung erscheint der Band ausgesprochen eigenständig, und nur mit dem Wissen, dass ein dritter Teil bereits in Planung ist, wird klar, dass Millar und Gross sich einen Tryptichon vorgenommen haben. Der dritte und vermeintlich letzte Band wird, das ist sehr erwartbar, als ‚Mitteltafel‘ den Showdown zwischen den Mächten des Guten und den Kräften des Bösen in Szene setzen: Jodie gegen Catalina. Es ist lange her, dass Frank Millers Entscheidung für Aufsehen sorgte, in The Dark Knight Returns Robin als weiblichen Sidekick zu interpretieren. Millar und Gross wiederholen dies nun mit Christus; Peter Gross sagt dazu in einem dem Comic beigefügten Interview: „Mir gefällt es, dass wir jetzt Catalina in der Geschichte haben und nicht zwei Kerle, was wohl der ursprüngliche Plan war. Es zeigt, dass wir beide uns weiterentwickelt haben, ebenso wie der Zeitgeist der Welt.“

Christian: Millar hat sich weiterentwickelt? Ich glaub’s nicht. Ich hielt sein Chosen damals ja für einen seiner reiferen Comics. Drei Jahre danach kam Kick Ass, 2010 dann dessen Sequel Kick Ass 2, der ultimative Gewaltporno mit minderjährigen Superhelden, die gut einstecken und austeilen können. Ich muss mich an dieser Stelle nicht über Kick Ass echauffieren, aber ich beobachte Millars „Weiterentwicklung“ seit Jahren skeptisch. (Der reifste Comic, den ich von ihm kenne, erschien 1991 im britischen 2000AD-Ableger Crisis).

Wenn ich lese, was Millar über seine Comics erzählt, so denke ich grundsätzlich, das er a) kokettiert und b) bewusst falsche Fährten legt. Möglich aber auch, dass er c) wirklich so daneben liegt und keine Ahnung hat, was er die ganze Zeit macht. Du hast mir eine Interviewaussage von 2004 geschickt, in dem er über American Jesus 1 sagt: „Christian-bashing is the dullest, most predictable sport known to man. The only people interested in doing it are people who were raised as Christians and want to piss off their step-dads now that they’re in their teens. Christianity has become so targeted over the last forty years that I actually think it’s more interesting to defend it and possibly explore what’s made it such a potent force in the world for the last twenty centuries.“

Das ist vom Ansatz her alles so reizvoll und richtig, was er da schreibt – und trotzdem kann Millar einfach nicht aus seiner Troll-Haut. Ich habe sogar ernsthaft daran gezweifelt, ob es diese Geistlichen wirklich gibt, die für American Jesus 1 so wohlwollend die lesenswerten Nachworte geschrieben haben. Einmal kurz gegoogelt, sie sind real. Aber ob sie Millars Abstieg in die Niederungen zeitgenössischer Verschwörungstheorien auch mittragen würden? An einer Stelle heißt es, der Vatikan sei ein Schlangenkult. Gleichzeitig übererfüllt Mark Millars Sicht auf die Rückkehr Jesu viele Klischees des evangelikalen Bible Belt-Fundamentalismus. Das kann nicht sein Ernst sein. Außer natürlich, Antwort c trifft zu. Aber um noch mal auf die von dir erwähnte Weiterentwicklung einzugehen: Ja, es war tatsächlich eine gute Entscheidung, dass der neue Messias eine junge Frau of Colour ist. Es macht tatsächlich Sinn.

Gerrit: Ob das nun eine Herzensentscheidung war oder Kalkül … ? Schön hingegen finde ich, dass der brave Bub, den wir anfangs für Christus gehalten haben, sich als Antichrist erweist, die aufsässige Jugendliche, die Rockmusik, Zigaretten und Alkohol liebt, aber die Erlöserin ist. Wie in Sean Murphys Punk Rock Jesus, den ich immer wieder erwähne, weil ich ihn so großartig finde.Wie auch immer: Der Wert von American Jesus wird sich meiner Meinung nach darin zeigen, ob Millar und Gross am Ende nicht nur eine actiongeladene Vorlage für den Netflix-Showdown liefern, sondern auch etwas zu sagen haben. Ich bleibe neugierig.

Christian: Ich muss sagen, dass ich dieses ständige Umdrehen der Erwartungshaltung ziemlich lustig finde. Ich fürchte nur, es führt nirgendwo hin. Trotzdem folge ich der Geschichte gerne, vor allem, da der Spaß bisher nur sechs kleine Hefte in Anspruch nimmt und dabei sehr leichtfüßig erzählt ist. Was in der großen Form einer epischen Serie schon fast zwangsläufig zum Scheitern veruteilt wäre, kann in dieser kleinen Form viel eher überzeugen. Die Pointe ist vorhersehbar: Die satanische Seite ist fies und gemein, auf der christlichen Seite dagegen macht das Leben keinen Spaß und unterm Strich ist die Menschheit ohne alle diese Deppen besser dran.

Aber auch, wenn das hier natürlich ein weiteres Beispiel für die große Millarworld-Show ist, die nun auch auf Netflix läuft, so schreibe ich es doch Peter Gross zu, dass American Jesus letztlich funktioniert. American Jesus ist zu einem nicht unerheblichen Teil eine Aneinanderreihung von Dialogsequenzen, also dem, was normalerweise auf den TV-Screen gut aussieht, weil ein Schauspieler im Dialog gut glänzen kann. Im Comic wirken die Bilder zu Dialogen gelegentlich redundant, wenn sie doch nur zeigen, was man auch liest: Talking Heads eben. Gross gelingt es jedesmal wie nebenbei, während der Gespräche auch die Stimmung eines Orts einzufangen, egal ob es das christliche Camp Waco, Manhattan oder auch das Innere eines Autos ist.

Ich hatte als Teenager mal einmal einen vorübergehenden Flirt mit amerikanischer White-Metal-Musik, dem christlichen Pendant zum weitaus bekannteren Black Metal (es tragen eben schon immer mehr Menschen die Nummer des Tiers, ha ha). Seit ich The New Messiah gelesen habe, habe ich wieder ein Stück der White Metal-Band White Cross im Ohr, das hieß „Signs of the End“. Millar hat wirklich präzise die Stimmung dieser Musik eingefangen und sie gemeinsam mit Versatzstücken von Garth Ennis‘ Preacher und Grant Morrisons Invisibles zu einem Mash-Up verrührt, das ziemlich tongue-in-cheek ist, ohne auch nur ein einziges Mal explizit witzig zu sein. Irgendwie ist Peter Gross und Mark Millar hier doch ein ziemliches Bravourstück gelungen.

Gerrits Fazit:
7von10Millar melkt die heilige Cash Cow

 

 

 

Christians Fazit: 9von10

Millar und Gross kennen die Nummer des Tiers

 

 

American Jesus 2 – Der neue Messias
Panini, 2020
Text: Mark Millar
Zeichnungen: Peter Gross
Übersetzung: Bernd Kronsbein
100 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 15,00 Euro
ISBN: 9783741619465

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