Wenn das alte Jahr vorbei ist, schauen wir traditionell zurück auf die besten Comics, die wir im vergangenen Jahr gelesen haben. Ein Teil der Comicgate-Autoren hat wieder ganz persönliche Listen mit Lieblingscomics des letzten Jahres zusammengestellt. Hier sind unsere Topcomics 2015 – mal mit, mal ohne Ranking.
Unsere Topcomics der Vorjahre: 2009, 2010, 2011, 2012, 2013 und 2014.
★
DIE TOP 5 VON CHRISTIAN MUSCHWECK
Platz 5: Blast 4 – Hoffentlich irren sich die Buddhisten
von Manu Larcenet
Reprodukt
Im Abschlussband von Blast wird nun endlich das Rätsel um Polza Manzini, den mutmaßlichen Mörder, gelüftet. Manu Larcenet schafft das Kunststück, nahezu sämtliche Erzählstränge zu einem stimmigen Ende zusammenzuführen, was keineswegs selbstverständlich ist. Etwas frustrierend kann einem allerdings der Umstand vorkommen, dass sich Polza, der in den vier Blast-Büchern seine Geschichte erzählt, als unzuverlässiger Erzähler erweist und man ihm als Leser ein ums andere Mal auf den Leim geht. Andererseits erlaubt gerade diese Herangehensweise einen intimen Blick in die Wunschwelt einer tief gestörten Person. Die Reihe ist in Teilen ekelhaft bis an die Schmerzgrenze, gleichzeitig aber dermaßen lebendig und einnehmend erzählt, dass man das Buch nicht weglegen kann. Soll ich aber nun Manu Larcenets Erzählfreude loben? Ich habe eher das Gefühl, Larcenet hat sich mit Blast richtig ausgekotzt und einiges an Weltschmerz und persönlichen Leiderfahrungen hineingelegt. Künstlerisch und erzählerisch ist Blast sicher eine der besten Comicserien des noch jungen Jahrhunderts.
Platz 4: Ich bin Fagin
von Will Eisner
Egmont Graphic Novel
Ich bin Fagin war für mich eine echte Überraschung. Die durchdachte Adaption von Oliver Twist passt hervorragend zum Tonfall von Charles Dickens‘ Roman, erweitert dessen Plot aber um eine weitere Bedeutungsebene und seziert darin den unterschwelligen Antisemitismus, der der Erzählung aufgrund der Figur des Schurken Fagin anhaftet. Aber was hätte eine weitere ungefilterte Adaption mit den bekannten – fatalerweise „liebgewonnenen“ – Stereotypen auch für einen Wert gehabt? Will Eisner gelingt es auf hervorragende Weise, Dickens‘ Klassiker in einen neuen Kontext einzubetten. Die Szene, in der der verurteilte Fagin seinen Schöpfer Charles Dickens zur Rede stellt, ist ein Paradebeispiel für eine gelungene Metaerzählung, die mehr ist als nur eine selbstverliebte Spielerei. Sehr ernsthaft und aufschlussreich, wie Eisner das anstellt. Cory Doctorow hat völlig recht, wenn er schreibt, „Ich bin Fagin ist ein Meisterwerk der Literaturkritik in Form eines Comics“. Selten war ein auf den Buchdeckel aufgedrucktes Kritikerlob aussagekräftiger. [CG-Rezension]
Platz 3: Sequana
von Léo Henry und Stéphane Perger
Splitter Verlag
Dank Cristian Straub und seiner Rezension in unserem Magazin bin ich auf Sequana aufmerksam geworden. Sequana ist eine Kriminalerzählung mit sozialhistorischer Ebene, vor dem Hintergrund der Jahrhundertflut 1910 in Paris. Die spannende Story hat Kammerspielcharakter und ein eng umrissenes Personal, doch der heimliche Held der Story ist das überflutete Paris, das Stéphane Perger in Bildern und Layouts festgehalten hat, die einem schier die Sprache verschlagen. Aber teile ich Cristian Straubs Wunsch nach einer Fortsetzung, weil die Charaktere so viel Potenzial haben? „Zu gern hätte ich diese Menschen auf ihrem weiteren Lebensweg begleitet, neugierig, ob und wie jene Ereignisse aus dem Januar 1910 ihr Leben geprägt haben“, schreibt er. Das ist ein berechtigter und begründeter Einwand. Ich persönlich habe es allerdings mehr mit dem Kompakten, Abgeschlossenen, und so bin ich ganz froh, dass Sequana schon jetzt vollendet ist und nicht dahinmäandert, ausfranst und am Ende schleichend, aber unaufhaltsam, immer uninteressanter wird.
Platz 2: Richtung
von Marc-Antoine Mathieu
Reprodukt
Marc-Antoine Mathieu zeigt uns, was eine Linie alles sein kann. Richtung handelt in erster Linie davon, dass Mathieu mit wenigen Linien ein Setting entwirft, nur um im weiteren Verlauf der Story mit diesen Konturen zu spielen und schleichend die Perspektiven zu verschieben: Horizontlinien erweisen sich bei näherer Betrachtung mal als Mauern, mal als Abgründe, bei weißen Flächen ist oft zunächst unklar, aus welcher Blickrichtung man sie sieht und in welcher Relation sie zu der Erzählebene stehen, auf der sich der namenlose Held bewegt. Nun ist es aber nicht so, dass Mathieu uns optische Gaukeleien à la Escher vorsetzt. Seine grafischen Irritationen gründen vielmehr aus der extremen optischen Reduktion auf wenige Linien, viele weiße Flächen, die Schmuckfarbe Grau und eine Person, die durch diese Anordnungen läuft. Zum Glück verfolgt Mathieu mit dieser extrem reduzierten Erzählung keinen erkennbaren Sinn, so dass man sich völlig in ihr verlieren kann. [CG-Rezension]
Platz 1: Dylan Dog
von Tiziano Sclavi et al.
Libellus Verlag, bisher 4 Bände
Invasion der Körperfresser, Zombies, Jason Vorhees, Campfire Tales, Roswell, Area 51, Odyssee im Weltall, Mike Myers, Gothic Horror, Agatha Christie, englische Landhäuser, Spukschlösser, Lovecraft, Werwölfe, Jack the Ripper, Wachsfiguren, Serienkiller, verrückte Wissenschaftler – und das sind nur einige der Topoi und Inspirationen, die Tiziano Sclavi in den ersten neun Episoden seiner Gruselreihe Dylan Dog zusammengerührt hat. Aber wahrscheinlich sind ja auch diese unzähligen Inspirationsquellen von Dylan Dog, die bei weitem nicht nur aus dem Horrorsektor kommen, bereits Destillate aus dem kollektiven Unterbewusstsein, das allezeit unsichtbar um uns und in uns herumwabert. Aber Sclavi ist ein toller Erzähler und seine Geschichten sind bei aller Zitierfreude ohne jede Hektik erzählt. Fast möchte ich schreiben, die Serie sei „entspannt“, aber das stünde im Widerspruch zum Suspense jeder einzelnen Story. Das dritte Dylan Dog-Buch des Libellus-Verlags enthält mit „Die Rückkehr des Monsters“ eines der ewigen Highlights der Reihe. Höhepunkt der unglaublich dicht erzählten Story ist eine 20-seitige Sequenz, in der Dylan in einen Brunnen steigt und durch ein unterirdisches Gängesystem irrt, bis er in einem Verlies das tragische Monster findet. Tiziano Sclavi und sein Zeichner Luigi Picatto kennen die Stärken der Erzählform ganz genau und erzeugen erzählerische Höhepunkte in Serie, die auch grafisch und erzählökonomisch zum Besten gehören, was das Medium zu bieten hat. Man kann nur staunen. [CG-Rezension]
★
DIE TOP 5 VON STEFAN SVIK: Funny-Comics, die 2015 besonders lustig waren
Räusper. Comic-Skripts im Dramensatz
von Max Goldt
Rowohlt
Das Buch enthält keine Bilder, man möge es mir gestatten, es dennoch als Funny-Comic 2015 zu loben. Viele Leser seiner Kolumnen würden seine Comictexte gar nicht kennen, bemerkt der Autor im Vorwort. Diese Sammlung von über zwei Dutzend Dramen über penetrante Kellner, irritierende Pantomimen, ehrgeizige Notare und allerhand andere Themen ist ein guter Einstieg in die Comics und Cartoons von Katz und Goldt.
Schöne Töchter
von Flix
Carlsen
Eine ausgewogene Mischung aus Herz und Humor. Treffende Beobachtungen über Liebe. Überraschende Panelgestaltung. Und die so wunderbar behutsame Art, wie Flix mit seinen Figuren umgeht, verleiht dieser bibliophilen Sammlung der Tagesspiegel-Sonntagszeiten etwas, das weit über 2015 hinausstrahlt. [CG-Rezension]
Porn Story
von Ralf König
Rowohlt
Pornos von den 1970er-Jahren bis ins Smartphone-Zeitalter. Treffend beobachtet, die Facetten des Themas angedeutet und den Spagat zwischen Gags und Tragik gekonnt bewältigt. Nasenanal! Unfassbar! [CG-Rezension]
Die alten Knacker
von Wilfrid Lupano und Paul Cauuet
Splitter Verlag, bisher 2 Bände
Der filmischste Comic dieser Liste. Mit solidem Slapstick, einem überaus meisterlichen Umgang mit den Mitteln des Comics und einer weiblichen Hauptfigur, die neben Mafalda und Lisa Simpson in die Annalen der Comicheldinnen einzieht.
Beste Bilder 6 – Die Cartoons des Jahres
diverse Zeichner
Lappan
Eine Sammlung von Cartoons; dabei gab es noch einige weitere lustige Comics 2015: der neue Asterix ist von solider Komik, Fight Club 2 eine schwarzhumorige Satire und Sex Criminals ganz großartig, aber die Gag-Dichte ist beim Lappan-Buch am überzeugendsten. Gleichzeitig ein nahezu kompletter Jahresrückblick zum Thema „Charlie Hebdo“ und all den anderen Schlagzeilen.
★
DIE TOP 3 VON CRISTIAN STRAUB
Vorweggeschickt: Weder Musik-, Film-, noch Comicwelt haben der Menschheit im letzten Jahr die großen Ausnahmewerke für die Ewigkeit vermacht. Aber natürlich gibt es die paar Handvoll Künstler, die mit jeder neuen Arbeit verlässlich punkten können.
Killing and Dying (US)
von Adrian Tomine
Drawn & Quarterly
Einer dieser Routiniers ist Adrian Tomine. Er hat sich bisher hinter Chris Ware und Daniel Clowes anstellen müssen, was Aufmerksamkeit und Fame angeht. Aber Geduld macht sich bezahlt und da die Kollegen 2015 ausgesetzt haben, hat er mit Killing and Dying die Bühne für sich alleine gehabt.
Die letzte Arbeit, die ich von ihm gelesen hatte (Shortcomings aus dem Jahr 2007) war schon auf einem literarischen Level, aber im Detail doch noch zu sehr in klassischen Graphic-Novel-Stereotypen verhaftet, was Figuren, Setting und Plot anging. Tomines Talent fürs unaufgeregte, ehrliche Erzählen trat aber schon damals deutlich hervor und stellte eine deutliche Steigerung zu seinem spröden Debut Summer Blonde dar. Mit Killing and Dying hat er wiederum einen deutlichen Entwicklungssprung gemacht – grafisch wie auch erzählerisch. Die Kurzgeschichtensammlung vereinigt Stücke aus seiner Serie Optic Nerve sowie aus der Edelanthologie Kramers Ergot. Das Heterogene des Bandes ist seine größte Stärke. Jede Gesichte ist für sich originell, hat ihren eigenen Reiz, ihren eigenen Rhythmus und visuellen Stil. Und wirkten Tomines Arbeiten früher vielleicht ein Ticken zu gewollt unterkühlt, kommt man hier als Leser nicht umhin, sich emotional zu öffnen für die irrwitzigen, alltäglichen und geheimnisvollen Episoden aus den Leben der amerikanischen Mittelschicht.
Für mich mit Abstand der beste Comic 2015.
The Violent (US)
von Ed Brisson und Adam Gorham
Image Comics, bisher 1 Heft
Die Serie hat erst ein einziges Heft hervorgebracht, das im Dezember erschien. Diese erste 30 Seiten stachen heraus in einem von Highlights nicht gerade arm gespickten und vor Diversizität und Veröffentlichungswut strotzenden Image Comics. Zwar wurde der Verlag in den letzten paar Jahren allerorten auf eine penetrant-hysterische Art abgefeiert, aber wenn es um Substanz geht — sorry, da ist bei mir wenig hängen geblieben. Mit Ales Kots Material, Jason Aarons Southern Bastards, Joe Keatinges vielsprechendem Ringside, dem zu Image gewechselten Dauerbrenner Stray Bullets UND eben The Violent stößt Image — man möchte sagen: endlich — in eine Nische vor, die vorher von dem ein oder anderen Indie, vor allem aber von Vertigo besetzt war (wg. Vertigo, siehe weiter unten). Diesen Typus von seriell erzählten Geschichten hatte man für das Medium Comic beinahe schon aufgegeben, wenn auch nicht ganz so schmerzlich vermisst, weil man ihm im letzten Jahrzehnt woanders wieder begegnete — und zwar in den von allen hochgelobten Serien Typ HBO/AMC. Was diesen Typus ausmacht, ist gar nicht so einfach fest zu machen. Ich denke, so banal sich das anhört, dass es Geschichten über Menschen sind. Da soll und kann Genre mitschwingen (meistens in Form von Crime und/oder Noir), aber im Vordergrund stehen die Figuren, ihre inneren Dämonen, ihre Entwicklung und, das ist wichtig: ihr Ende.
The Violent handelt von einer junge Familie aus der Unterschicht, die sich mehr schlecht als recht durchschlägt mit Mini-Jobs und Gaunereien. Man kann sich die Wohnung im gentrifizierten Vancouver nicht mehr leisten, kann die Verantwortung der Elternschaft nicht schultern und da sind Drogenprobleme und andere Charakterschwächen noch gar nicht mit eingerechnet. Ein Porträt des kanadischen Prekariats, von Brisson packend erzählt und von Gorham fabelhaft in Szene gesetzt: This is one to watch for 2016!
The Names (US)
von Peter Milligan und Leandro Fernandez
DC Comics/Vertigo
A propos Vertigo. Dort probt man gerade den aus der PR-Abteilung diktierten Aufstand, genannt Relaunch. 2015 kamen so viele neue Vertigo-Nummer-Einsen heraus, wie noch nie in seiner Geschichte. Hat’s was gebracht? Fazit bis dato: eher nicht. Möchtegern-Fables (was ursprünglich ja auch nur Möchtegern-Sandman war) wie Red Thorn, völlig überdrehte oder durchschaubare oder einfach nur dumme High-Concept-TV&Movie-Pitches wie Unfollow, Clean Room, Survivor’s Club oder Slash & Burn sowie einem Reboot von Lucifer (plus noch ein paar mehr Serien, die aufzulisten einfach zu langweilig wäre) stehen ein recht unterhaltsames Milligan-Morrison-Surrogat (Art Ops), eine potentiell interessante multi-perspektivisch erzählte Miniserie, die im beglagerten Baghdad des Jahres 2007 spielt (The Sheriff of Baghdad), sowie eine Miniserie von Gilbert Hernandez und Darwyn Cooke (Twillight Children) gegenüber. 3 aus 12, eigentlich ’ne gute Quote, oder? Wenn das Boom oder Image wären: ja. Aber Vertigo unter Karen Berger war mal so neun-von-zehn-mäßig.
However, in einem insgesamt nicht superaufregenden Vertigo-Jahr hat mir Milligans tradepaperback’te Maxiserie The Names noch am meisten Freude bereitet. Ein total überdrehter Action-Sci-Fi-Thriller, der in der Finanzwelt spielt. Nicht gerade logisch oder subtil erzählt, und die typischen Milliganismen wie “schüchterner Boy trifft auf cooles und toughes Girl” inklusive, aber egal, weil: Es hat verdammt viel Tempo und Herz, ist sexy und macht einfach Spaß! Dass dabei endlich mal ein Comic zum Thema High Frequency Trading entstanden ist, finde ich auch nicht unoriginell. Mein Popcorn-Hit 2015. Abschließender Fun Fact: Milligan und Fernandez haben eine neue Serie angekündigt, diesmal verlegt von Image Comics.
Goodbye, Vertigo. It was nice, while it lasted.
★
DIE TOP 5 VON THOMAS KÖGEL
Ein Sommer am See
von Mariko und Jilian Tamaki
Reprodukt
War beim Erscheinen in den USA schon ein Kritikerliebling und kam auch hierzulande im Feuilleton gut an – dabei ist das hier eben keiner jener ge-wichtigen Themencomics, die oft schon deshalb Anerkennung finden, weil ihr Sujet gerade so relevant ist. This One Summer, im Original bei einem Jugendbuchverlag erschienen, ist eine Urlaubsgeschichte, angesiedelt an der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend, in der es in erster Linie um ein Lebensgefühl geht. Die Tamaki-Cousinen transportieren exzellent, wie sich nach und nach, in kleinen Schritten, vieles ändert – sei es das Verhältnis zur besten Freundin, das Verhältnis zu den Eltern oder der Blick aufs andere Geschlecht. Das geschieht in einem Erzählstil, der jederzeit sehr leicht bleibt, ohne es an Tiefgang vermissen zu lassen. Wird man noch öfter wiederlesen wollen. [CG-Rezension]
Giant Days (US)
von John Allison und Lissa Treiman
Boom! Studios, bisher ein Sammelband
Auch dieser Comic handelt von Mächen, die mit dem Erwachsenwerden noch nicht fertig sind, ist aber ansonsten komplett anders als Ein Sommer am See. Die drei Protagonistinnen von Giant Days sind gerade volljährig und frisch an der Uni angekommen. Da gibt es Tag für Tag genug Probleme, mit denen man zurecht kommen muss. Der erfolgreiche britische Webcomicer John Allison bewegt sich hier in einem Genre, das man im Comic eher selten zu sehen bekommt: Knackige Dialoge, sympathische Figuren, überdrehte Situationen – es ist eine Sitcom! Aus dem Fernsehen kennt man das zur Genüge, im Comic wirkt es unheimlich erfrischend. Ebenso wie die Tatsache, dass man hier einer rein weiblichen Riege von Hauptpersonen beim Scheitern zuschaut. Eine Storyline in diesem Sammelband kann man dabei durchaus als feministisch bezeichnen. Allison erzählt diese und andere Episoden mit viel Humor, Herzlichkeit und Wärme und ist dabei auch noch wunderbar britisch. Dazu kommen die lässig-schwungvollen Zeichnungen von Lissa Treiman, denen man ihre Herkunft vom Zeichentrickfilm deutlich ansieht. Schön, dass man das (bei Popcom) auch bald auf Deutsch lesen kann!
Nimona (US)
von Noelle Stevenson
Harper Collins
Erschien ursprünglich als (extrem erfolgreicher) Webcomic, 2015 gab es endlich die Buchausgabe. Die Geschichte beginnt als hübsch-alberne Fantasyparodie, in der sich das Mädchen Nimona dem schurkischen Ritter Ballister Blackheart als Sidekick aufdrängt. Das kommt mit einer Wagenladung Charme daher und macht bereits großen Spaß, doch die Story ändert dann mehrfach ihren Tonfall und wird unerwartet düster und tragisch. Die Figuren sind einem dann schon so sehr ans Herz gewachsen, dass man unweigerlich mitfühlt. Denn im Prinzip geht’s um Liebe. Zwischen Schurke und Sidekick, Held und Gegner, vor allem aber um die Liebe der Autorin und Zeichnerin für ihre Figuren. Die spürt man auf jeder Seite, sie überträgt sich auf den Leser, und so fasst man Nimona am besten in diesen zwei kleinen Zeichen zusammen: <3
Obacht! Lumpenpack
von Kate Beaton
Zwerchfell Verlag
Wir bleiben bei erfolgreichen Webcomics: Hark! A Vagrant von Kate Beaton gibt es seit 2008. Die in einem eher simplen Stil gezeichneten Gagstrips, die sich auf amerikanische und europäische Geschichte beziehen, auf Klassiker der Literatur oder auf Fundstücke aus 100 Jahre alten Zeitschriften, sind etwas völlig Neues und Eigenständiges, und trafen beim Online-Publikum offensichtlich einen Nerv. Der gleichnamige gedruckte Band kam 2011 auf den Markt und entpuppte sich als Bestseller. Eine deutsche Ausgabe ließ lange auf sich warten und kam dann ungewöhnlicherweise beim kleinen Zwerchfell Verlag heraus, der sonst praktisch keine Lizenzausgaben veröffentlicht. Dort ist das Buch aber prima aufgehoben: Gut übersetzt, handgelettert, toll produziert, und dazu lud man die Autorin zum Start nach Deutschland ein und generierte so ein angemessenes Presseecho. Das Buch steht aber nicht in meinen Top 5, weil es so hübsch aussieht, sondern weil mir Beatons sehr eigener, schräger Humor gut gefällt. Nicht jeder Gag zündet, manches kapiere ich nicht und für manches fehlt mir der historische oder literarische Background, aber Beatons Strips motivieren tatsächlich dazu, sich auf Recherche zu begeben und dabei aus Versehen auch noch was zu lernen. Win-win nennt man das, glaube ich. [CG-Rezension]
Die alten Knacker
von Wilfrid Lupano und Paul Cauuet
Splitter Verlag, bisher 2 Bände
Auch wenn sie im Gewand des frankobelgischen Genre-Albums daherkamen, waren die Comics von Wilfrid Lupano (Azimut, Alim der Gerber, Der Mann, der keine Feuerwaffen mochte) eigentlich immer schon Gesellschaftssatiren. Am deutlichsten wird das nun in seiner aktuellsten Serie, die in unserer Gegenwart und Realität angesiedelt ist. Lupano und sein Zeichner Cauuet schildern mit viel Wärme und Humor die Geschichten dreier rüstiger Rentner, die ebenso kauzig wie sympathisch sind. Wichtig ist dabei die Vergangenheit der Hauptfiguren, die man als klassische Alt-Achtundsechziger aus dem linken Milieu bezeichnen könnte. Das hätte ein fürchterlich nostalgisches „Früher war alles besser“-Ding werden können, aber Lupano und Cauuet verorten den Comic und seine Protagonisten deutlich im Heute, auch wenn es gelegentliche Rückblenden gibt. So entsteht ein moderner Semi-Funny-Comic, der älteren und jüngeren Lesern Spaß macht und seine Sozialkritik ohne erhobenen Zeigefinger einbringt. Beim Publikum kommt das überraschend gut an: Die Reihe ist nicht nur in Frankreich ein Bestseller, sondern entwickelte sich auch beim Splitter-Verlag zu einem seiner größten kommerziellen Hits. Schön ironisch, wenn das einem Comic gelingt, der streckenweise auch als Kapitalismuskritik gelesen werden kann.
★
DIE TOP 6-10 von MICHEL DECOMAIN
Ich hatte meine Top 5 für 2015 ja schon für den Tagesspiegel zusammengesucht. Im Zuge der Jury-Arbeit dort habe ich allerdings 2015 derart viele hochkarätige deutsche Comic-Veröffentlichungen gelesen, dass sich damit locker eine Top 40 hätte füllen lassen können. So gibt es hier jetzt einfach die Plätze 6 bis 10.
Platz 10: Vinland Saga
von Makoto Yukimura
Carlsen Manga, bisher 13 Bände
Das aufwendig recherchierte Wikinger-Abenteuer führt uns ins Europa um die erste Jahrtausendwende und vermischt unverdünnte Heldensuppe mit spektakulären Schlachtenszenen und im späteren Verlauf zunehmend pazifistischen Überlegungen über Sinn und Sinnlosigkeit des Kriegs. Das ist ganz großes, mitreißendes Historienabenteuer, so ein bisschen das Manga-Pendant zu Game of Thrones oder Filmen wie Der 13. Krieger. Aufgrund der klaren Erzählung, des sehr übersichtlichen Seitenaufbaus und der realistischen, detailliert und sauber schraffierten Zeichnungen ist Vinland Saga zudem auch für Manga-Einsteiger eine echte Empfehlung.
Platz 9: Biorg Trinity
von Oh! Great und Otaro Maijo
Panini Manga, bisher 5 Bände
Selbiges kann man von Biorg Trinity nun wirklich nicht behaupten. Wäre Manga ein Hau den Lukas, würde Oh! Great das Gewicht oben durch die Decke prügeln. Die völlig durchgedrehte Story um Menschen, die durch sogenannte Bug Holes in ihren Händen alles und jeden aufsaugen und so damit verschmelzen können, spottet jeder Beschreibung. Biorg Trinity wirkt dabei, als hätte sich der Manga selbst mit einem guten Dutzend völlig verschiedener Storys fusioniert und rührt fröhlich dystopische Science Fiction, epische Fantasy-Action, unschuldige Teenie-Romanze, religiöse Symbolik, schlüpfrigen Fanservice und krassesten Body Horror durcheinander, bis einem schwindlig wird. Ich hab irgendwann in Band 4 dann auch den Faden verloren, aber was soll’s. Oh! Great ist zeichentechnisch einfach von einem anderen Stern, da lasse ich mich dann auch ganz gerne einfach mal von seinem Eye Candy verwöhnen. Wer Manga für das Exzessive liebt, kommt an diesem Titel nicht vorbei.
Platz 8: Nonplayer
von Nate Simpson
Splitter Verlag, bisher 1 Band
Game-Narrative sind ja aktuell der letzte Schrei, gerade was Manga und Anime angeht. Und gerade, wo ich dachte, ich könnte keine Geschichten mehr sehen, in denen ein jugendlicher Held in einer virtuellen Spielwelt gefangen ist und sich dort durchschlagen muss, kommt eine Image-Serie daher, die dem Thema mal wieder ein bisschen mehr Substanz verleiht. Die Verknüpfung des Game-Szenarios mit klassischem Cyberpunk und nachdenklichen Überlegungen zu künstlichen Intelligenzen erinnert an die zentralen Werke Mamoru Oshiis (also alles zwischen Patlabor und Avalon). Tatsächlich erzeugt Nate Simpson durch seine sauberen Line Arts, die flächige Kolorierung und die detaillierten Hintergründe ein wenig das Gefühl, als hätte man hier einen Science-Fiction-Anime in Buchform vor sich. Simpson macht dabei auch keinen Hehl aus seinen Einflüssen und versteckt zahlreiche Anspielungen (nicht nur) auf die japanische Popkultur in seinen Artworks. An frankobelgische Fantasy-Alben erinnert’s natürlich ebenso, gerade in der wie immer vorbildlichen Hardcover-Aufmachung von Splitter. Nonplayer ist für mich die perfekte Melange aus amerikanischen, europäischen und japanischen Comic-Einflüssen, und die spannende Story macht Appetit auf mehr.
Platz 7: Opus
von Satoshi Kon
Carlsen Manga, abgeschlossen in 2 Bänden
Anime-Legende Satoshi Kon (Paprika, Millenium Actress, Paranoia Agent) ist 2010 viel zu jung verstorben. Opus ist eins seiner weniger bekannten Manga-Werke, das leider 1996 nach Einstellung seines publizierenden Magazins abgebrochen und erst posthum als Sammelband veröffentlicht wurde, ergänzt um ein bisher unveröffentlichtes Kapitel, in dem der Autor den Abbruch seiner Serie thematisiert. Das ist in diesem Fall besonders treffend, erzählt Opus doch von einem Manga-Autor, der in seine Geschichte gezogen wird und sich nun mit einer von ihm kreierten Figur herumschlagen muss, die partout nicht, wie vom Autor beabsichtigt, den Heldentod sterben will. Aus dem schrägen Ansatz wird eine zunehmend komplexe Meta-Fiktion über die Medialität von Manga und die Verantwortung eines Schöpfers gegenüber seiner Schöpfung. Und irgendwann steht dann auch die Frage im Raum, was eigentlich mit den Figuren einer Geschichte passiert, sollte deren Veröffentlichung vorzeitig abgebrochen werden … Visuell ist Kon überdeutlich geprägt durch seinen Mentor Katsuhiro Otomo, an dessen Akira er bereits als Assistent arbeitete. Erzählerisch geht sein Werk aber so viel weiter, als Otomo sich jemals traute.
Platz 6: Die Verschiebung
von Marc-Antoine Mathieu
Reprodukt
Und wo wir gerade bei Metafiktionen sind: Marc-Antoine Mathieus neuestes Abenteuer von Julius Corentin Acquefacques ist erneut eine herrlich schräge Dekonstruktion der Comic-Form. Diesmal entrückt Mathieu seinen Helden ein paar Seiten aus der Handlung und schaut sich an, was eigentlich mit den Nebenfiguren passiert, wenn ihnen der handlungstreibende Protagonist abhanden kommt. Nicht viel, ist seine ernüchternde Antwort, aber es ist Mathieus Erzählkunst zu verdanken, dass das Ergebnis trotzdem zum Schreien komisch ist. Natürlich findet Mathieu auch wieder formalistische Clous, auf die so noch keiner vor ihm gekommen ist. So beginnt die Geschichte auf Seite 7; Cover und Impressum finden sich irgendwo mitten im Buch und werden gleich noch mit in die Handlung verwoben. Übersetzer Martin Budde müssen die zahlreichen Wortspiele und insbesondere die mehrschichtigen, „herausgerissenen“ Seiten in der Mitte des Bandes in den Wahnsinn getrieben haben, aber Reprodukt hat bei der deutschen Ausgabe wieder hervorragende Arbeit geleistet. Mathieu beweist hier aufs Neue, dass man bei Comic-Kunst den Spaß nicht zu vergessen braucht. Ein schelmischer Geniestreich! [CG-Rezension]
Das würde mich jetzt aber echt mal interessieren, wann Karen-Berger-Vertigo eine 90%ige Erfolgsquote gehabt haben soll… Vor allem, wenn man die bereits zuvor begonnenen Serien (also Sandman, Shade, Doom Patrol, Swamp Thing, Animal Man, Hellblazer) alle nicht mitzählt. Ich glaube, das ist eher ein Fall von nostalgischer Verklärung … ich mag mich irren, aber ging das da nicht auch gleich mit eher mittelmäßigen Ongoings wie Black Orchid los? (Natürlich war das Vertigo-Programm damals Klassen besser als heute, aber da gab es in dem Bereich auch nicht so viel Konkurrenz)
Liebe(r) Klirrdibirr, was die nostalgische Verklärung angeht — es ist bestimmt etwas dran und ich möchte dich bitten sie mir nachzusehen. Tatsächlich bilden aber die meisten der von dir zitierten Ongoings, die später zu Vertigo zusammengefasst wurden und unter der Ägide Bergers entstanden sind, jenes goldene Zeitalter von dem ich spreche. The British Invasion und so. Die Mitt-Spätneunziger Jahre unter Berger haben aber auch ein paar neue Klassiker hevorgebracht wie Transmetropolitan und Preacher und sogar sekundäre Serien wie House of Secrets, 100 Bullets und Sandman Mystery Theatre waren noch von einer Qualität, die keine neue Vertigo Serie der Zehnerjahre auch nur annähernd erreicht hat (außer man zählt The Unwritten zu den Zehnern).
Auch wenn Vertigos Niedergang schon vor Berges Abschied begann, noch Mitte-Ende der Nullerjahre hatte man eine Handvoll Serien im Programm, die mit zum Besten auf dem Markt gehörten: Y The last Man, Northlanders, Sweet Tooth, Scalped, The Unwritten, Unknown Soldier… Und heute? Totaler Bankrott, sogar Urgesteine wie Milligan wandern zu Image ab.